Buch
Naelin weiß, was sie sich vom Leben wünscht: Familie, Kinder und ein ruhiges, glückliches Leben. Auf gar keinen Fall will sie Königin von Aratay werden. Sie scheut sowohl die Verantwortung als auch die damit verbundene Gefahr für ihr Leben und das Leben ihrer Kinder. Doch kann sie sich dieser Bürde entziehen, wenn ihre Weigerung jeden einzelnen Menschen in Aratay in tödliche Gefahr bringt? Denn in ihrem Land ist die Königin der einzige Schutz des gewöhnlichen Volks vor den Geistern, und Naelin ist die einzige mögliche Erbin der todgeweihten Königin Daleina. Wem gilt ihre größere Pflicht – ihren eigenen Kindern oder einem ganzen Volk …?
Autorin
Sarah Beth Durst hat an der Princeton University Anglistik studiert. Sie verbrachte dort vier Jahre damit, über Drachen zu schreiben und sich zu fragen, was die Campus-Gargoyle wohl sagen würden, wenn sie sprechen könnten. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Stony Brook, New York.
Von Sarah Beth Durst bereits erschienen
Die Blutkönigin
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SARAH BETH DURST
DIE TODESKÖNIGIN
ROMAN
Deutsch von Michaela Link
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Die Originalausgabe erschien 2017 unter dem Titel
The Reluctant Queen (The Queens of Renthia 2)
bei HarperVoyager, New York.
Copyright der Originalausgabe © 2017 by Sarah Beth Durst
Published by arrangement with HarperVoyager,
an imprint of HarperCollins Publishers, LLC.
Copyright der deutschsprachigen Ausgabe © 2018 by Penhaligon in der Verlagsgruppe Random House GmbH, Neumarkterstr. 28, 81673 München
Redaktion: Waltraud Horbas
Umschlaggestaltung und -illustration: Isabelle Hirtz, Inkcraft
Karte: © Andreas Hancock
HK · Herstellung: sam
Satz: Vornehm Mediengestaltung GmbH, München
ISBN 978-3-641-21465-4
V003
www.penhaligon.de
Karte
Für meinen Mann Adam – in Liebe,
für immer und ewig
Kapitel 1
Allem wohnt ein Geist inne: der Weide mit ihren Blättern, die sachte über die Oberfläche des Teiches streifen, dem Bach, der den Fluss speist, dem Wind, der den Geruch nach frischem Schnee mit sich bringt …
Und diese Geister wollen dich töten.
Es ist die erste Lektion, die jeder Bewohner von Renthia lernt.
Im Alter von fünf Jahren hatte Daleina miterlebt, wie ihr Onkel von einem Baumgeist in Stücke gerissen wurde, weil er in seinem eigenen Obstgarten einen Apfel gepflückt hatte. Mit zehn war sie Zeugin der Zerstörung ihres Heimatdorfes durch wild gewordene Geister geworden. Mit fünfzehn trat sie der namhaften Nordost-Akademie bei, und mit neunzehn wurde sie von einem Meister ausgewählt, der ihre Ausbildung vollendete. Noch im gleichen Jahr wurde sie Thronanwärterin und kurz darauf gekrönt: Königin Daleina der Wälder von Aratay, die einzige Überlebende des Krönungsmassakers. Sie hatte mindestens ein halbes Dutzend Lieder über ihre Geschichte gehört, und ein jedes schmerzte ihr mehr in den Ohren als das vorangegangene. Ganz besonders hasste sie die schrill klingenden Balladen über ihre Krönung, einen Tag, den sie lieber vergessen hätte. Doch immer wieder wurde er ihr von einem Sopran mit allzu einsatzfreudiger Lunge in den Schädel gehämmert.
Sechs Monate nach ihrer Krönung – die Beerdigungen lagen nun schon eine Weile zurück und die vielen Gräber ihrer Freundinnen waren nicht mehr so frisch – wollte ganz Aratay seine neue Königin feiern, und sie hatte sich von diesem Wunsch der Bevölkerung mitreißen lassen. Sie hatte beabsichtigt, ein Zeichen ihrer Herrschermacht zu setzen, indem sie eine der verödeten Landflächen, die während des Massakers entstanden waren, wieder fruchtbar machte und sie durch einen neuen Dorfbaum ersetzte.
Es ist, dachte sie, eine der schlechtesten Ideen, die ich seit Wochen gehabt habe.
Bei Tagesanbruch lag Daleina wach im Bett und wünschte, sie hätte sich entschieden, stattdessen mit einer Parade zu feiern. Paraden waren schön. Alle mochten Paraden. Oder sie hätte den heutigen Tag einfach zu einem Feiertag erklären und alle wieder ins Bett schicken können. Aber nein, ich musste es dramatisch und königinnenhaft machen.
Sie legte sich ihre seidene Robe um die bloßen Schultern und trat auf den Balkon. Daleina hatte für sich Gemächer in den Ästen eines der östlichen Bäume gewählt, statt in die Räume der ehemaligen Königin zu ziehen. Es erschien ihr falsch, im Bett der Frau zu schlafen, die zu töten sie geholfen hatte.
An das glatte Holz des Torbogens gelehnt spähte sie hinaus. Ihr offenes Haar mit seinen Strähnen in Rot, Gold, Orange und Braun fiel ihr ins Gesicht, und sie strich es zurück. Draußen drangen die zitronengelben Strahlen der Sonne zwischen den Blättern hindurch, und die Rinde erglänzte warm, wo das Licht sie berührte. Daleina sah kleine Fleckchen Himmel, helles Morgenblau, aber nur, wenn der Wind kräftig genug wehte, um das Blätterdach über ihr in Bewegung zu versetzen. Die Bäume in diesem Bereich des Waldes waren groß und dicht, mit Ästen, die sich gegenseitig umschlangen, und Blättern, die den Blick nach oben auf den größten Teil des Himmels und nach unten auf die gesamte Erde versperrten. In den Ästen hockten bereits Menschen, die früh dort ihr Lager aufgeschlagen hatten, um die beste Sicht zu haben. Auf sie. Seufzend trat sie zurück.
Du hast gewusst, dass du Publikum haben würdest, sagte sie sich. Du brauchst also gar nicht so überrascht zu tun.
Hinter ihr ertönte eine amüsierte Stimme: »Sie nennen Euch nicht mehr die Blutkönigin. Jetzt nennen sie Euch Königin Daleina, die Furchtlose.«
Daleina schnaubte. »Alle furchtlosen Menschen, die mir je begegnet sind, waren schrecklich dumm.« Sie drehte sich um. Vor ihr stand Kommandantin Alet, ihre treue Wächterin und Freundin. Alet schien stets ein außergewöhnliches Gespür dafür zu haben, wann Daleina wach war. Sie war lautlos in den Raum getreten und stand jetzt vor der reich verzierten Tür, in Lederrüstung, mit Messern, die sie an Arme und Beine gegürtet trug. Ihr dichtes schwarzes Haar mit der weißen Strähne war hochgesteckt, und sie hatte noch mindestens zwei weitere Messer in ihren Locken verborgen.
»Es soll ein Kompliment sein, aber wenn ich die Menschen davon abhalten soll, Euch so zu nennen, dann braucht Ihr es nur zu sagen. Ich kann jederzeit ein paar der schlimmsten Missetäter erstechen.«
»Ihr seid zu freundlich. Blutrünstig, aber freundlich.« Daleina straffte die Schultern und ging zu ihrem Schrank hinüber. Sie öffnete die Türen, hinter denen ihr Krönungskleid sichtbar wurde, ein wahres Wunderwerk aus Spitze, die im Morgenlicht schimmerte. Vorsichtig berührte sie den Stoff. Siebzehn Näherinnen hatten daran gearbeitet und sorgfältig Hunderte von Glasperlen aufgestickt, damit sie aussah wie mit funkelndem Tau benetzt. Das Kleid konnte noch in nahezu vollständiger Dunkelheit das Licht einfangen. Es war bei Weitem das Hübscheste – und Unpraktischste – , was sie je gesehen hatte.
»Nach dem heutigen Tag wird man noch viel mehr Lieder über Euch schreiben«, bemerkte Alet.
»Vor allem, wenn ich sterbe.«
»Vor allem dann«, bestätigte Alet.
Daleina zog die Augenbrauen hoch. »Ihr solltet eigentlich sagen, dass mir mein Vorhaben zweifellos gelingen wird. Dass ich die großartigste Königin bin, die Aratay je gesehen hat, die Beste der Besten, das Juwel des Waldes, die Geißel der Geister, die unser Blut vergießen, und so weiter.« Alle Höflinge liebten diese Phrasen, und Daleina war überzeugt, dass sie auf das Repertoire zurückgriffen, dessen sie sich schon gegenüber ihrer Vorgängerin bedient hatten, Königin Fara. Daleina wusste nur zu genau, dass sie nie die Beste der Besten gewesen war.
Sie war lediglich die Einzige gewesen, die überlebt hatte.
Alet schwieg für einen Moment, dann sagte sie: »Ihr könnt es immer noch absagen.« Ihre Miene war ausdruckslos, sie verbarg geschickt, was sie dachte. Daleina hatte diesen Gesichtsausdruck im Spiegel geübt, aber bei ihr funktionierte es nie so recht. Stets verriet sie ein Zucken ihrer Lippen oder ihrer Augenbrauen.
»Ihr wisst, dass ich das nicht kann.«
»Doch, das könnt Ihr«, berichtigte Alet. »Ihr wollt es nur nicht.«
Daleina musterte ihre Freundin. Alet hatte eine frische Narbe über der Augenbraue. Sie war dick und rot, aber wer immer sie angegriffen hatte, hatte ihr Auge verfehlt. Und sie hatte sich heute für ihre Kriegsrüstung entschieden statt für die Festtagskleidung. Auch auf dem Leder prangte das königliche Wappen, aber es war mit Gold und Grün gemalt, statt mit allerlei Schmuckelementen bedeckt zu sein, die sich an einem Zweig oder einer Waffe verfangen konnten. Warum hat sie … Plötzlich verstand Daleina. »Ihr könnt mir nicht folgen. Ich muss es allein tun. Und das beunruhigt Euch.«
Alet verzog das Gesicht. »Ihr werdet nicht geschützt sein vor Pfeilen, Speeren und geworfenen Gegenständen jeder Art. Die Situation ist eine ganz andere als bei den Thronprüfungen, wo Ihr ausreichenden Sicherheitsabstand zum Volk hattet. Ihr seid für jedermann sichtbar, und obwohl Euch Euer Volk von Herzen liebt, gibt es doch auch ein paar wenige, die Euch töten wollen.«
»Menschliche Feinde machen mir keine Sorgen«, wandte Daleina ein. »Die Geister werden mich beschützen.«
»Ihr wisst, dass Ihr ihnen nicht trauen könnt.«
»In dieser Angelegenheit kann ich es.«
Alet schüttelte den Kopf. Die Messer in ihrem Haar bewegten sich nicht. Eine widerspenstige Locke löste sich jedoch aus den Nadeln und fiel ihr in die Stirn. Dass Alet auch nur eine solche Kleinigkeit ihrer Kontrolle entgleiten ließ, überraschte Daleina. »Die Geister wollen Euren Tod«, erklärte Alet brüsk.
»Sie wollen mich töten. Kleiner Unterschied. Wenn sie einem menschlichen Bogenschützen gestatten, mein Herz mit seinem oder ihrem Pfeil zu durchbohren, dann wird ihnen das Vergnügen verwehrt, mich bei lebendigem Leib zu häuten.« Daleina nahm das wunderschöne Kleid aus dem Schrank und trug es zu ihrem Bett. »Helft Ihr mir beim Umziehen?«
Seufzend verließ Alet ihren Posten an der Tür und ging zum Bett hinüber. »Ihr solltet eine der Palastdienerinnen rufen lassen, damit sie Euch hilft. Dieses alberne Kleid hat mindestens tausend Knöpfe.«
Daleina ließ ihr Seidenkleid von den Schultern gleiten, und es sammelte sich als kleines Häufchen zu ihren Füßen. »Es hat siebenunddreißig Knöpfe, und ich will heute keine Dienerinnen um mich haben. Nur meine Freundin.«
Sie sah einen Muskel in Alets Wange zucken, beinahe ein Lächeln, und Daleina lächelte zurück. Als sie die Arme hob, streifte Alet ihr das Krönungskleid über den Kopf. Sie kam sich vor wie in eine Wolke gehüllt. Die verschiedenen Schichten des Rocks flatterten um sie herum. Sie drehte Alet den Rücken zu und wandte sich zum Spiegel, während ihre Freundin ihr das Kleid zuknöpfte.
Wahrscheinlich wäre es ratsam, ein klein wenig Puder unter den Augen aufzutragen, um die Spuren ihrer Schlaflosigkeit zu verbergen. Niemand durfte glauben, dass sie nicht im absoluten Vollbesitz ihrer Kräfte war. In diesem Punkt hatte Königin Fara recht gehabt: Die Menschen wollten nicht fürchten müssen, dass sie eine schwache Königin hatten. Vielleicht sollte sie einen Hauch Rosa auf ihre Wangen legen. Eingehüllt in das schimmernde Weiß und Gold ihres Gewandes wirkte sie bleich. »Sehe ich königlich oder kränklich aus?«, fragte Daleina.
Alet trat einen Schritt zurück und musterte sie. »Ihr seht ätherisch aus.«
Daleina verdrehte die Augen. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch nie jemand als »ätherisch« bezeichnet. »Sagt mir einfach, ob ich Farbe oder Puder brauche.«
»Weder noch. Ihr seid wunderschön, und die Menschen sollten Eure Schönheit sehen.«
»Ihr seid heute in einer sehr seltsamen Stimmung, Alet.« Daleina wandte sich wieder dem Spiegel zu und runzelte die Stirn. Der Anblick der Königin bei ihrem ersten festlichen Auftritt sollte den Menschen Trost spenden und für den Rest der Feier den richtigen Ton vorgeben. Sie hätte den Schneiderinnen nicht erlauben dürfen, ihren Rock mit so vielen Schichten zu versehen und ihre Arme nackt zu lassen. Sie fühlte sich entblößt und eingeengt zugleich. Langsam drehte sie sich im Kreis und betrachtete sich dabei im Spiegel.
Alet fragte leise: »Seid Ihr seit dem letzten Mal erneut ohnmächtig geworden, Euer Majestät?«
Sie stockte. Ja, sie war ohnmächtig geworden, allein in ihrem Bad in der vergangenen Nacht. »Kein einziges Mal«, log sie. »Es muss eine Ausnahme gewesen sein. Aber Heiler Hamon wird schon herausfinden, woran es lag. Er hat mein absolutes Vertrauen – und sechs Phiolen mit meinem Blut, was mehr als genug sein sollte, um jede Untersuchung durchzuführen, die ihm in den Sinn kommt.«
»Ihr könntet die Sache verschieben, bis …«
»Genug, Alet. Wenn Ihr vorhaben solltet, meine Zuversicht zu erschüttern, dann macht Ihr Eure Sache sehr gut.« Daleina wandte sich von dem Spiegel ab und trat an ihr Schmuckkästchen. Sie wählte eine schlichte Kette – fein gearbeitete, aus Holz geschnitzte Blätter auf einer Schnur aus Seide. Ein Geschenk von ihrer Familie, das sie nach ihrer Krönung erhalten hatte. Ihre Mutter hatte die Blätter geschnitzt, und ihre Schwester hatte das Band gewoben. Alet trat hinter sie und griff nach der Kette.
Daleina hob ihr Haar hoch und ließ Alet die Kette um ihren Nacken schließen. Dann nahm Alet eine Bürste und zog sie durch Daleinas Haar, bis es ihr glatt über Schultern und Rücken wogte. Keine der beiden Frauen sprach, bis draußen eine Glocke ertönte.
»Seid stark, Majestät«, sagte Alet. »Die Hälfte Eurer Minister hält Euch für töricht, weil Ihr Euch mit den Geistern einlasst, ohne eine Thronanwärterin als Nachfolgerin bereitstehen zu haben. Aber andererseits hat diese Hälfte Eurer Minister auch zu große Angst, um sich aus ihren Gemächern hinauszuwagen.«
»Und die andere Hälfte?«
»Ist bereits in den Bäumen, um Euren Sieg zu bejubeln.«
Daleina drehte sich zu Alet um. »Und wo werdet Ihr sein?«
Alets Miene blieb unverändert. »Hier an Ort und Stelle, wo ich auf Eure Rückkehr warten werde.«
Daleina umarmte sie und drückte ihre Wange an Alets. Der Griff von einem der Messer ihrer Freundin bohrte sich in ihre Rippen, aber Daleina schenkte dem keine Beachtung. Es war schön, wieder eine Freundin zu haben. Als seien all die Freundinnen, die sie verloren hatte – Linna, Revi, Mari, Zie, Iondra – , irgendwie noch bei ihr, vertreten durch Alet. »Wenn ich sentimental wäre, würde ich sagen, man hat Euch geschickt, um mich aufzumuntern.«
»Wenn Ihr sentimental wäret, hätte ich Euch nicht halb so gern.«
Daleina ließ sie los und lachte.
»Geht«, sagte Alet. »Zeigt ihnen allen, was es wirklich bedeutet, Königin zu sein.«
Königin Daleina von Aratay rauschte hinaus auf den Balkon. Versteckt in ihrem Haar waren Nadeln, um ihr zu helfen, die Krone fest auf dem Kopf zu halten, und versteckt in ihrem Mieder befand sich Meister Vens Messer, um ihr zu helfen, den Kopf auf ihrem Hals zu behalten. Als sie hinaustrat, hörte sie den Jubel ihrer Untertanen, die in alle Richtungen jeden verfügbaren Ast besetzt hatten. Ihre Stimmen vermischten sich mit dem Wind und bliesen über sie hinweg. Sie hatte das Gefühl, als atmete sie die Liebe dieser Menschen ein oder zumindest ihre Begeisterung. Sie hob eine Hand und lächelte sie an, und sie jubelten noch lauter.
Sehr nett, dachte sie. Und jetzt verschwindet.
Vorsichtig und mit Bedacht blendete sie sie aus – ihren Anblick, ihre Geräusche – , atmete tief durch, füllte ihre Lunge und leerte sie wieder ganz. Daleina konzentrierte sich allein darauf, nur auf ihren Atem. Sie schluckte den Wind und schmeckte die Luft, den würzigen Kiefernduft. Und dann trat sie vor, drei Schritte hin zum Rand des Balkons.
Die Menschenmenge verstummte auf einen Schlag. Daleina spürte ihr Schweigen als eine Veränderung im Wind, einen Wechsel des Lufthauchs. Aus dem Baum selbst herausgewachsen, ragte der Balkon weit über den Waldboden hinaus. Er hatte kein Geländer, seinen Rand schmückte nur ein filigraner Zopf aus lebenden Ranken.
Fangt mich auf. Sie ließ den Befehl wie einen Pfeil aus ihrem Inneren hinaus und hinein in die Welt fliegen. Im gleichen Augenblick zuckte sie zusammen, obwohl sie sich gewappnet hatte. Es fühlte sich an, als sei ihr ein Streifen Haut vom Körper gerissen worden. Vor der Krönung hatte sie nicht die Macht besessen, einen so weitreichenden Befehl auszusprechen und zu erwarten, dass er auch befolgt wurde. Sie hatte die Geister täuschen, umleiten und locken müssen, als seien sie ungezogene Kleinkinder, aber jetzt erwartete man von ihr, dass sie von der Macht, die die Geister ihr verliehen hatten, auch Gebrauch machte. Es gefiel ihr nicht, aber sie hatte nicht die Absicht, das irgendjemanden sehen zu lassen.
Sie trat hinaus in die Luft.
Der Wind heulte ihr in den Ohren, als sie in die Tiefe stürzte. Sie schloss die Augen, streckte die Arme weit aus und konzentrierte sich auf die Empfindung der sie umbrausenden Luft. Fangt mich auf! Sie legte ihre ganze geistige Kraft in den Befehl, ohne jeden Zweifel, ohne Furcht, ohne ein Gefühl. Sie würden ihr gehorchen. Jetzt!
Heulend wie der Wind pfiffen die Luftgeister um sie herum. Daleina öffnete die Augen und sah ihre Gesichter, durchscheinend, mit leeren Augenhöhlen und spitzen Zähnen. Sie griffen mit bleichen, vielgelenkigen Fingern nach ihr und fingen ihr Kleid auf, jede einzelne Schicht weit ausgebreitet, bis sie aussah wie eine glitzernde Wolke.
Hebt mich hoch, befahl sie.
Sie spürte ihre Hände auf dem Rücken, wie sie sie drehten, bis sie aufrecht auf dem Rücken von einem der Geister stand. Sie reckte sich, richtete den Blick auf das Blätterdach über ihr und dachte nicht darüber nach, wie nahe sie soeben dem Waldboden gekommen war. Die Menschen in den Ästen jubelten wieder, und die Luftgeister knurrten und schlugen nach ihnen.
Tut ihnen nichts zuleide.
Zischend zogen die Geister die Krallen ein. Einige bohrten die Krallen in den Stoff ihres Kleides, und sie spürte ihre Spitzen auf ihrer Haut, aber sie gruben sich nicht so fest in sie, dass sie geblutet hätte.
Höher.
Die Geister trugen sie empor, durch die Äste. Blätter schlugen ihr ins Gesicht, winzige Zweige stachen ihr in die Arme. Kleine Blutflecken tauchten auf ihrem weißen Spitzenkleid zwischen den Glasperlen auf, aber es funkelte noch immer, als sie durch die Baumkronen in den Himmel über dem Wald schoss.
Daleina füllte die Lunge mit der Himmelsluft. Sie schmeckte so sauber und klar wie Wasser aus einem Gebirgsbach. Nur wenige atmeten jemals diese Luft. Unter ihr lagen die Wälder Aratays, ein gewaltiges grünes Meer, das sich vom wirklichen Meer im Süden bis hin zu den Bergen im Norden erstreckte und zu den ungebändigten Landen im Westen. Wie sie so durch die Lüfte segelte, streckte sie die Hände aus und spürte, wie die Blätter ihre Handflächen streiften. Sie fühlte sich wie ein Vogel, der frei auf dem Wind reitet, bis einer der Geister sie angrinste, die Zähne züngelnd gebleckt. Sie schaute nach unten, um sich davon zu überzeugen, dass sie hoch genug war, dann wechselte sie von einem Befehl zu einer Frage: Spielen? Sie sandte die Frage in Spirallinien durch die Wolken aus – und spürte, wie sie beantwortet wurde.
Ein Luftgeist mit dem sehnigen Körper eines Hermelins und Fledermausflügeln schlängelte sich durch die Wolken und flog auf sie zu. Er schob sich unter sie und hob sie höher in den Himmel hinauf. Wettrennen?, fragte sie ihn. Sie stellte sich eine Karte von dem Wald vor, von oben aus der Luft gesehen, und bestimmte innerlich den Ort, an den sie sich begeben wollte.
Der Hermelingeist trillerte den anderen etwas Herausforderndes entgegen. Sie stießen Kampfrufe aus und zirpten Antworten, dann begann das Rennen. Daleina schlang die Arme um den Hals des Geistes, umklammerte ihn mit den Schenkeln und hielt sich fest, als er in die Wolken hineinschoss. Kleine Tröpfchen prasselten ihr ins Gesicht, dann brach sie aus den Wolken hervor und ins Sonnenlicht darüber. Andere Geister zischten neben ihnen her, schossen umeinander in die Höhe oder tauchten hinab.
Schließlich drosselten die Geister ihr Tempo und steuerten eine Öffnung im Blätterdach an. Sie hörte ihr zwitscherndes Gelächter, wie das Geräusch von brechendem Glas, und unterdrückte ein Schaudern. Nur wenige Schritte über dem kahlen Boden bremsten sie ab und ließen sie los. Sie landete in der Hocke und stand dann auf.
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass sie nicht allein waren. Sieben Männer und Frauen standen Schulter an Schulter in einem Halbkreis am Rand des verödeten Landstrichs, aber Daleina schenkte ihnen noch keine Beachtung. Stattdessen verneigte sie sich vor den Luftgeistern. »Ihr habt mich mit den Schönheiten eurer Welt beehrt. Ich danke euch.«
Für einen Moment hörten die Luftgeister auf zu knurren. Einer von ihnen legte die Hände zusammen, und seine langen Finger berührten einander. Daleina sah rote Flecken an den Spitzen seiner Fingernägel und fragte sich, ob es ihr Blut war oder das von jemand anderem. Der Geist verbeugte sich vor ihr, dann wirbelten alle Luftgeister gemeinsam empor, höher und höher in den Kreis des blauen Himmels über dem Hain hinauf. Sie fragte sich, was die Magister an der Akademie von ihrer Methode halten würden, und dann beschloss sie, sich nicht darum zu kümmern, nicht heute.
Daleina straffte sich und wandte sich den Vertretern des hiesigen Dorfs zu. Es waren vier Frauen und drei Männer, alle in festlichen Gewändern. Alle gleichzeitig verneigten sie sich tief vor ihr. Sie verkniff sich den Zuruf, doch bitte nach Hause zu gehen, der ihr schon auf den Lippen lag. Sie wollte und brauchte für ihr Vorhaben kein Publikum. Die Geister waren launische Wesen, und zur Erfüllung ihrer Aufgabe musste sie sehr viele von ihnen beschwören. Aber diese Frauen und Männer wussten das und waren trotzdem gekommen. Verschont mich vor neugierigen Narren, dachte sie, sprach es aber nicht laut aus. Es wäre kein königliches Verhalten, genau diejenigen Menschen zu beleidigen, deretwegen sie hergekommen war. Weil sie ihnen helfen wollte. Und ich bin die Königin.
Sie musste sich das immer wieder ins Gedächtnis rufen.
Die Älteste der Dorfbewohner kam auf sie zugehumpelt. Ihr Gesicht war eingefallen und von so tiefen Runzeln überzogen, dass ihre Augen kaum sichtbar waren. Sie leckte über ihre rissigen und bleichen Lippen, ehe sie das Wort ergriff. »Im Namen aller möchten wir Euch danken.«
Dankt mir, wenn ich damit fertig bin, wollte sie antworten, aber wiederum biss sie sich auf die Zunge. Eine Königin zeigte weder Zweifel noch Schwäche, und bei diesem Ritual ging es ebenso sehr um ihr äußeres Auftreten wie um das Endergebnis. Mit förmlicher Stimme, die laut und vernehmlich durch den Hain scholl, erkundigte sie sich: »Habt Ihr die Saat?«
Zitternd streckte die Frau die Hand aus, die Finger fest zusammengeballt. Daleina wartete, während die Frau die Faust umdrehte und dann die Finger öffnete. Eine Eichel lag auf ihrer Handfläche.
Daleina legte ihre eigenen Hände übereinander, sodass sie eine Schale bildeten, und die Frau gab die Eichel hinein. »Ich danke Euch für dieses Geschenk.« Die Worte des Rituals waren einfach, auch wenn die ihnen folgende Handlung es nicht war. Sie legte den förmlichen Tonfall ab und sagte beinahe flehend: »Würdet ihr bitte in euer Dorf zurückkehren? Zu eurer eigenen Sicherheit.« Geht, ihr vertrauensseligen Narren.
Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir bleiben, Euer Majestät. Ihr werdet uns beschützen.«
Daleina versuchte es noch einmal. »Das kann ich euch nicht versprechen. Ihr solltet heimkehren.«
Aber die Frau lächelte nur. »Wir vertrauen auf Eure Macht. Und wir vertrauen Euch.« Hinter ihr nickten alle ihre Begleiter. »Ihr habt dem Krönungsmassaker ein Ende gemacht.«
Sie hätte gerne weitere Einwände erhoben, aber dafür hatte sie weder die Zeit noch die Energie, und ganz bestimmt hatte sie nicht vor, über den Krönungstag zu reden, einen Tag, der sich von einem wunderschönen Ritual in einen Stoff für Albträume verwandelt hatte, als die Geister, statt eine Königin zur Krönung zu erwählen, alle anderen Thronanwärterinnen – Daleinas Freundinnen – getötet und auch Daleina selbst beinahe umgebracht hatten. Sie schloss kurz die Augen, um die Erinnerung wegzublinzeln, dann öffnete sie sie wieder, um die Ältesten anzublicken.
Blankes Vertrauen leuchtete aus den Augen der Dörfler, so wie Säuglinge ihre Mütter ansehen. Daleina nahm sich vor, sich von ihrem Glauben an sie ermuntern zu lassen, legte sich die Eichel auf den Schoß und grub die Finger in die weiche Erde. Kommt zu mir, befahl sie. Sie spürte, wie die Erde sich bewegte und grollte, als ließe ein Erdbeben sie erzittern. Sanft, behutsam, kommt zu mir.
Die Erde unter ihr gab nach, und sie sah die Männer und Frauen auf die Knie stürzen. Idioten, dachte sie, und dann hatte sie keine weiteren Gedanken mehr für sie übrig. Diese Aufgabe verlangte ihre volle Konzentration. Sanft, behutsam, kommt zu mir, wiederholte sie.
Eine schlammbedeckte Hand brach aus dem Boden. Moos schälte sich davon ab, wie die Schale von einer Orange, und ein kleines menschenähnliches Wesen, wie ein zwergenhafter Mann, zog sich halb aus dem Boden. Seine Stimme klang wie das Knirschen von Felsen, aber sie verstand nicht, was er sagte. Sie vermutete, dass er sie beleidigte. Sie zeigte ihm die Eichel. Bereite die Erde vor, wies sie ihn an.
Sein Gesicht dehnte sich zu einem zahnlosen Lächeln. Mehrere Zungen zuckten aus seinem Mund. Sie folgte seinem Blick und sah, dass er nach den Dörflern schielte. Das war der gefährlichste Moment: Wenn ein Geist gerade beschworen worden war, war sein Hass auf die Menschen am lebhaftesten.
Wieder drängte sie ihm entschieden ihren Willen auf: Grabe. Sofort.
Mit finsterer Miene tauchte er in die Erde zurück. Sie erhob sich und versuchte, das Gleichgewicht zu halten, während der Boden unter ihr auf und ab wogte wie das Meer. Er und seinesgleichen lockerten nun die Erde unter ihr, um sie für die Wurzeln vorzubereiten, die gleich zu sprießen beginnen würden. Als Nächstes brauchte sie Baumgeister. Jede Menge von ihnen. Kommt, rief sie in die Bäume hinein, in die Büsche, die Gräser, die Dornen, die Blumen. Dann trat sie zurück und ließ die Eichel in das Loch fallen, das der Erdgeist hinterlassen hatte. Lasst den Baum wachsen, hoch und stark.
Lachend lösten sich die Baumgeister aus den Schatten des Waldes. Hochgewachsen, geschmeidig und von einem durchscheinenden Grün, tanzten sie durch den Hain. Blumen flossen aus ihrem Haar. Moos wucherte in ihren Fußabdrücken. Daleina breitete die Arme weit aus und hieß sie willkommen. Sie sandte ihnen ihre Gedanken und vermittelte ihnen das Bild der Eichel, wie sie spross. Die Geister strömten zur ihr hin, drängten nah heran und wirbelten dann um das Loch herum.
Ja! So ist es richtig!
Ihr Gesichtsfeld teilte sich, und sie sah mit den Augen der Geister, wie sie ihre Energie in die Eichel strömen ließen. Die Frucht platzte auf, ein grüner Trieb schoss aus ihrer braunen Hülle und entfaltete sich. Immer noch lachend tanzten die Baumgeister, schneller, ein Wirbel rund um Daleina herum. Sie spürte, wie der Spross dicker wurde und wuchs. Neue Blätter brachen daraus hervor, und es kam Daleina so vor, als würden sie direkt aus ihrem eigenen Körper hervorschießen. Unter ihr lockerte der Erdgeist den Boden, und die Wurzeln der Eichel glitten durch die Erde, wurden dicker und härter. Der Baum schoss gen Himmel, höher und höher, wurde immer dicker und dichter. Äste stachen aus dem Stamm hervor.
Formt ihn, befahl sie den Geistern. Sie stellte sich vor, wie sich der Baumstamm weit öffnete, um Häusern in seinem Inneren Raum zu geben. Die Äste würden Treppenstufen sein, Zimmer sollten gebildet und gestaltet werden, als seien sie aus dem inneren Holz herausgeschnitzt worden. Daleina drängte den Geistern dieses Bild auf, und sie heulten auf – sie wollten den Baum wild und frei haben; doch Daleina wollte, dass er zu einem neuen Zuhause für die Dorfbewohner würde, die jetzt auf dem Waldboden lebten. Er sollte ihnen ein sicheres Heim bieten, hoch über den Gefahren, die durch Wölfe und Bären und all die unzähligen Geschöpfe drohten, die des Nachts dort unten jagten.
Sie bedrängte die Geister stärker und stärker, übte Druck auf sie aus, erfüllte ihre Gedanken, und sie zwangen nun ihrerseits den Baum, in der Form zu wachsen, die Daleina sich vorstellte. Lasst ihn höher wachsen, breiter, und zwar so … Sie fügte immer neue Räume hinzu. Dieser Baum würde viele Menschen beherbergen. Hoch oben breiteten sich die Äste zu einem Baldachin aus und verschluckten die Sonne.
Und dann, ohne Vorwarnung, wurde alles um sie schwarz.
Ohne etwas sehen zu können, hörte sie noch, wie die Geister kreischten, und dann hörte sie die Männer und Frauen schreien – um Daleinas willen und um ihrer selbst willen – , während sie selbst auf der aufgewühlten Erde zusammenbrach.