Joel F. Harrington
DIE EHRE DES
SCHARFRICHTERS
MEISTER FRANTZ
ODER
EIN HENKERSLEBEN IM 16. JAHRHUNDERT
Aus dem Englischen
von Norbert Juraschitz
Siedler
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Die englischsprachige Originalausgabe erschien 2013 unter dem Titel
»The Faithful Executioner. Life, Death, Honor and Shame in the
Turbulent Sixteenth Century« bei Farrar, Straus and Giroux, New York.
Copyright © 2013 by Joel F. Harrington
Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2014 by Siedler Verlag, München,
in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH
Umschlaggestaltung: Rothfos + Gabler, Hamburg
Lektorat: Teresa Löwe-Bahners, New York
Karten: Peter Palm, Berlin, nach einer Vorlage von Gene Thorp
Satz: Ditta Ahmadi, Berlin
Reproduktion: Aigner, Berlin
ISBN 978-3-641-10500-6
V002
www.siedler-verlag.de
Meinem Vater John E. Harrington jr.
VORWORT
Jede nützliche Person ist ehrbar.
JULIUS KRAUTZ,
Scharfrichter von Berlin (1889)1
Es ist Donnerstag, der 13. November 1617, ein kühler Morgen. Die Sonne blickt kaum über den Horizont, da versammelt sich bereits eine Menschenmenge. Für heute ist nämlich eine öffentliche Hinrichtung in der Freien Reichsstadt Nürnberg angekündigt. In ganz Europa ist diese Stadt als Bastion von Recht und Ordnung bekannt. Schaulustige aus allen Gesellschaftsschichten möchten sich einen guten Platz sichern, ehe das große Ereignis beginnt. Verkäufer haben Stände errichtet, um Nürnberger Würstchen, Sauerkraut und gesalzene Heringe zu verkaufen. Entlang der gesamten Strecke der Prozession, vom Rathaus bis zum Galgen vor der Stadtmauer, reiht sich eine Bude an die andere. Erwachsene und Kinder drängeln sich durch die Menge und bieten Bier und Wein zum Verkauf an. Inzwischen haben sich mehrere Tausend Zuschauer versammelt, und dem guten Dutzend Büttel der Stadt, den sogenannten Schützen, sieht man an, dass ihnen nicht wohl ist bei dem Gedanken, hier für die Aufrechterhaltung der Ordnung verantwortlich zu sein. Betrunkene junge Männer schubsen sich und werden unruhig, ihre obszönen Liedchen sind nicht zu überhören. Der Gestank von Erbrochenem und Urin mischt sich mit dem angenehmen Duft gegrillter Würstchen und gerösteter Kastanien.
Gerüchte über den verurteilten Häftling, der wie üblich nur der »arme Sünder« genannt wird, machen die Runde. Die wesentlichen Daten sprechen sich rasch herum: Sein Name ist Georg Karl Lambrecht, 30 Jahre alt, ursprünglich aus dem fränkischen Mainbernheim. Obwohl er eine Müllerlehre gemacht und jahrelang als Müller gearbeitet hatte, rackerte er sich zuletzt in der niederen Stellung eines Weinträgers ab. Jeder weiß, dass er zum Tod verurteilt wurde, weil er gemeinsam mit seinem Bruder und anderen verruchten Gesellen, die aber allesamt entkommen konnten, Gold- und Silbermünzen in großen Mengen gefälscht hat. Mehr als die Fälschertätigkeit fasziniert die wartenden Zuschauer allerdings, dass diesem Mann, der von seiner ersten Frau wegen Ehebruchs geschieden worden ist und eine Zeit lang mit einer berüchtigten Hexe, der Eisenbeißerin, »im Lande herumgeschlampen« hat, magische Kräfte nachgesagt werden. Erst neulich hat Lambrecht, so mehrere Zeugen, eine schwarze Henne in die Luft geworfen, gerufen: »Sehe, teuffel, da hast du deine speise, schaffe mir jetzunder auch die meine!« und darauf einen seiner zahlreichen Feinde mit einem Todesfluch belegt. Von seiner verstorbenen Mutter ging ebenfalls das Gerücht, sie sei eine Hexe gewesen, und sein Vater wurde schon vor vielen Jahren als Dieb gehängt, was die Einschätzung des Gefängniskaplans bestätigt, dass »der apfel nicht weit vom baum gefallen ist«.
Kurz vor Mittag fangen die Glocken der nahe gelegenen Kirche des heiligen Sebald an zu läuten, gefolgt von der Frauenkirche am Marktplatz und der Lorenzkirche auf der anderen Seite der Pegnitz. Wenige Minuten später wird der arme Sünder mit Ketten an den Füßen und einem straff gebundenen Seil um die Hände durch eine Seitentür aus dem Rathaus geführt. Johannes Hagendorn, einer der beiden Kapläne des Strafgerichts, schreibt später in sein Tagebuch, Lambrecht habe sich in diesem Moment an ihn gewandt und inständig um Vergebung seiner vielen Sünden gefleht. Außerdem bittet er ein letztes Mal darum, mit einem Schwertstreich gegen den Hals hingerichtet zu werden, denn das ist ein schnellerer und ehrenhafterer Tod als das Verbrennen bei lebendigem Leib – die vorgeschriebene Strafe für Falschmünzerei. Die Bitte wird abgelehnt, dann führt Frantz Schmidt, seit vielen Jahren Scharfrichter der Stadt, Lambrecht zum benachbarten Marktplatz. Von dort setzt sich nun die Hinrichtungsprozession gemessenen Schrittes zum etwa eine Meile entfernten Richtplatz in Bewegung. Der Richter des Blutgerichts, der in eine rot-schwarze Robe gekleidet ist, führt den feierlichen Zug zu Pferde an. Ihm folgen zu Fuß der Verurteilte, zwei Kapläne und der Henker – den Stadtbewohnern besser bekannt unter dem Ehrentitel Meister Frantz. Hinter ihm gehen dunkel gekleidete Vertreter des Nürnberger Rates, Angehörige der führenden Familien der Stadt, gefolgt von den Vorsitzenden mehrerer Handwerkerzünfte. Sie alle bezeugen den wahrhaft bürgerlichen Charakter der Veranstaltung. Weinend geht Lambrecht an den Zuschauern vorüber, wünscht allen Menschen, die er kennt, seinen Segen und bittet sie um Vergebung. Durch das Frauentor lässt der Zug die mächtigen Stadtmauern hinter sich und nähert sich seinem Ziel: einer erhöhten Plattform, die im Volksmund Rabenstein genannt wird, nach den Vögeln, die nach der Hinrichtung einen Festschmaus an den menschlichen Überresten halten. Der arme Sünder steigt mit dem Henker die Steinstufen zur Plattform hoch und wendet sich der Menge zu, um zu ihr zu sprechen. Unweigerlich fällt sein Auge auf den nahen Galgen. Einmal mehr legt er ein öffentliches Geständnis ab und fleht um göttliche Vergebung, dann fällt er auf die Knie und spricht das Vaterunser, während der Kaplan ihm Worte des Trostes zuflüstert.
Nach dem Gebet setzt Meister Frantz Lambrecht in den Richtstuhl und schlingt ihm eine feine Seidenschnur um den Hals, damit der Verurteilte, von der Menge unbemerkt, erdrosselt werden kann, bevor sein Leib zu brennen anfängt – ein letzter Akt der Gnade seitens des Henkers. Außerdem fixiert er den Verurteilten mit einer Kette um die Brust, hängt ein Säckchen Schießpulver an dessen Hals und legt mit Pech bestrichene Kränze zwischen Lambrechts Arme und Beine, um das Verbrennen zu beschleunigen. Der Kaplan betet weiter mit dem armen Sünder, während Meister Frantz mehrere Büschel Stroh um den Stuhl aufschichtet und mit kleinen Klammern fixiert. Kurz bevor der Henker eine Fackel zu Lambrechts Füßen wirft, zieht sein Gehilfe, von der Menge unbemerkt, die Schlinge um den Hals des Verurteilten enger, um ihn zu erdrosseln. Dass dies misslungen ist, zeigt sich, als die Flammen am Richtstuhl lecken, denn der Verurteilte schreit pathetisch: »Herr, in deine hände befehle ich meinen geist.« Während das Feuer weitertobt, ertönt immer wieder der Schrei: »Herr Jesu nimm meinen geist auf!«, dann ist nur noch das Knistern der Flammen zu hören, und der Gestank von verbranntem Fleisch liegt in der Luft. Später am selben Tag vertraut Kaplan Hagendorn seinem Tagebuch voller Mitgefühl an: Aufgrund des eindeutigen Beweises frommer Reue am Ende »zweifle ich auch gar nicht, er seie zwar durch den erschröcklichen und erbärmlichen tod zum ewigen leben hindurch gedrungen und ein kind und erbe des ewigen lebens worden«.2
Ein Ausgestoßener scheidet aus dieser Welt; ein anderer bleibt zurück und fegt die verkohlten Knochen und Glutreste seines Opfers zusammen. Berufsmäßige Mörder wie Frantz Schmidt sind lange gefürchtet, verachtet und sogar bemitleidet worden, doch in den seltensten Fällen sah man nicht nur die Funktionsträger, sondern auch die Menschen und hielt sie der Erinnerung der Nachwelt für würdig. Aber was geht diesem 63-jährigen erfahrenen Scharfrichter durch den Kopf, während er den Stein sauber fegt, von dem noch vor wenigen Minuten die letzten Schreie einer verzweifelten Frömmigkeit durch den dichten Rauch drangen? Ganz gewiss keine Zweifel an der Schuld Lambrechts. Schließlich hatte Frantz Schmidt höchstpersönlich in zwei langen Verhören die Schuld des Angeklagten nachgewiesen, dazu kommen die Aussagen mehrerer Zeugen – ganz zu schweigen von den Fälscherwerkzeugen und anderen unwiderlegbaren Beweisen, die im Haus des Verurteilten gefunden worden sind. Denkt Meister Frantz womöglich über die verpfuschte Strangulierung nach, die ein so peinliches Schauspiel überhaupt erst ermöglicht hat? Ist deshalb seine Berufsehre verletzt, sein Ansehen befleckt? Oder ist er durch fast fünf Jahrzehnte in einem, wie alle meinen, extrem abstoßenden Beruf zur Gefühllosigkeit versteinert?3
Normalerweise wäre die Beantwortung dieser Fragen reine Spekulation, ein Ratespiel ohne jede Aussicht auf eine befriedigende Lösung. Doch in diesem Fall verfügen wir über einen seltenen und entscheidenden Vorteil: Ähnlich wie der bei der Hinrichtung anwesende Kaplan führte auch Meister Frantz ein Tagebuch, in dem er sämtliche Hinrichtungen und anderen Strafen, die er während seiner außerordentlich langen Berufstätigkeit vollstreckte, verzeichnete. Dieses bemerkenswerte Dokument deckt einen Zeitraum von 45 Jahren ab, von Schmidts erster Hinrichtung im Alter von 19 Jahren im Jahr 1573 bis zu seinem Eintritt in den Ruhestand im Jahr 1618. Die grauenvolle Tötung des reuigen Falschmünzers war seine letzte Hinrichtung, der Endpunkt einer Karriere, in der er nach eigener Zählung 394 Menschen tötete und Hunderte auspeitschte und verstümmelte.
Was ging also in Meister Frantzens Kopf vor? Obwohl dieses Tagebuch den deutschen Frühneuzeithistorikern wohl bekannt ist, hat bisher kaum jemand versucht, diese Frage zu beantworten. Seit dem Tod des Verfassers kursierten zwei Jahrhunderte lang mindestens fünf Abschriften des inzwischen verlorenen Originals, 1801 und 1913 erschienen gedruckte Ausgaben und 1928 eine gekürzte englische Übersetzung der Fassung von 1913. Es folgten mehrere Neuauflagen der beiden deutschen Ausgaben.4
In der Ecke für Stadtgeschichte einer Nürnberger Buchhandlung begegnete ich vor einigen Jahren zum ersten Mal dem Tagebuch des Meister Frantz. Dieser Moment war zwar nicht so spektakulär wie, sagen wir, die Entdeckung eines verschollenen Manuskripts in einem versiegelten Gewölbe, das sich erst öffnet, wenn man eine Reihe uralter Rätsel löst, aber für mich war es doch ein Heureka-Erlebnis. Schon die Vorstellung, dass ein Scharfrichter vor vier Jahrhunderten des Lesens und Schreibens mächtig war, noch dazu den Drang verspürte, seine Gedanken und sein Tun in dieser Form zu dokumentieren, faszinierte mich. Wie war es möglich, dass bislang niemand diese bemerkenswerte Quelle dazu genutzt hatte, das Leben dieses Mannes und die Welt, in der er lebte, zu rekonstruieren? Hier, in der hintersten Ecke als antiquarische Kuriosität versteckt, fand sich eine Geschichte, die nur darauf wartete, erzählt zu werden.
Ich kaufte das schmale Bändchen, nahm es mit nach Hause und machte beim Lesen einige Entdeckungen: So hatte Frantz Schmidt keineswegs als einziger Scharfrichter eine Chronik geführt – auch wenn er, sowohl was den Zeitraum als auch was die geschilderten Details betrifft, ein für seine Ära unübertroffenes Werk vorgelegt hat. Im damaligen Deutschland waren die meisten Männer Analphabeten, aber einige Scharfrichter konnten immerhin so gut schreiben, dass sie einfache, formelhafte Hinrichtungslisten führten, von denen einige erhalten sind.5 Zu Beginn der Neuzeit waren Memoiren von Henkern sogar zu einem beliebten Genre geworden; das berühmteste Beispiel sind wohl die Chroniken der Familie Sanson, einer Henker-Dynastie, die von der Mitte des 17. bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts in Paris ansässig war. Gerade in der Zeit, als die Anwendung der Todesstrafe in ganz Europa stark zurückging, wurde eine wahre Flut von Erinnerungen jener »letzten Henker« veröffentlicht, einige dieser Werke wurden sogar zu Bestsellern.6
Deshalb war es mir ein Rätsel, warum die faszinierende Gestalt des Nürnberger Scharfrichters bislang weitgehend unbekannt geblieben war, doch dann entdeckte ich einen zweiten, geradezu beklemmenden Aspekt dieser Chronik. Meister Frantz zieht den Leser zwar mit den Porträts all der Verbrecher, denen er begegnete, in den Bann, aber er hält sich selbst im Hintergrund: ein schattenhafter und schweigsamer Beobachter, ungeachtet seiner zentralen Rolle bei den von ihm beschriebenen Ereignissen. Diese Aufzeichnungen sind nämlich nicht ein privates Tagebuch im heutigen Sinn, sondern die Chronik eines Berufslebens. Die 621 Einträge mit einer Länge von wenigen Zeilen bis hin zu mehreren Seiten sind in chronologischer Reihenfolge geschrieben, unterteilt in zwei Listen: Die erste umfasst alle von Meister Frantz ab dem Jahr 1573 vollstreckten Todesstrafen, die zweite sämtliche körperliche Züchtigungen von 1578 an: Auspeitschen, Brandmarken, Abhacken von Fingern und Abschneiden der Ohren und Zunge. Jeder Eintrag umfasst Name, Beruf und Heimatort des Verurteilten sowie die zur Last gelegten Verbrechen, die Form der Bestrafung und den Ort der Vollstreckung. Je länger er diese Chronik führt, desto mehr gibt Meister Frantz Hintergrundinformationen über die Täter und ihre Opfer preis, nennt Einzelheiten zu den verhandelten Verbrechen sowie frühere Missetaten und beschreibt hier und da die letzten Stunden oder Momente vor einer Hinrichtung etwas ausführlicher. In ein paar Dutzend längeren Einträgen liefert er Zusatzinformationen, die im Zusammenhang mit den fraglichen Verfehlungen stehen, erzählt bestimmte Schlüsselereignisse nach und schmückt sie mit malerischen Beschreibungen, vereinzelt sogar mit kurzen Dialogen aus.
Viele Historiker würden Schmidts Arbeitschronik nicht als ein »Ego-Dokument« bezeichnen, also als eine Quelle wie ein Tagebuch oder persönliche Korrespondenz, die Wissenschaftler nach Hinweisen auf die Gedanken, Gefühle und inneren Kämpfe einer Person untersuchen. Denn diese Chronik enthält weder Schilderungen von Sinnkrisen, die durch lange Foltersitzungen ausgelöst wurden, noch längere philosophische Diskurse über Gerechtigkeit, nicht einmal knappe Spekulationen über den Sinn des Lebens. Genau genommen spricht der Verfasser erstaunlich wenig von sich selbst. In den Einträgen aus mehr als 45 Jahren verwendet Schmidt die Worte »ich« und »mein« lediglich je 15 Mal und nur einmal »mich«. In den meisten Fällen verweisen diese Pronomina auf berufliche Wegmarken (Ist mein erst Gerichten mit dem Schwert gewest), ohne eine Meinung oder Gefühlsregung wiederzugeben; die übrigen tauchen als willkürliche Einschübe auf (den ich vor zwey Jarn mit Ruthen außgestrichen hab).7 Die Wendungen mein Vater und mein Schwager, beide Henkerkollegen, tauchen jeweils drei Mal in einem beruflichen Kontext auf. Weder Schmidts Frau noch seine sieben Kinder geschweige denn Freunde oder Bekannte werden erwähnt – im Grunde keine Überraschung, wenn man bedenkt, worauf das Augenmerk der Chronik liegt. Aber auch Verwandtschaftsbeziehungen zu einem Opfer oder Täter werden verschwiegen, und ebenso wenig wird Zuneigung zu einem Opfer oder Täter bekundet. Dabei kannte der Autor viele Betroffene nachweislich persönlich, nicht zuletzt seinen anderen Schwager, einen berüchtigten Banditen.8 Frantz Schmidt gibt auch keine religiösen Bekenntnisse ab und verwendet nur selten moralisierende Formulierungen. Wie kann ein so bewusst unpersönliches Dokument bedeutsame Einblicke in das Leben und die Denkweise des Verfassers vermitteln? Ich kam zu dem Schluss: Wahrscheinlich hat bislang eben deshalb niemand das Tagebuch des Meister Frantz als biographische Quelle genutzt, weil es ganz einfach zu wenig über Meister Frantz selbst enthält.9
Ich hätte dieses Projekt also gar nicht erst begonnen, wären mir nicht zwei wichtige Durchbrüche gelungen. Einige Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Meister Frantz entdeckte ich während anderer Forschungen in der Nürnberger Stadtbibliothek durch Zufall eine ältere und genauere Abschrift dieses Tagebuchs als alle bislang bekannten Versionen. Während die Herausgeber der beiden veröffentlichten Ausgaben Kopien vom Ende des 17. Jahrhunderts heranzogen, die beide zur Erleichterung der Lesbarkeit von barocken Schreibern bearbeitet worden waren, stützt sich dieses biographische Porträt auf eine Abschrift aus dem Jahr 1634, dem Todesjahr von Frantz Schmidt.10 Zum Teil wurde der Text in späteren Fassungen nur geringfügig geändert: Die Schreibweise bestimmter Wörter, die Zählung der Einträge (was die Suche erleichtern sollte), an wenigen Stellen auch Datumsangaben, zudem gibt es kleinere syntaktische Korrekturen und sind in späteren Versionen Satzzeichen eingefügt. (Die Fassung von 1634 enthält keine Satzzeichen, und es ist anzunehmen, dass Schmidt wie die meisten Schreiber mit seinem Bildungshintergrund im Original ebenfalls keine verwendete.) Viele Abweichungen sind jedoch gravierend. In manchen Versionen wurden ganze Sätze ausgelassen und neue Zeilen mit moralisierenden Passagen eingefügt, darüber hinaus etliche Details, welche die Schreiber den Nürnberger Stadtchroniken und Gerichtsprotokollen entnommen hatten. Diese späteren, zusammengestückelten Fassungen steigerten die Attraktivität des Textes für die Nürnberger Bürger des 18. Jahrhunderts, unter denen diese Manuskripte kursierten. Aber gleichzeitig raubten sie dem Tagebuch die Stimme des Meister Frantz und damit auch seine Sicht auf die Dinge. Insbesondere die letzten fünf Jahre weichen in späteren Ausgaben sehr stark von der Fassung von 1634 ab. Manche Einträge werden hier ganz übersprungen und die Namen der meisten Verbrecher sowie nähere Angaben zu ihren Untaten einfach weggelassen. Insgesamt weichen die späteren Fassungen zu mindestens einem Viertel mehr oder weniger stark vom älteren Text ab.
Die bemerkenswerteste – und zugleich aufschlussreichste – Abweichung steht jedoch gleich zu Beginn des Textes. In den 1801 und 1913 veröffentlichten Ausgaben überschreibt Frantz sein Werk mit den Worten: Angefangen zu Bamberg, für meinem Vattern. Anno 1573. In der von mir gefundenen Fassung schreibt der junge Scharfrichter hingegen: Anno Christi 1573. Jahr: Volgt waß Ich für Persohnen für meinen Vatter Heinrich Schmidt zu Bamberg justificiert habe. Dieser Unterschied, der auf den ersten Blick gering scheint, wirft ein Licht auf die zentrale und schwer zu beantwortende Frage: Warum hat Frantz Schmidt dieses Tagebuch überhaupt geführt? Der Wortlaut in den späteren Kopien klingt eher nach einem väterlichen Befehl als nach einer Widmung, als habe Schmidt senior angeordnet, dass sein Sohn nun, da er Geselle war, seinen beruflichen Werdegang im Blick auf künftige Arbeitgeber dokumentieren sollte. In der älteren Version heißt es dagegen nicht, dass der Sohn die Aufzeichnungen für seinen Vater oder auf dessen Wunsch hin begann, sondern dass Frantz im Folgenden die Hinrichtungen verzeichne, die er für seinen Henker-Vater ausgeführt habe, der zudem namentlich genannt wird. Tatsächlich geht aus einem späteren Hinweis in dieser Version hervor, dass das Tagebuch nicht im Jahr 1573, sondern 1578 begonnen wurde, dem Jahr von Schmidts Ernennung zum Scharfrichter in Nürnberg. Im Rückblick kann sich der 24-jährige Frantz jedoch nur noch an die Hinrichtungen aus den vergangenen fünf Jahren erinnern und lässt so gut wie alle Leibesstrafen aus, denn: von 1573 [bis 1578] Jahr an was ich zu Bamberg vericht, Weiss ich nicht mehr.
Diese Entdeckung wirft neue Fragen auf, allen voran: Wenn Frantz Schmidt nicht im Jahr 1573 für seinen Vater zu schreiben anfing, für wen schrieb er dann und aus welchem Grund? Es ist eher unwahrscheinlich, dass er vorhatte, die Arbeitschronik später zu veröffentlichen, insbesondere wegen der Skizzenhaftigkeit der meisten Einträge aus den ersten 20 Jahren. Möglicherweise malte er sich aus, dass sie in Abschriften weitergegeben werde (wie es ja auch kam), aber auch das ändert nichts daran, dass die frühen Jahre längst nicht so detailliert dargestellt werden wie in anderen Chroniken der Stadt und alles in allem eher einer Inventarliste als einem echten literarischen Versuch gleichen. Womöglich war das Tagebuch nie für andere Leser, sondern nur für den Autor gedacht, aber dann stellt sich die Frage, warum er es ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt anfing, nämlich nach seiner Ernennung zum Scharfrichter in Nürnberg im Jahr 1578, und warum er konsequent jede Erwähnung privater Angelegenheiten vermied.
1 Heinrich Sochaczewsky, Der Scharfrichter von Berlin, Berlin 1889, S. 297.
2 JHT, 13. November 1617; siehe auch Theodor Hampe, »Die letzte Amtsverrichtung des Nürnberger Scharfrichters Franz Schmidt«, in: MVGN 26 (1926), S. 321ff.
3 Unter den Historikern des 20. Jahrhunderts reichen die Bezeichnungen für frühneuzeitliche Scharfrichter von »Soziopath« bis hin zu »gefühllos gegenüber den Opfern der Gesellschaft«. Siehe Nowosadtko, S. 352.
4 Meister Frantzen Nachrichter alhier in Nürnberg, all sein Richten am Leben, so wohl seine Leibs Straffen, so Er verRicht, alleß hierin Ordentlich beschrieben, aus seinem selbst eigenen Buch abschrieben worden, hg. v. J. M. F. v. Endtner, Nürnberg: J. L. S. Lechner, 1801, Nachdruck: Dortmund: Harenberg, 1980, mit einem Kommentar von Jürgen C. Jacobs und Heinz Rölleke. Maister Franntzn Schmidts Nachrichters inn Nürmberg all sein Richten, hg. v. Albrecht Keller, Leipzig: Heims, 1913, Nachdruck: Neustadt an der Aisch, P. C. W. Schmidt, 1979, mit einer Einführung von Wolfgang Leiser; dessen englische Übersetzung hatte den Titel A Hangman’s Diary, Being the Journal of Master Franz Schmidt, Public Executioner of Nuremberg, 1573–1617, übersetzt von C. V. Calvert und A. W. Gruner, New York: D. Appleton, 1928, Nachdruck: Montclair, NJ: Patterson Smith, 1973.
5 Z. B. die »Tagebücher« des Ansbacher Scharfrichters von 1575–1603 (StaatsAN Rep 132, Nr. 57); in Reutlingen von 1563–1568 (Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, I [1878], S. 85f.); Andreas Tinel von Ohlau, ca. 1600 (zitiert in: Keller, S. 257); Jacob Steinmayer in Haigerloch, 1764–1781 (Württembergische Vierteljahrshefte für Landesgeschichte, IV [1881], S. 159ff.); Franz Joseph Wohlmuth in Salzburg (Das Salzburger Scharfrichtertagebuch, hg. v. Peter Putzer, Wien 1985); Johann Christian Zippel in Stade (Gisela Wilbertz, »Das Notizbuch des Scharfrichters Johann Christian Zippel in Stade [1766–1782]«, in: Stader Jahrbuch n. s. 65 [1975], S. 59–78). Ein Überblick über die frühneuzeitlichen Scharfrichterverzeichnisse in: Keller, S. 248–260. Allenfalls jeder dritte deutsche Mann konnte bis zu einem gewissen Grad lesen und schreiben. Siehe Hans Jörg Künast, »Getruckt zu Augspurg«: Buchdruck und Buchhandel in Augsburg zwischen 1468 und 1555, Tübingen 1997, S. 11ff.; R. A. Houston, Literacy in Early Modern Europe: Culture and Education, 1500–1800, Harlow 2002, S. 125ff.
6 Sept Générations d’Exécuteurs, 1688–1847, mis en ordre, rédigés et publiés par Henri Sanson, 6 Bde., Paris 1862f.; in einer gekürzten zweibändigen Ausgabe auf Deutsch erschienen unter dem Titel: Eberhard Wesemann, (Hg.), Tagebücher der Henker von Paris, Henry Sanson, Leipzig 1989. Zwei britische Beispiele für dieses Genre: John Evelyn, Diary of John Evelyn, Bickers and Bush 1879; Stewart P. Evans, Executioner: The Chronicles of James Berry, Victorian Hangman, Stroud 2004.
7 Abgesehen vom Beginn und Ende des Tagebuchs sowie vom Beginn der Amtszeit Schmidts in Nürnberg in folgenden Einträgen: 1573 (2-mal); 1576 (3-mal); 1577 (2-mal); 6. März 1578; 10. April 1578; 21. Juli 1578; 19. März 1579; 26. Januar 1580; 20. Februar 1583; 16. Oktober 1584; 4. August 1586; 4. Juli 1588; 19. April 1591; 11. März 1598; 14. September 1602; 7. Juni 1603; 4. März 1606; 23. Dezember 1606.
8 Friedrich Werner, hingerichtet am 11. Februar 1585. Die einzige Ausnahme ist eine beiläufige Erwähnung von Hans Spiss: so mein gefatter, der wegen Unterstützung eines flüchtigen Mörders alhie mit Ruten außgestrichen durch den Lewen; FST, 7. Juni 1603.
9 Keller behauptet sogar: »und bis zum Ordnen seiner Gedanken ist er [Schmidt] überhaupt nicht gekommen« (S. 252).
10 Die von Endtner herausgegebene Version von 1801 sowie die von Albrecht Keller 1913 herausgegebene Version basieren hauptsächlich auf der Kopie vom Ende des 17. Jahrhunderts im GNM: Bibliothek 2° HS Merkel 32. Eine ältere Abschrift von Endtners veröffentlichter Ausgabe befindet sich im StaatsAN: Rep 25: S II. L25, Nr. 12. Meine Übersetzung sowie der in der deutschen Ausgabe zitierte Wortlaut des FST (das in Kürze erscheinen wird) stützen sich auf die Kopie in der Stadtchronik des Hans Rigel aus dem Jahr 1634 in der StadtBN: 652 2°. Offenbar wurden im späten 17. und 18. Jahrhundert noch weitere Kopien und Fragmente angefertigt, von denen mindestens zwei in der Staatsbibliothek Bamberg (SH MSC Hist. 70 und MSC Hist. 83) und zwei im Germanischen Nationalmuseum GNM (Bibliothek 4° HS 187 514; Archiv, Rst Nürnberg, Gerichtswesen Nr. V1/3) erhalten sind.
Eine Seite aus der Abschrift von 1634, der ältesten überlieferten Fassung des Tagebuchs von Frantz Schmidt, die im Besitz der Nürnberger Stadtbibliothek ist. Die Zählung der Hinrichtungen am linken Rand wurde vermutlich vom Schreiber hinzugefügt.
© Stadtbibliothek Nürnberg (Seite aus Tagebuch)
Der Schlüssel, mit dem ich das Rätsel um Frantz Schmidts Tagebuch schließlich löste, ist ein bewegendes Dokument aus seinen späteren Jahren, das heute im österreichischen Staatsarchiv in Wien aufbewahrt wird. Nachdem er sein Leben lang einen Beruf ausgeübt hatte, der allgemein verachtet und sogar offiziell als »unehrlich« bezeichnet wurde, wandte sich der siebzigjährige pensionierte Scharfrichter mit der Bitte an Kaiser Ferdinand II., den guten Namen seiner Familie wiederherzustellen. Das Gesuch wurde von einem gelernten Notar aufgesetzt und verfasst, aber die darin geäußerten Gefühle sind sehr persönlich, hier und da sogar erstaunlich intim. Der betagte Frantz schildert, wie seine Familie durch ein Unrecht zu diesem anrüchigen Beruf gelangt ist, und berichtet von seinem langjährigen Streben, den eigenen Söhnen dieses Schicksal zu ersparen. Das dreizehnseitige Dokument ist überaus aufschlussreich. Es enthält die Namen mehrerer bekannter Bürger, die Schmidt kurierte, er war nämlich auch als Heiler tätig und erteilte medizinischen Rat – eine unter Henkern häufige Nebentätigkeit, was zunächst überraschen mag. Zudem erfährt das Gesuch enthusiastische Unterstützung seitens des Nürnberger Rates, der vier Jahrzehnte lang Frantzens Arbeitgeber gewesen war. Sein langer Dienst für die Stadt und seine persönliche Lebensführung seien, so erklärten die Ratsmitglieder, »vorbildlich« gewesen, aus diesem Grund baten sie den Kaiser eindringlich, Frantz Schmidts Ehre wiederherzustellen.
War womöglich gar der Nürnberger Rat von Anfang an das gedachte Lesepublikum gewesen, und Schmidts Trachten, seinen guten Namen wiederherzustellen, das Leitmotiv? Möglicherweise war er der erste, aber wohl kaum der letzte deutsche Scharfrichter, der diese Strategie wählte.11 Als ich mir Meister Frantzens Tagebucheinträge mit diesem Motiv im Hinterkopf noch einmal durchlas, entstand vor meinem geistigen Auge allmählich ein denkender und fühlender Verfasser, der nach und nach aus dem Schatten des auf den ersten Blick unpersönlichen Berichts heraustrat. Thematische und sprachliche Muster zeichneten sich ab; Abweichungen und Veränderungen im Stil gewannen an Bedeutung; ein allmählich entstehendes Identitätsgefühl zeigte sich immer stärker. Hier war ein Autor, der nicht das geringste Interesse hatte, sich selbst zu offenbaren, der aber unwillkürlich sein Denken und seine Empfindungen in so gut wie jedem Eintrag enthüllte. Eben jene Subjektivität, die spätere Schreiber durch ihre Bearbeitungen unbeabsichtigt auslöschten, enthüllte die Antipathien, Ängste, Vorurteile und Ideale des Autors. Klar umrissene Auffassungen von Grausamkeit, Gerechtigkeit, Pflicht, Ehre und persönlicher Verantwortung traten hervor und ergaben nach und nach eine kohärente Sicht auf die Welt. Das Tagebuch selbst bekam eine moralische Bedeutung, und allein die Tatsache, dass Frantz dieses Tagebuch führte, zeugt von dem lebenslangen Kampf des Autors um Ehrbarkeit.
Die vielschichtige Persönlichkeit, die nach dieser Lektüre, ergänzt um zahlreiche Archivquellen, greifbar wird, ist alles andere als das Klischee des gefühllosen Brutalos der Trivialliteratur. Vielmehr begegnen wir einem frommen, enthaltsamen Familienmenschen, der nichtsdestotrotz aus der angesehenen Gesellschaft, der er diente, ausgeschlossen war. Er musste einen Großteil seiner Zeit mit verurteilten Verbrechern und den ihm zur Hand gehenden ungehobelten Wachen verbringen.12 Obwohl er im Grunde isoliert war, bewies dieser Scharfrichter ein hohes Maß an sozialer Kompetenz, eine Fähigkeit, die sowohl seinen beruflichen Erfolg ermöglichte als auch die schrittweise Aufhebung des Stigmas, das ihn belastete. Dank des großen zeitlichen Rahmens, den das Tagebuch abdeckt, erleben wir die literarische und philosophische Entwicklung eines minimal gebildeten Autodidakten mit, dessen Einträge von lakonischen Aufzählungen seiner Begegnungen mit Verbrechern bis zu kleinen Geschichten reichen und beredtes Zeugnis von der angeborenen Neugier des Autors – insbesondere in medizinischen Fragen – sowie von seinem moralischen Kosmos geben. Obwohl er selbst unentwegt mit der ganzen Skala menschlicher Grausamkeit konfrontiert war und regelmäßig eigenhändig schreckliche Gewalt ausübte, schwankte dieser offenbar tief religiöse Mann niemals in seinem Glauben an die Vergebung und Erlösung für alle, die danach streben. Zwei treibende Kräfte bestimmten dieses Leben im Beruflichen wie im Privaten: die Verbitterung über vergangenes und gegenwärtiges Unrecht sowie die unerschütterliche Hoffnung auf die Zukunft.
Das aus all diesen Archivfunden hervorgegangene Buch vereint zwei miteinander verflochtene Geschichten. Zum einen erzählt es die Lebensgeschichte des Menschen Frantz Schmidt, angefangen mit der Geburt in eine Henkerfamilie im Jahr 1554, gefolgt von den Lehrjahren an der Seite des Vaters bis zu der nun unabhängig vom Vater unternommenen Wanderschaft als Henkergeselle. Anhand seiner eigenen Äußerungen und einer Schilderung seiner Zeit lernen wir die erforderlichen Fertigkeiten eines professionellen Scharfrichters kennen, seinen unrühmlichen gesellschaftlichen Status und die frühen Bemühungen Frantzens, persönlich voranzukommen. Anschließend lernen wir das Rechtssystem und Sozialstrukturen des frühneuzeitlichen Nürnberg kennen, erfahren Näheres über die unablässigen Versuche des Scharfrichters, sich gesellschaftlich und beruflich zu verbessern, und über seine Vorstellungen von Gerechtigkeit, Ordnung und Ehrbarkeit. Ferner begegnen wir seiner Frau und der wachsenden Familie sowie einem bunten Haufen von Verbrechern und Dienern der Strafverfolgung. Schließlich erleben wir Meister Frantz im späteren Leben zunehmend in zwei immer dominanter werdenden Rollen – der des Moralisten und der des Heilers – und erhalten einen Einblick in das Gefühlsleben dieses berufsmäßigen Folterknechts und Mörders. Seine letzten Jahre werden durch Enttäuschung und eine persönliche Tragödie bittersüß, doch angesichts der Beharrlichkeit seines Strebens nach Ehre reibt man sich immer wieder verwundert und zugleich voller Bewunderung die Augen.
Den Kern dieses Buches bildet jedoch ein zweites Narrativ: nämlich eine Reflexion über die menschliche Natur und den gesellschaftlichen Fortschritt, wenn es so etwas überhaupt gibt. Aufgrund welcher Annahmen und Empfindlichkeiten erschienen die sanktionierten Formen gerichtlicher Gewalt (Folter und Hinrichtungen), die Meister Frantz regelmäßig anwandte, ihm und seinen Zeitgenossen akzeptabel, und warum empfinden wir sie in unserer heutigen Zeit als abstoßend? Wie und warum fassen solche Mentalitäten und sozialen Strukturen Fuß, und wie verändern sie sich? Die Europäer der Frühen Neuzeit hatten mit Sicherheit nicht das Monopol auf menschliche Gewalt oder Grausamkeit, geschweige denn auf individuelle oder kollektive Vergeltung. An der Zahl der Morde gemessen, war die Welt des Frantz Schmidt nicht so gewalttätig wie die seiner mittelalterlichen Ahnen, aber gewalttätiger etwa als die der heutigen Vereinigten Staaten (eine beachtliche Leistung).13 Mit Blick auf die staatliche Gewalt werden andererseits die höheren Hinrichtungszahlen und häufigen militärischen Plünderungen in allen frühneuzeitlichen Gesellschaften von den »totalen Kriegen«, politischen Säuberungen und Völkermorden des 20. Jahrhunderts in den Schatten gestellt. Schon der Umstand, dass in zahlreichen Ländern noch heute gerichtliche Folter ausgeübt wird und öffentliche Hinrichtungen stattfinden, unterstreicht unsere Nähe zu »primitiveren« früheren Gesellschaften und lässt erkennen, wie dünn die Schicht der gesellschaftlichen Zivilisation ist, die uns angeblich von ihnen trennt. Ist die Todesstrafe wirklich auf dem Weg, weltweit verboten zu werden, oder ist der menschliche Drang nach Vergeltung zu tief in jeder Faser unseres Körpers verwurzelt?
Das einzige absolut zuverlässige Porträt von Frantz Schmidt, das uns überliefert ist, wurde von einem Nürnberger Gerichtsnotar mit künstlerischen Ambitionen auf den Rand eines Bandes über Todesurteile gezeichnet. Zum Zeitpunkt dieses Ereignisses, der Enthauptung des Hans Fröschel am 18. Mai 1591, war Meister Frantz etwa 37 Jahre alt.
© Staatsarchiv Nürnberg (Skizze von Frantz Schmidt)
Was ging in Meister Frantzens Kopf vor? Was immer wir herausfinden, der brave Scharfrichter von Nürnberg wird immer eine zugleich fremde und vertraute Figur bleiben. Es ist schon schwer genug, uns selbst und die uns nahestehenden Menschen zu verstehen, geschweige denn einen Berufskiller aus einer fernen Zeit und einem fremden Ort. Wie in allen Lebensgeschichten lassen sein Tagebuch und die anderen historischen Quellen unweigerlich viele Fragen unbeantwortet – einige sind vermutlich generell nicht zu beantworten. Und auf der einzigen zeitgenössischen Zeichnung von Schmidt, die als zuverlässig gelten kann, steht der treue Henker vom Betrachter – wie könnte es anders sein – abgewandt. Der Versuch, Frantz Schmidt und seine Welt zu begreifen, führt jedoch zu einem höheren Maß an Selbsterkenntnis und Empathie, als man bei der Beschäftigung mit einem berufsmäßigen Folterknecht und Henker erwarten sollte. Die Geschichte von Meister Frantz aus Nürnberg ist in vieler Hinsicht eine fesselnde Geschichte aus einer fernen Zeit, aber sie ist auch eine Geschichte für unsere Zeit und unsere Welt.
11 Dieses Motiv wird von Leiser in seiner Einführung zu Keller (Maister Franntzn Schmidts Nachrichters, Einführung, S. Xff.) und von Nowosadtko (»Und nun alter Franz«, S. 236) angedeutet, aber keiner der beiden untersucht, welche Folgen dies für das Leben des Autors hatte.
12 Anhand der Heirats-, Geburts- und Sterberegister im LKAN ist es mir gelungen, die Rahmendaten der Herkunft Schmidts und seines Familienlebens zu rekonstruieren. Verhörprotokolle und andere Gerichtsunterlagen, die in erster Linie im Staatsarchiv Nürnberg aufbewahrt werden, haben die Angaben zu seiner beruflichen Tätigkeit maßgeblich ergänzt. Beschlüsse des Nürnberger Rates, die sogenannten Ratsverlässe, erwiesen sich als äußerst reiche Quelle in mehrfacher Hinsicht und lieferten eine Fülle aufschlussreicher Informationen über beide Aspekte seines Lebens. Die Beschlüsse erhellten auch seine Tätigkeit als Heiler, insbesondere in den Jahren nach seiner Pensionierung (die im Tagebuch nur nebenbei erwähnt wird). Schließlich verdanke ich viele Erkenntnisse den wertvollen biographischen Informationen, die andere Historiker zusammengetragen haben, insbesondere Albrecht Keller, Wolfgang Leiser, Jürgen C. Jacobs und Ilse Schumann.
13 Einen hilfreichen Überblick über Gewalt in der damaligen Zeit bietet Julius R. Ruff, Violence in Early Modern Europe, 1500–1800, Cambridge 2001.
ANMERKUNGEN ZUM GEBRAUCH
Zitate von Frantz Schmidt
Sämtliche wörtlichen Zitate von Schmidt werden im Text kursiv hervorgehoben und sind der Abschrift seines Tagebuchs aus dem Jahr 1634 und dem Gesuch um Wiederherstellung der Ehre von 1624 entnommen. Im Sinne der Lesbarkeit wurde die Schreibweise behutsam an heutige Regeln angepasst.
Namen
Die Rechtschreibung war in der Frühen Neuzeit noch nicht standardisiert, und Meister Frantz schrieb, genau wie andere Schreiber, den gleichen Eigennamen unterschiedlich, in manchen Fällen sogar im selben Absatz. Für Städtenamen und andere geographische Bezeichnungen wird hier die heute übliche Schreibweise verwendet, ebenso für die meisten Rufnamen; Familiennamen bleiben in ihrer damaligen Schreibweise, wurden allerdings der Eindeutigkeit zuliebe vereinheitlicht. Beibehalten wurde auch die in der Frühen Neuzeit übliche weibliche Form der Familiennamen, die durch die Endung »-in«, sowie eine gelegentliche Lautverschiebung in der vorletzten Silbe gekennzeichnet ist. So war die Frau eines Georg Widmann unter dem Namen Margaretha Widmännin oder Widmennin bekannt, Hans Kriegers Tochter wurde zu Magdalena Kriegerin (auch Kriegin) und so weiter. Spitznamen und Pseudonyme, die der damaligen Gaunersprache, dem sogenannten Rotwelsch, entstammen, wurden beibehalten und wo nötig durch eine moderne Übertragung ergänzt.
Währung
In den deutschen Landen der Frühen Neuzeit war eine Fülle von lokalen, reichsweiten und ausländischen Münzen im Umlauf, zudem änderten sich die Wechselkurse im Lauf der Zeit. Um eine Vorstellung von der Größenordnung zu vermitteln und einen Bezugspunkt zu geben, habe ich die ungefähre Entsprechung jeder Summe in Gulden (abgekürzt fl.) angegeben, der damals größten Einheit. Ein Dienstmädchen oder ein Stadtwächter verdiente in jener Zeit etwa 10 bis 15 Gulden im Jahr, ein Lehrer 50 und ein städtischer Richter 300 oder 400 Gulden. Ein Laib Brot kostete vier Pfennige (0,03 fl.), ein Quart Wein (ca. 1,1 Liter) rund 30 Pfennige (0,25 fl.), und die Jahresmiete für eine bescheidene Wohnung betrug etwa 6 Gulden. Die verschiedenen Einheiten werden ungefähr folgendermaßen umgerechnet:
1 Gulden (fl.) = 0,85 Thaler (th.) = 4 »alte« Pfund (lb.) = 4 Ort = 15 Batzen (Bz.) = 20 Schilling (sch.) = 60 Kreuzer (kr.) = 120 Pfennige (p.) = 240 Heller (H.)
Datumsangaben
Der gregorianische Kalender wurde in den katholischen Gebieten des Deutschen Reiches am 21. Dezember 1582 eingeführt, in den meisten protestantischen Ländern jedoch erst am 1. März 1700 oder noch später übernommen. Als Folge bestand in der Zwischenzeit ein Unterschied von zehn (später elf) Tagen zwischen protestantischen Territorien wie Nürnberg und katholischen Gebieten wie dem des Fürstbischofs von Bamberg. (Der 13. Juni 1634 in Nürnberg war somit in Bamberg der 23. Juni 1634. Manche Zeitgenossen schrieben deshalb 13./23. Juni 1634.) Im ganzen Buch wird der Nürnberger Kalender verwendet, wo das Jahr (wie damals schon in den meisten Orten üblich) mit dem 1. Januar begann.