Das Buch
Herbst 2052: Der Meeresspiegel der Nordsee steigt unaufhörlich, ganze Landstriche stehen unter Wasser. Journalist Nick Schäfer ist auf dem Weg zu seiner dementen Mutter, um ihr bei der Evakuierung aus ihrem schleswig-holsteinischen Heimatdorf zu helfen. Da erhält er einen Hilferuf seiner Exfreundin Emma Fisher. Eigentlich sollte sie nur eine verstaubte Akte aus dem Archiv der US-Botschaft in Berlin holen, aber der verblasste Top-Secret-Stempel weckte ihre Neugier – und bringt sie nun beide in Lebensgefahr: Emma ist auf einen internationalen Skandal gestoßen, der die Flutkatastrophe mit wissenschaftlichen Experimenten der US-Regierung in Verbindung bringt. Nick beschließt, ihr zu helfen. Doch die Suche nach der Wahrheit wird schon bald zum Kampf ums nackte Überleben, denn Emmas Entdeckung bleibt nicht unbemerkt. Der amerikanische Geheimdienst NSA ist hinter ihnen her und hinterlässt dabei eine Spur des Todes …
»Hochspannend, intelligent und beängstigend
realitätsnah« Wulf Dorn
Der Autor
Uwe Laub, geboren 1971, arbeitete einige Jahre als Börsenhändler, bevor er sich selbständig machte. Er hat eine Tochter und lebt in der Nähe von Stuttgart. Blow Out ist sein erster Roman.
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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch
ISBN 978-3-8437-0643-8
© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2013
Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München
Titelabbildung: © iStockphoto
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eBook: LVD GmbH, Berlin
Für Amélie
Wir sind auf dem Weg zu einer Erde, die ganz anders sein wird als das, was wir bis jetzt gewohnt sind.
Jeremy Shakun, Harvard University,
Study of Global Temperatures, März 2013
PROLOG
15. November 2015
»Etwas läuft schief.« Roman Leuthard ging nervös auf und ab. »Ich weiß es.«
»Du machst dir zu viele Sorgen, mon ami«, entgegnete Claude Chevallier.
»Er ist schon viel zu lange fort.« Zum wiederholten Mal warf Leuthard einen Blick auf seine Armbanduhr.
»Geduld, du kannst nicht erwarten, dass Brooks alles auf Anhieb versteht. Xavier muss vermutlich ganz von vorne anfangen.« Chevallier klang nicht besonders überzeugend.
»Ich gebe ihm noch zehn Minuten, dann sehe ich nach ihm.«
Die beiden Geophysiker standen im Windschatten einer der mannshohen Pumpen der Hauptplattform, gut verborgen vor unliebsamen Blicken, die es in letzter Zeit häufig gab. Die ersten Ausläufer des Hurrikans peitschten auf sie ein. Windböen zerrten an ihren Overalls. Aus Angst vor herumfliegenden Gegenständen hatte sich Leuthard seinen Schutzhelm tief ins Gesicht geschoben. Trotz des wasserdichten Schutzoveralls fror er.
Die dunklen Wolken, die vor drei Stunden nur schwach am Horizont auszumachen gewesen waren, hingen jetzt direkt über der Bohrinsel. Schon bald würde der Hurrikan sie mit voller Wucht treffen. Sorgenfalten zogen sich quer über Leuthards Stirn. Er sah durch die Umzäunung nach unten. Fünfzig Meter tiefer tobte das Meer. Die aus südöstlicher Richtung heranrollende Dünung kam ihm gewaltig vor. Mit unbändiger Kraft donnerten die gut und gerne zwanzig Meter hohen Wellenberge gegen die mächtigen Pfeiler der Bohrinsel. Selbst durch den heulenden Wind hindurch hallte der dumpfe Donner des Aufpralls bis zu ihnen hinauf. Gischt spritzte in Fontänen über die Stahlträger der untersten Plattform, erfasst und mitgerissen vom stürmischen Wind. Eine weitere enorme Welle krachte gegen die Pfeiler, und nicht zum ersten Mal spürte Leuthard ein bedrohliches Vibrieren unter den Füßen.
Die imposanten Vorboten des herannahenden Hurrikans kündigten einen Sturm der Superlative an. Sam war ein Hurrikan der Stufe fünf. Mehr Gewalt und Zerstörungswut brachte kein anderes Wetterphänomen auf diesem Planeten hervor. In einer Mischung aus Abscheu und Bewunderung zog Leuthard die Mundwinkel nach unten. Sein Blick wanderte über die gewaltigen Kräne, Turbinen und Pipelines sowie die Gebäude der Hauptplattform, deren 245 Meter hoher Bohrturm das Zentrum bildete. In einiger Entfernung blinkten die Positionslichter der weiteren drei Plattformen. 110 000 Tonnen Stahl und 12 Milliarden US-Dollar hatte der Bau der Independence verschlungen. Bald würde sich zeigen, ob die Konstrukteure dieses stählernen Monsters einen guten Job gemacht hatten.
Leuthard fluchte leise. Wo blieb Xavier? Der Wind peitschte ihnen immer stärker ins Gesicht. Mit zusammengekniffenen Augen starrte er auf die Aufzugstüren des Hauptgebäudes, in der Hoffnung, sie würden sich endlich öffnen und Professor Xavier Rochas ausspucken. »Vielleicht war es ein Fehler, auf Powell zu hoffen. Wir hätten zuerst Genf benachrichtigen sollen.«
Chevallier seufzte auf: »Das Thema haben wir doch längst durch. Xavier ist sich nicht sicher. Warum die Pferde unnötig scheu machen? Wenn wir falschliegen, wird man uns die Hölle heißmachen.«
Leuthards Blick schoss von der Aufzugstür zu dem korpulenten Franzosen. »Und was, wenn wir richtigliegen?«
Chevallier seufzte. »In diesem Fall, mon ami, erwartet uns wesentlich Schlimmeres.«
Ein Lichtschein fiel auf den dunklen Boden der Plattform, als mit einem Mal die Aufzugstüren zur Seite glitten. Ein hagerer Mann trat hinaus in den Sturm und sah sich suchend um.
»Voilà. Siehst du, Roman, alles in bester Ordnung.« Chevallier wollte gerade seinem Kollegen etwas zurufen.
Im letzten Moment legte Leuthard ihm eine Hand über den Mund. »Still!« Er deutete in Richtung des Aufzugs.
Hinter Rochas’ Rücken lösten sich drei Schatten aus dem Hintergrund. Im Gegensatz zu den Wissenschaftlern trugen diese Männer keine Overalls, sondern die schwarze Uniform der Marines, die hier, wie generell in schützenswerten US-Einrichtungen, den Sicherheitsdienst versahen. Helme mit heruntergeklapptem Visier verbargen ihre Gesichter. An ihren Gürteln baumelten, neben Funkgeräten und Stabtaschenlampen, beachtliche Schusswaffen. Die Marines bauten sich im Halbkreis vor Rochas auf. Ihr Anführer redete auf ihn ein. Durch den tosenden Wind war kein Wort zu verstehen, die bedrohliche Körpersprache des durchtrainierten Marine aber sprach Bände. Rochas antwortete wild gestikulierend.
»Was geht hier vor?«, fragte Chevallier leise.
»Keine Ahnung.«
»Sollen wir rübergehen?«
»Nein.«
»Wieso nicht?«
»Ich bin mir nicht sicher.« Leuthard kniff die Augen zusammen und bemühte sich, in den rapide schlechter werdenden Lichtverhältnissen Genaueres zu erkennen. Selbst die Scheinwerfer und Flutlichter schienen inzwischen vom Sturm eingeschüchtert. Ihre Lichtkegel wirkten matt und verloren sich auf halber Strecke in der Dunkelheit.
Unvermittelt holte der Anführer aus und verpasste Rochas einen fulminanten Magenschwinger. Der Spanier klappte zusammen, wurde von den beiden anderen Marines hochgehoben, bekam den nächsten Hieb verpasst und ging in die Knie. Der Anführer griff in Rochas’ Haare und riss dessen Kopf nach hinten. Mit einem kurzen, aber harten Faustschlag mitten ins Gesicht brach er ihm die Nase. Blut schoss über Rochas’ Mund und Kinn. Breitbeinig und mit verschränkten Armen standen die Kameraden des Anführers daneben, während dieser weiter auf den Wissenschaftler eindrosch.
»Verdammt!«, stieß Chevallier hervor, »wir müssen ihm helfen.«
»Wir beide gegen drei Marines?«
»Roman, die prügeln gerade unseren Freund tot!«
»Die haben Waffen.«
»Sie werden uns schon nicht erschießen.«
Leuthard erwiderte nichts. Nach allem, was er in den letzten Tagen von River Maddox erfahren hatte, war er sich da nicht so sicher.
Unvermittelt ließen die Männer von Rochas ab, der zusammengekrümmt auf dem Boden lag. Der Anführer schickte seine Kameraden fort und sah ihnen nach, bis sie hinter einer Ecke verschwanden. Dann packte er Rochas am Overall, zerrte ihn hoch und schmetterte ihn mit dem Gesicht voraus mehrmals mit voller Wucht gegen eine Turbine.
»Mon dieu«, flüsterte Chevallier.
Leuthard schnappte nach Luft. Gleich aus mehreren klaffenden Platzwunden an Rochas’ Kopf und Nase strömte Blut. Schnell war dessen gesamte rechte Gesichtshälfte blutverschmiert, das Auge zugeschwollen. Der Anblick war grauenhaft. Leuthard wurde bewusst, dass er sich näher am Geschehen befand, als ihm lieb war.
Der Marine schob das Visier seines Helms nach oben und betrachtete Rochas. Leuthard kannte den Mann vom Sehen – einer von Brooks’ Lakaien, die seit Wochen hinter den Wissenschaftlern herspionierten.
Mit einem tosenden Geräusch öffnete der Himmel sämtliche Schleusen. Sintflutartiger, vom Sturm gepeitschter Regen klatschte in Leuthards Gesicht. Der Hurrikan gewann an Intensität. Innerhalb von Sekunden triefte Leuthards Overall vor Nässe. Eine besonders heftige Sturmböe fegte über die Plattform und zerrte an der Stahlkonstruktion der Independence. Hin und her schwingende Stahltrossen flogen durch die Luft. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, musste sich sogar der athletische Marine mit einer Hand an der Turbine festhalten. Er vergewisserte sich, dass ihn niemand beobachtete, drehte Rochas auf den Bauch, hob den Kopf des wehrlosen Mannes an und hämmerte ihn mit dem Gesicht gegen die Kante des Turbinensockels. Wieder spritzte Blut nach allen Seiten. Einen Moment lang zuckte der Spanier noch unkontrolliert, dann war es vorbei. Sein Gesicht war nur noch eine Mischung aus Blut, Knochen und Hirnmasse. Das linke Auge war herausgerissen und hing aufgespießt auf einer Schraube an der Kante des Sockels. Der prasselnde Regen vermischte sich mit dem Blut des Wissenschaftlers und schwemmte es fort.
Leuthard war wie erstarrt und konnte den Blick nicht von dem klaffenden Loch abwenden, in dem sich soeben noch Rochas’ Augapfel befunden hatte. Unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, achtete er nicht auf Chevallier, der plötzlich aufsprang. »Assassin!«, brüllte er und rannte mit erhobenen Fäusten auf Rochas’ Mörder zu.
Leuthard war fassungslos. Was dachte sich dieser durchgeknallte Franzose dabei? Wollte er etwa einen Elitesoldaten niederschlagen?
Im selben Moment, in dem sich der Marine umdrehte und den korpulenten Wissenschaftler auf sich zurennen sah, wusste Leuthard, dass Chevallier so gut wie tot war.
Es kam nicht einmal ansatzweise zu einem Kampf.
Zwei Meter bevor Chevallier den Marine erreichte, rutschte er auf den nassen Bodenplatten aus und schlitterte ihm direkt gegen die Schienbeine. Ohne viel Aufhebens hieb ihm der Elitekämpfer die Handkante gegen die Halsschlagader. Chevallier sackte auf der Stelle in sich zusammen. Der Marine griff hinter sich und hielt plötzlich einen schweren Gegenstand in den Händen. Starr vor Angst, folgte Leuthards Blick der Hand mit dem Schraubenschlüssel, die einen weiten Bogen beschrieb und krachend auf dem Hinterkopf des am Boden liegenden Wissenschaftlers niederging.
Chevallier bäumte sich auf, und sein Mund verzerrte sich. Aus einer klaffenden Wunde am Hinterkopf rann das Blut in Strömen. Am ganzen Leib zuckend, kippte der Franzose mit weit aufgerissenen Augen zur Seite. Seine Hände verkrampften sich, dann rührte er sich nicht mehr.
Leuthard starrte auf die beiden leblosen Körper seiner Kollegen, mit denen er noch vor einer Stunde gemeinsam im Labor über dem Gaschromatographen gebrütet hatte. Das alles fühlte sich an wie ein Alptraum – nur war es verdammt real. Bei allen Heiligen, in welchen Wahnsinn waren sie hier nur hineingeraten?
Der Marine sah sich um, als erwarte er jeden Moment die Attacke eines weiteren Angreifers, und packte dann Chevalliers Arme. Er schleifte ihn zur gegenüberliegenden Umzäunung, hinter der es in die Tiefe ging. Mit Mühe stemmte er den schweren Franzosen hoch und hievte ihn über die Absperrung. Ungerührt sah er dem leblosen Körper nach, der wie ein Sack Zement in die Tiefe fiel und von den gischtsprühenden Wellenbergen mitgerissen wurde.
Der Marine kehrte zu Rochas’ Leiche zurück. An der Turbine hielt er inne und zog den aufgespießten Augapfel von der hervorstehenden Schraube. Achtlos warf er ihn ins Meer und widmete sich dann dem Spanier.
Endlich löste sich Leuthard aus seiner Schockstarre. Die einzige Möglichkeit, zu entkommen, lag in dem kurzen Moment, in dem der Marine damit beschäftigt war, Rochas über das Absperrgitter zu hieven. Dabei musste er Leuthard zwangsläufig den Rücken zukehren. Das Problem dabei war, dass Leuthards einziger Fluchtweg direkt an der Stelle vorbeiführte, an der noch vor wenigen Sekunden die beiden Leichen gelegen hatten. Er schauderte.
Der Marine erreichte die Umzäunung und begann mit der Entsorgung von Rochas’ Leiche.
Leuthard löste sich aus seinem Versteck. Noch während er loslief, schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf. Der Marine war bestens durchtrainiert. Womöglich würde Leuthard es nicht bis in sein Quartier schaffen. Er brauchte eine Waffe!
Mit einem raschen Blick vergewisserte er sich, dass der Marine noch immer mit Rochas beschäftigt war und nicht in seine Richtung blickte. Vor der Blutlache ging er in die Knie. Er zog die Ärmel des Overalls über seine Hände und griff sich den Schraubenschlüssel, ohne diesen dabei mit seinen nackten Fingern zu berühren. Der Gedanke, Chevalliers und Rochas’ Blut an seinen Händen zu spüren, ekelte ihn. Das Werkzeug wog schwer in Leuthards Hand, aber wenigstens war er jetzt nicht mehr ganz chancenlos.
Er erhob sich in dem Moment, in dem der Marine sich umdrehte.
Einen Augenblick lang starrten sie sich an.
Der Marine sprintete los.
Leuthard drehte sich um und floh.
Er musste stark gegen den Wind ankämpfen, als er sich seinen Weg quer über die Hauptplattform bahnte, vorbei am mächtigen Bohrturm, in Richtung einer der Nebenplattformen. Sein Herz raste und seine Lungen brannten. Da er wusste, dass der Marine dicht hinter ihm war, vermied er es, über die Schulter zurückzublicken.
Er erreichte die massive Stahltür. Linkisch zog er mit einer Hand den dicken Eisenriegel nach oben und warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht dagegen. Kaum war er hindurchgeschlüpft, krachte die Tür hinter ihm wieder zu.
Ohne sich umzudrehen, rannte er weiter. Auf dem exponierten Verbindungssteg erwischte ihn der Sturm mit seiner ganzen Urgewalt. Regen peitschte ihm ins Gesicht, Orkanböen rissen ihn fast von den Füßen. Wie ein Betrunkener torkelte er von einer Seite des rundum vergitterten Stegs zur anderen. Mit weit nach vorne gebeugtem Oberkörper, kämpfte er sich vorwärts. Hinter ihm schlug die Tür ein weiteres Mal zu. Sein Verfolger war ihm auf den Fersen.
Auf halber Strecke schwankte die Brückenkonstruktion besorgniserregend. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte Leuthard entkräftet die Verbindungstür zu Plattform drei und schlüpfte hindurch. Immerhin war es ihm gelungen, seinen Verfolger auf Distanz zu halten.
Im Bruchteil einer Sekunde scannte er die Umgebung. Zu beiden Seiten der Tür entsprang dem Boden ein Labyrinth aus dicken Rohren und Pipelines, die scheinbar ohne sinnvolle Ordnung rund um die Plattform verliefen. Schon am hellen Tag hätte es Leuthard immense Schwierigkeiten bereitet, eine Person auszumachen, die sich hinter diesem Gewirr aufhielt. Bei den momentan herrschenden Sichtverhältnissen und dem strömenden Regen konnte es ihm durchaus gelingen, sich dahinter zu verstecken. Zumal Scheinwerfer auf Plattform drei spärlich gesät waren. Tatsächlich hatte er keine andere Wahl. Bis zu dem weißen, quaderförmigen Aufbau, der die Labore und Wohnräume der Wissenschaftler beherbergte, würde er es nie im Leben rechtzeitig schaffen. Er schlängelte sich durch das Pipeline-Labyrinth und hechtete hinter einen Metallcontainer.
Keine Sekunde zu früh.
Die Tür wurde aufgerissen, und der Marine betrat die Plattform.
Leuthard drückte sich enger an den kalten Stahl, bis er mit dessen Schatten verschmolz. Sein Puls raste. Von irgendwo über ihm tropfte Wasser in seinen Kragen.
Der Marine blieb abrupt stehen und blickte wild um sich. Leuthard betete, dass sein Verfolger weiter in Richtung Gebäude lief. Der Marine zögerte kurz, dann knipste er seine Stabtaschenlampe an und ließ deren Lichtkegel langsam über die düstere Plattform wandern. Leuthard fluchte leise. Immerhin entschied sich der Marine dafür, zunächst die entgegengesetzte Seite abzusuchen.
Leuthards rechte Hand verkrampfte sich, und ihm wurde bewusst, dass er noch immer den Schraubenschlüssel umklammerte. Er erinnerte sich, weshalb er ihn an sich genommen hatte. Wie es aussah, würde er um einen Kampf doch nicht herumkommen.
Um seine verkrampfte Hand zu entlasten, nahm er den Schraubenschlüssel in die andere Hand – ein Fehler, den er sofort bereute. Glitschig von Regen und Blut, rutschte ihm das Werkzeug aus der Hand. Ohrenbetäubend laut knallte es auf eine Schräge, wo es sofort weiter in Richtung eines Lüftungsschlitzes unterhalb einer Turbine schlitterte. Verzweifelt versuchte er den Schraubenschlüssel zu greifen, bevor dieser in den Schlitz fallen konnte. Vergeblich. Voller Entsetzen musste Leuthard mit ansehen, wie seine letzte Hoffnung in einem Schacht unterhalb der Turbine verschwand.
Er fluchte. Der laute Aufprall konnte dem Marine nicht entgangen sein. Spätestens jetzt blieb Leuthard nur noch eine Möglichkeit. Er sprintete los, an mehreren Turbinen vorbei, und hetzte eine Gittertreppe hinauf, die auf die nächste Ebene der Plattform führte. Oben angekommen, schlug er die Richtung zum Eingang des Wohn- und Forschungstrakts ein.
Wie aus dem Nichts tauchte sein Verfolger gute 25 Meter vor ihm auf und versperrte ihm auf dem schmalen Laufsteg den Weg. Im Strahl der Taschenlampe ertappt, blieb Leuthard beinahe das Herz stehen. Verdammt, wie war der Kerl nur so schnell hier heraufgelangt?
Leuthard machte kehrt und hastete die Gittertreppe weiter nach oben. Der Marine holte auf. Die Distanz zwischen ihnen schmolz. Stufe um Stufe kämpfte sich Leuthard die Treppe hinauf. Eine Bö erwischte ihn. Er verlor das Gleichgewicht, rutschte aus und fiel hin. Eine Hand griff nach seinem rechten Knöchel, er stieß sie weg, rappelte sich auf und kämpfte sich weiter. Die Treppe endete, ebenso Leuthards Orientierung. Er rannte einfach in irgendeine Richtung. Wie viel Vorsprung blieb ihm noch?
Plötzlich wurde er an der Schulter gepackt und zu Boden geworfen.
»Das war’s dann wohl, Einstein.«
Leuthard rollte sich herum und sah den Marine breitbeinig über sich stehen. Seine durchnässte Uniform schlackerte im Wind.
»Warum tun Sie das?« Zumindest wollte Leuthard wissen, weshalb er sterben musste. Gegen einen Marine würde er ohne Waffe im Nahkampf keine fünf Sekunden bestehen.
»Brooks hat euch Pisser oft genug gewarnt.« Er verpasste Leuthard einen Tritt in die Seite.
Rippen brachen. Flammende Torpedos aus Schmerz schossen durch Leuthards Körper, und er krümmte sich stöhnend zusammen.
»Schnauze!« Der Marine drehte Leuthard auf den Rücken, setzte ihm einen Fuß auf den Brustkorb und trat auf. Weitere Rippen brachen.
Leuthard schrie auf. »Verdammt, dann bring es endlich hinter dich.«
»Nicht so ungeduldig, Einstein. Es soll doch alles wie ein Unfall aussehen.«
Das Nächste, was Leuthard spürte, waren kräftige Hände, die ihn hochhoben und an den Rand des Laufstegs bugsierten. Unwillkürlich sah er nach unten. Zwölf Meter unter ihm befand sich die nächste Ebene der Plattform. Er hörte sich wimmern.
»Ihr hättet auf Brooks hören sollen«, sagte der Marine und stieß ihn den Abgrund hinab.
Leuthard fiel.
Hart schlug er auf den Stahlplatten auf. Knochen splitterten, Schmerzen aber verspürte er seltsamerweise keine mehr. Auf dem Rücken liegend, war Roman Leuthards letzter Gedanke, dass sich der Regen, der auf sein Gesicht fiel, seltsam kalt anfühlte.
Dann war da nur noch Dunkelheit.