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Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.
ISBN: 978-3-74092-444-7
»Tschüß, mein Schatz«, sagte Mara Collin und umarmte ihre siebenjährige Tochter Stefanie liebevoll. »Vertrag dich gut mit Omi, hörst du?«
»Klar, Mama!«
»Steig ein, Mara!«, drängte Maras Mutter Beate Herrmann.
»Der Zug wird noch ohne dich abfahren!«
»Ach was, sie sagen einem doch, wann man einsteigen soll«, erwiderte Mara. Sie war eine hübsche, zierliche Blondine, im Augenblick allerdings ziemlich blaß und nervös, was sie jedoch zu verbergen versuchte. »Steffie, achte darauf, daß deine Omi nicht zu viel raucht. Auf mich hört sie nicht, aber vielleicht auf dich.«
»Hetz das Kind nicht auf!« Beate Herrmann bemühte sich, ein strenges Gesicht zu machen, doch das gelang ihr nur unvollkommen. Sie war, ganz anders als ihre Tochter, eine rundliche dunkelhaarige Frau von achtundfünfzig Jahren mit munteren braunen Augen und einem freundlichen, ebenfalls runden Gesicht.
»Auf Gleis sechs bitte einsteigen, Türen schließen automatisch!« ertönte eine Lautsprecherstimme, und endlich löste sich Mara von ihrer Tochter und ihrer Mutter und stieg in den Zug. »Ich bin übermorgen wieder da«, sagte sie. »Und vergiß nicht, Mama, daß Steffie am Montag pünktlich in die Schule muß und daß...«
Beate unterbrach sie. »Das wissen wir doch alles, Kind, darüber haben wir schon -zigmal gesprochen!« Sie schüttelte den Kopf. Sie selbst war nie so hektisch und nervös gewesen wie Mara, aber sie hatte in ihrem Leben auch mehr Glück gehabt als ihre Tochter bisher. Sie hatte eine überaus harmonische Ehe geführt, bis ihr Mann vor zwei Jahren gestorben war. Maras Ehe hingegen war nach nur wenigen Jahren bereits gescheitert, dabei war es einmal die ganz große Liebe zwischen ihr und Boris Collin gewesen.
Aber Mara war ja offenbar wild entschlossen, zu retten, was zu retten war – deshalb machte sie jetzt die Reise von Berlin nach Hamburg. Sie wollte ihren Mann, von dem sie sich nach monatelangen sehr häßlichen Auseinandersetzungen vor einiger Zeit endlich getrennt hatte, noch einmal über einen Neuanfang reden. Allerdings wußte Boris Collin, der nach der Trennung nach Hamburg gezogen war, nichts von dem bevorstehenden Besuch, Mara wollte ihn überraschen. »Dann kann ich besser beurteilen, ob wir uns wirklich nicht mehr lieben«, hatte sie ihrer Mutter erklärt. »Aber ich hoffe, daß wir uns versöhnen können. Steffie braucht beide Eltern, es ist nicht gut für Kinder, wenn sie nur bei der Mutter aufwachsen.«
Grundsätzlich sah Beate das genauso – nur in diesem speziellen Fall nicht. Boris Collin war Steffie noch nie ein guter Vater gewesen – er hatte sich nur um die Kleine gekümmert, wenn es ihm gerade in den Sinn gekommen war, meistens jedoch hatte er sie kaum zur Kenntnis genommen.
Beate selbst und ihr Mann waren ihrem Schwiegersohn gegenüber immer reserviert geblieben, aber es war schließlich Mara, die mit Boris leben mußte. Es war ihre Entscheidung, ob sie sich jetzt mit ihm versöhnen wollte oder nicht.
Jedenfall wußte nicht einmal Steffie, wohin die Mutter nun eigentlich fuhr – sie hatte ihr erzählt, daß sie beruflich kurz verreisen mußte. »So kann ich ihr eine große Enttäuschung ersparen, wenn es nicht klappt«, war Maras Ansicht gewesen, und in diesem Punkt immerhin stimmte Beate ihr voll und ganz zu.
»Tschüß, Mama!« rief Steffie, und im selben Augenblick schlossen sich die Türen des Zuges. Beate und ihre Enkelin sahen, daß Mara die Lippen bewegte, doch es drang kein Laut mehr nach draußen.
»Was?« schrie Steffie. »Wir können dich nicht verstehen, Mama!«
Auch Mara schien jetzt zu schreien, doch sie konnte sie noch immer nicht hören. Nun setzte sich außerdem der Zug in Bewegung, und während Mara noch die Lippen bewegte und wild mit den Händen gestikulierte, entschwand sie langsam ihren Blicken.
»Weg ist sie«, stellte Beate fest. »Und jetzt, Herzchen? Es ist Samstag, wir müssen nichts tun – wir können es uns also gemütlich machen. Was möchtest du am allerliebsten?«
»Ins Kino!« antwortete Steffie prompt. Sie war ein niedliches Mädchen, das die gleichen dunklen Haare wie Beate hatte. »Bitte, Omi, laß uns ins Kino gehen!«
»Im Kino darf ich nicht rauchen«, brummte Beate, die bereits eine völlig zerdrückte Zigarettenschachtel aus ihrer Handtasche fischte.
»Ach, Omi!« Die Kleine stülpte schmollend die Lippen nach vorn. »Ein Film dauert doch nicht lange. Du kannst doch vorher und hinterher ganz viel rauchen.«
»So, meinst du?«
Steffie nickte eifrig mit dem Kopf. »Wenn du jetzt gleich anfängst, schaffst du mindestens drei Zigaretten, bis wir im Kino sind.«
Beate lachte schallend. »So hörst du also auf deine Mutter! Hat sie dir nicht eben aufgetragen, darauf zu achten, daß ich nicht zu viel rauche?«
»Ach, das hat die nur so gesagt, Omi. Sie weiß doch genau, daß du nicht auf mich hörst!«
Beate inhalierte tief und fing an zu husten. Sie blieb stehen, bis der Hustenreiz nachgelassen hatte, danach mußte sie erst einmal ein paarmal tief Luft holen, bis sich ihr Atem wieder normalisiert hatte.
»Was ist denn?« fragte Steffie, sowohl beunruhigt als auch ungeduldig. Sie hatte die Anfangszeiten des Films, den sie gern sehen wollte, im Kopf und wußte, daß sie sich beeilen mußten, wenn sie die nächste Vorstellung besuchen wollten.
»Nichts«, antwortete Beate, obwohl ihr Atem noch immer rasselnd ging. »Ich hab’ schon seit Tagen so einen blöden Husten, der einfach nicht weggehen will. Außerdem…« Sie legte eine Hand auf die Brust und verzog das Gesicht, als sie tief einatmete. »Außerdem hab’ ich hier so ein komisches Gefühl.«
»Vielleicht kommt das vom Rauchen«, meinte ihre Enkelin altklug.
»Ach was!« Beate machte eine wegwerfende Geste, nahm die Hand der kleinen Stefanie und sagte betont munter: »Auf ins Kino. Welche Richtung?«
»Einfach geradeaus«, antwortete Steffie glücklich. »Soll ich dir erzählen, was für ein Film das ist, Omi?«
»Wieso willst du ihn sehen, wenn du das schon weißt?« erkundigte sich Beate.
»Ich weiß doch nur ein bißchen. Das wichtigste kriegt man nur mit, wenn man den Film sieht.«
»Na, schön«, seufzte Beate. »Dann erzähl mal. Aber lauf nicht so schnell, ich bin eine ältere Frau und kein junges Huhn wie du.«
Steffie kicherte über diesen Vergleich, dann begann sie Beate zu schildern, was sie im Kino erwartete.
*
»Herr Dr. Kleibert, wie schön, daß Sie wieder einmal in Berlin sind«, sagte Stefanie Wagner, als sie den hochgewachsenen, dunkelhaarigen jungen Mann begrüßte, der soeben die Lobby des Hotels King’s Place in Berlin-Charlottenburg betreten hatte.
»Vor allem ist es schön, daß ich wieder einmal ein paar Tage in Ihrem Haus zu Gast sein kann«, erwiderte er charmant. Sein voller Name war Hans-Joachim Kleibert, doch niemand nannte ihn so. Selbst in Fachkreisen kannte man ihn nur als Hajo Kleibert. Er war Literaturwissenschafter, beschäftigte sich vor allem mit Sprichwörtern und Redensarten und war oft auf Reisen, um Vorträge zu halten.
Wer nun aber glaubte, daß er ein trockener Gelehrter war, irrte sich gründlich: Hajo Kleibert konnte ganze Gesellschaften blendend unterhalten. Einmal hatte er gewettet, daß er es schaffen würde, bei einem feierlichen Essen nichts als Sprichwörter und Redensarten von sich zu geben und sich dabei immer auf das zu beziehen, was man gerade zu ihm gesagt hatte. Er hatte die Wette gewonnen, und seine damaligen Tischnachbarn lachten noch heute Tränen, wenn sie daran zurückdachten.
»Danke, das höre ich gerne«, antwortete Stefanie vergnügt. »Und weil Sie einer unserer treuesten Gäste sind, habe ich Ihnen auch wieder das Zimmer reserviert, das Sie ganz besonders schätzen.«
»Das mit meinem Lieblingsblick?« Er strahlte sie an. »Als ich anrief, war nicht sicher, ob es frei sein würde.«
Sie zwinkerte ihm zu. »Wir haben dafür gesorgt, daß es rechtzeitig frei wurde, Herr Dr. Kleibert. Halten sie einen Vortrag in Berlin?«
Sein Gesicht verdüsterte sich. »Drei«, sagt er, »und wenn ich ehrlich sein soll, dann habe ich dieses Mal keine besondere Lust dazu. Ich habe entschieden zuviel gearbeitet in letzter Zeit und würde gern einfach mal faul sein, mir die Stadt ansehen, Ihr Hotel und das gute Essen hier genießen – und nur das tun, wozu ich Lust hab’.«
»Tun Sie das doch nach Ihren drei Vorträgen«, schlug Stefanie vor. »Genehmigen Sie sich selbst einen Kurzurlaub. Danach macht Ihnen die Arbeit bestimmt wieder Spaß.«
»Ich denke drüber nach«, versprach er.
Stefanie sorgte dafür, daß sein Gepäck nach oben gebracht wurde und begleitete ihn dann selbst auf sein Zimmer – wie sie es bei Stammgästen des Hauses häufig tat. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, daß alles in Ordnung war, kehrte sie in ihr Büro zurück, wo ihre Sekretärin Alice Hübener gerade mit undurchdringlichem Gesicht sagte: »Nein, tut mir leid, Herr Wingensiefen, Frau Wagner ist noch nicht zurück – sie empfängt einen wichtigen Gast. Ja, sicher richte ich ihr aus, aber das kann noch länger dauern, denn anschließend hat sie mehrere Termine im Haus – unter anderem mit der Küche. Sie wissen ja, wegen des Personalmangels dort.« Sie hörte noch einen Augenblick zu, sagte dann sehr höflich: »Ja, natürlich, Herr Wingensiefen, das sage ich ihr, sobald sie kommt«, legte auf und grinste Stefanie an.
»Was für Termine im Haus habe ich denn?« fragte Stefanie alarmiert.
»Keine«, erwiderte Alice unbekümmert. Sie war Ende vierzig, glücklich verheiratet, hatte zwei fast erwachsene Söhne und war erst seit kurzem Stefanies Sekretärin. Seitdem war Stefanies Leben im Hotel deutlich einfacher geworden. »Aber er klang so unfreundlich – da dachte ich, das verschieben wir lieber.«
Stefanie lachte, sie konnte nicht anders. Diese Frau war wirklich unbezahlbar! Andreas Wingensiefen war der Hoteldirektor, Stefanie seine Assistentin. Doch eigentlich war sie diejenige, die die Arbeit machte, während Herr Wingensiefen lieber repräsentierte. Meistens war ihr das recht, denn er ließ sie weitgehend in Ruhe arbeiten. Aber manchmal mußte er sich wichtig machen, und das war extrem störend. Alice Hübener hatte das schnell begriffen und war seitdem bemüht, ihrer jungen Chefin, für die sie sehr gern arbeitete, den Rücken frei zu halten.
»Was wollte er?«
»Das hat er mir nicht verraten, aber er klang so, als wolle er sich beschweren.«
»Dann danke ich Ihnen, Frau Hübener, daß Sie mir ein Gespräch mit ihm erspart haben. Ich habe auch so genug zu tun, ohne daß ich mich noch über den Chef ärgere.« Stefanie verschwand in ihrem Büro, warf einen flüchtigen Blick in den Spiegel, fuhr sich mit beiden Händen durch die schönen blonden Locken und zog sich selbst eine Grimasse. Danach schleuderte sie die engen hohen Schuhe von den Füßen und setzte sich an ihren PC, um ihre Arbeit fortzusetzten. Sie war schon bald so konzentriert, daß sie nicht einmal bemerkte, wie Alice hereinkam, um ihr eine Tasse Kaffee zu bringen.
*
»Wir nähen die Wunde gleich in der Notaufnahme«, sagte Dr. Adrian Winter zu der jungen Frau, die blaß und verängstigt auf der Behandlungsliege saß. »Unsere Operationsräume sind alle belegt, da müssen Sie viel zu lange warten. Legen Sie sich hin und entspannen Sie sich. Ich gebe Ihnen eine Spritze, Sie werden nichts spüren.«
Adrian leitete die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin-Charlottenburg. Es war eine der größten Notfallambulanzen des Landes, und unter Adrians Leitung war sie auch eine der renommiertesten geworden. Wann immer es möglich war, wurden in Berlin und Umgebung schwerverletzte Unfallopfer in die Kurfürsten-Klinik gebracht, weil man sicher sein konnte, daß ihnen dort die denkbar beste Behandlung zuteil wurde.