DIES IST EINE AUTHENTISCHE GESCHICHTE. SIE BERUHT AUF
KONKRETEN
ERFAHRUNGEN UND HAT SICH SO ODER SO ÄHNLICH
IRGENDWO IN
DEUTSCHLAND ZUGETRAGEN, DESHALB IST DIE
GESCHICHTE, WIE SIE IST. - LEIDER!

Antje Szillat lebt mit ihrem Mann und den vier Kindern in der Nähe von Hannover. Sie arbeitet als freie Autorin, Dozentin und Lerntherapeutin.

Copyright © 2009 edition zweihorn, Neureichenau, 2. Auflage

Antje Szillat

MOTIV: ANGST!

INHALT

FRISS, DU ARSCH!

EINE HARMLOSE PARKBANK

EIN LEERER PLATZ

KEIN GESPRÄCH

ANGST

BLOSS KEIN ÄRGER

DER TRAUM

WER IST DIESER MANN?

OPFER, TÄTER, WEGSCHAUER

FREMD

VICTORS GEHEIMNIS

DER ERSTE SCHRITT

ERLEICHTERT

BAHN FREI FÜR JAN!

NACHWORT

FRISS, DU ARSCH!

Ich will nicht in diese Schule gehen. Ich will da einfach nicht mehr hin. Da stehen schon diese blöden Typen. Verdammt, jetzt haben sie mich gesehen. Am liebsten würde ich wegrennen. Nur wozu? Die kriegen mich ja doch. Wenn ich doch nur unsichtbar wäre oder tot ...

Ein Keuchen und Würgen, als ob sich jemand an seiner eigenen Zunge verschluckt hätte, tönte aus dem Nachbarklo zu Jan herüber. Jan fummelte aufgeregt an seiner Hose herum, versuchte mit zittrigen Fingern den Reißverschluss hochzuzerren.

„Yes!“, hörte er eine weitere Stimme in der Nachbarkabine grölen und schlagartig überfiel ihn ein unbehagliches Gefühl.

Bloß weg hier, dachte er panisch.

Vorsichtig öffnete er die Tür und schlich sich so lautlos wie nur möglich auf den Gang hinaus. Jan wollte nicht hinschauen – wollte nur weg, doch dafür musste er an der Nachbarkabine vorbei. Die Tür stand einen Spalt weit offen. Jan starrte auf die Rücken dreier Typen, die dicht aneinander gedrängt vor der Klosettschüssel standen. Zwischen ihren Beinen hindurch konnte er einen Jungen aus seiner Parallelklasse erkennen. Nico hieß er – Jan kannte ihn flüchtig vom Religionsunterricht.

„Friss, du Arsch ... los, friss schon!“

Nico hockte auf dem Boden, mit dem Rücken an die Kloschüssel gelehnt. Seine Augen waren vor Angst weit aufgerissen und in seinem Mund steckte eine fette braune Nacktschnecke. Er wimmerte entsetzlich. Für einen kurzen Moment lang blickte er Jan, zwischen den Beinen der Typen hindurch, direkt in die Augen.

Hört auf!, wollte Jan laut schreien, aber seine Stimme versagte einfach. Plötzlich drehte sich einer der Typen um. Es war Victor aus der Sechsten.

„Hey, was ist das denn für´n Penner?“, johlte er ärgerlich und wollte Jan am Arm festhalten. Doch der reagierte blitzschnell und knallte die Tür zu. Als er aus dem Jungenklo hinausstürmte, hörte er ein lautes Jaulen hinter sich.

„Die dumme Sau hat mir die Finger eingeklemmt ...“

Im Klassenzimmer ließ er sich keuchend neben Tobias auf seinen Platz sinken.

„Was ist denn mit dir los? Du siehst ja aus, als wäre ein Tyrannosaurus Rex hinter dir her.“

Jan zuckte mit den Schultern.

„Kannst du nicht mehr reden?“

Er konnte wirklich nicht mehr reden und schon gar nicht über das, was er gerade gesehen hatte. Bevor ihn Tobias mit weiteren Fragen bombardieren konnte, betrat Frau Gehrmann die Klasse. In ihrem Schlepptau befand sich eine junge dunkelhaarige Frau, die sie der 5a als neue Englisch- und Kunstlehrerin vorstellte.

„Frau Bender übernimmt, wie ich euch bereits angekündigt habe, die Stunden von Frau Schmitzke.“

„Warum das denn ...?“

„Micha, hast du mir in den letzten Wochen überhaupt zugehört?“

Frau Gehrmann schüttelte lächelnd den Kopf.

„Micha, Micha, mir scheint, du träumst nur noch. Frau Schmitzke geht doch in den Mutterschutz.“

„Ach ... bekommt die ein Baby?“

Die ganze Klasse grölte los und Micha lief dunkelrot an.

Nachdem wieder etwas Ruhe eingekehrt war, verabschiedete sich Frau Gehrmann und ließ die neue Lehrerin mit der 5a alleine.

„Und was meinst du?“, flüsterte Tobias Jan leise zu.

„Sieht doch ganz nett aus, die Neue.“

„Abwarten ...“

Frau Bender bat um Ruhe und schlug ein kleines Kennenlernspiel vor. Doch so richtig kam sie gegen das immer lauter werdende Stimmengewirr nicht an.

„Seid doch mal ruhig. Ruhe bitte. Einen Moment wenigstens. Ich kann ja verstehen, dass ihr alle aufgeregt seid ...“

„Hey, Kati willste dich nicht neben mich setzen?“, fiel Milla Frau Bender lauthals ins Wort.

„JETZT REICHT´S ABER!“

Frau Bender klang plötzlich richtig ernst und sauer. Das wirkte.

Tatsächlich wurde es nach einiger Zeit etwas ruhiger im Klassenzimmer. Doch kaum wollte sie erneut mit dem Spiel beginnen, da wurde sie von einer Papierkugel am Kopf getroffen. Sie versuchte keine Miene zu verziehen. Mit fast tonloser Stimme forderte sie Milla auf, an die Tafel zu kommen.

„Schreib mir bitte deinen Namen an die Tafel. Ich glaube, den muss ich mir nämlich besonders schnell einprägen!“

Dann drückte sie Milla ein Stück Kreide in die Hand und drehte ihr den Rücken zu.

„Und“, wendete sie sich wieder der Klasse zu, „bereit für das Spiel!“ Einige Schüler begannen lauthals zu grölen. Doch die Mehrzahl blickte einfach nur fassungslos an die Tafel.

Frau Bender drehte sich um und lief in Sekundenschnelle knallrot an. Milla hatte nicht ihren Namen an die Tafel geschrieben; an der Tafel stand in übergroßen Buchstaben: LECK MICH AM ARSCH!

Erst fängt es ganz harmlos an; man rangelt ein bisschen und schubst sich gegenseitig. Doch plötzlich wird es immer heftiger. Man kann überhaupt nicht mehr aufhören – außerdem tut es krass weh. Am Ende ist es fiese Gewalt.

Medith, 11 Jahre

EINE HARMLOSE PARKBANK

Jans Weg nach Hause dauerte eigentlich nur zehn Minuten, aber seit dem Vorfall im Jungenklo brauchte er zwanzig, weil er einen Umweg ging. Seiner Mutter erzählte er, dass er sich mit einem Klassenkameraden regelmäßig verquatschen würde. In Wirklichkeit war die Parkbank schuld, an der er eigentlich vorbeimusste, denn die hatten Victor und einige seiner Kumpels besetzt. Irgendwie wurde er das Gefühl nicht los, dass die dort auf ihn warteten. Nachdem Jan es geschafft hatte, die erste Woche einen riesigen Bogen um die Bank und vor allen Dingen um Victor und seine Gang zu machen, begann die zweite mit einer bitteren Überraschung. Jan war gerade aus dem Schulgebäude geschlendert, da wurde er von hinten unsanft gestoßen.

„Ey, du Wichser. Gehste uns aus dem Weg oder was?“

Jan schoss das Blut ins Gesicht.

„Warum sollte ich?“, versuchte er möglichst cool zu antworten.

„Hey Piepel, noch so´n frechen Spruch und ich reiß dir den Sack auf!“ Victor kam drohend näher und seine Kumpels machten es ihm nach.

„Was wollt ihr eigentlich von mir?“, piepste Jan und merkte selbst, dass seine Stimme sich ganz schrill anhörte. Suchend schaute er sich nach einem Lehrer um. Aus dem Augenwinkel sah er Frau Bender aus dem Gebäude kommen, doch sie blickte stur genau in die entgegengesetzte Richtung. Jan hatte für einen Moment das Gefühl, als wollte sie ihn und Victors Gang überhaupt nicht sehen. Im nächsten Moment war sie in ihr Auto gestiegen und fuhr davon. Plötzlich packte Victor Jan an der Kehle und drückte zu.

„Lass das!“, krächzte Jan und versuchte sich aus dem Griff zu lösen. Doch Victor drückte nur noch fester zu und die anderen aus seiner Gang rückten noch näher an Jan heran.

„Du kleines, dummes Arschloch. Du kannst nicht vor uns weglaufen. Wir kriegen dich immer. Ist das klar?“

Dann gab er Jan eine heftigen Schubs, sodass der der Länge nach rückwärts auf den Boden knallte. Jan schlug hart mit dem Hinterkopf auf die Bordsteinkante. Er jaulte laut auf. Hinter sich hörte er eine Männerstimme rufen, was denn da los sei.

„Halt bloß die Fresse, du Sau. Sonst bist du morgen fällig!“, schnauzte Victor ihn an, bevor er sich unschuldig grinsend mit seiner Gang aus dem Staub machte. Im nächsten Moment war der Mann, der sich als der Schulleiter Herr Böker entpuppte, neben Jan und half ihm hoch.

„Was ist passiert?“, wollt er von Jan erfahren.

„Nichts!“, log Jan und rieb sich seinen schmerzenden Hinterkopf. Das wird eine böse Beule geben, schoss es Jan durch den Kopf, bevor er sich beeilte dem Schulleiter zu versichern: „ Ich bin nur gestolpert.“

Dann schnappte er sich seine Schultasche, die ihm bei dem Sturz vom Rücken gefallen war, und rannte weg. Der Schulleiter rief ihm kopfschüttelnd hinterher: „Dann pass gefälligst das nächste Mal besser auf!“

Jan rannte bis zur nächsten Hausecke und ließ sich keuchend dahinter auf den Boden sinken. Sein Herz raste und in seinem Schädel dröhnte und hämmerte es wie verrückt.

„Scheiße!“, fluchte er leise, als er bemerkte, wie die warmen Tränen langsam über seine Wangen rollten. Jan fühlte sich entsetzlich und er hatte absolut keine Ahnung, was er seiner Mutter heute für eine Lügengeschichte auftischen sollte. Nach einer Weile wischte er sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und schaute vorsichtig um die Hausecke. Von Victor und seinen Kumpanen war weit und breit nichts mehr zu sehen. Und auch der Lehrerparkplatz war fast autoleer, anscheinend hatte er hier eine Ewigkeit gehockt.

Langsam rappelte er sich hoch und ging nach Hause.

„Wo kommst du denn jetzt erst her?“, empfing ihn seine Mutter vorwurfsvoll in der geöffneten Haustür.

„So viel kann man doch gar nicht quatschen? Ich warte schon ewig mit dem Essen auf dich. Du weißt doch ganz genau, dass ich heute Nachmittag in die Kanzlei muss.“

Jans Mutter war Anwältin, doch seit der Geburt von Jan und seiner Schwester Jule arbeitete sie nur noch stundenweise in einer großen Kanzlei in der Innenstadt.

„Tut mit leid!“, nuschelte Jan, warf seine Tasche in den Garderobenschrank und stellte seine Schuhe in die Ecke.

Dann ging er in die Küche, wo seine Schwester Jule schon bei den Hausaufgaben saß.

„Hey!“, murmelt er und setzte sich an den Tisch.

Jule schaute nur kurz auf und schrieb dann weiter. Sie ließ sich nicht gerne bei den Hausaufgaben stören. Mutter stürmte in die Küche, bereits mit der Aktentasche unter dem Arm und holte Jans Essen aus der Mikrowelle.