Barandun, Erste Hilfe für die Künstlerseele
Photo: © Bettina Fürst-Fastré
Christina Barandun, geb. 1974, ist Theaterwissenschaftlerin und Beraterin für Organisations- und Mitarbeiterentwicklung sowie betriebliches Gesundheitsmanagement in Theatern. Sie lebt in Bonn und arbeitet als Coach für Führungskräfte und Teams. In Verbindung mit Übungen aus der japanischen Kampfkunst Aikido gibt sie auch Seminare zu Stressbewältigung, Kommunikation und Konfliktlösung. (www.barandun.de)
Stressbewältigung, Kommunikation und
Konfliktlösung im Kulturbetrieb
Ein Ratgeber
For Yoshi and Daniela – thank you for your ›yes‹.
C. B.
Originalausgabe
© by Alexander Verlag Berlin 2018
Postfach 19 18 24, D-14008 Berlin
www.alexander-verlag.com | info@alexander-verlag.com
Alle Rechte vorbehalten.
Lektorat/Redaktion: Christin Heinrichs-Lauer
Grafik/Layout/Umschlaggestaltung: Antje Wewerka
Illustrationen: Bettina von Keitz
ISBN 978-3-89581-558-4 (eBook)
Vorwort
Einleitung: Warum ertragen, wenn ich gestalten kann?
Erste kleine Schritte zu einem Theater der Zukunft
Um was es mir geht
Kapitel 1: Der Theaterbetrieb – viel Potenzial für Gesundheit
Das Dilemma des Künstlers
Die herausfordernde Arbeitsaufgabe des Künstlers
Mythos des leidenden Künstlers
Ist Kunstfreiheit wirklich grenzenlos?
Der tägliche Theaterwahnsinn
Arbeitsplatz und Arbeitsorganisation
Soziale Strukturen und Beziehungen
Gesundheitsschutz als Chance
Was ist Gesundheit?
Arbeitsschutz – dein Freund und Helfer
Wenn uns die Belastungen psychisch überfordern
Eine große Chance für Künstler
Mentaltraining für den Kunst-Leistungssport?
Geht nicht gibt’s nicht!
Kapitel 2: Kraft der Selbstwirksamkeit
Raus aus der Opferrolle!
Der Frust aus künstlerischer Ohnmacht
Zwischen Sicherheit und künstlerischer Wertschätzung
Haltung einnehmen: Was die Kampfkunstphilosophie uns lehren kann
Budo – die japanische Kampfkunstphilosophie
Ich habe es in der Hand, wie ich reagiere
Verantwortung für sich selbst übernehmen
Im Flow: Der optimale künstlerische Schaffenszustand
Aktiv gestalten
Die Kunst, das Richtige zu beeinflussen
Aus der Ohnmacht zur Selbstbestimmung mit sinnvollen Zielen
Was ist »gute« Kunst?
Vom lähmenden Konkurrenzdenken zum lernenden Weiterwachsen
Vertrauen schaffen
Intrinsische Motivation – das Pfund des Theaters
Motivation von innen: Ein unschätzbares Geschenk
Meine Quelle nähren
Unser eingebauter Veränderungsmotor
Kapitel 3: Unser Gehirn und sein kreatives Potenzial
Unser unbegrenztes Potenzial ausschöpfen
Nachhaltige Änderungen müssen ganzheitlich sein
Ein ewiger Austausch
Neuroplastizität: Wandelbarkeit ein Leben lang
Wenn Stress mein Potenzial verhindert
Das optimale Stressmaß für jede Aufgabe
Das eingebaute biologische Alarmprogramm
Auf die individuelle Bewertung kommt es an
Damit im Theater Neues entstehen kann
Kapitel 4: Methoden zur Stressbewältigung
Die Kunst der Achtsamkeit
Was ist Achtsamkeit?
Erholungsmethoden: Wie komme ich nach stressigen Situationen »runter«?
Wenn man unter Strom steht
Aktive Bewegung – Körperarbeit für die Kunst
Die Kunst der Pause
Passive Entspannungsmethoden
Aktive Entspannungsmethoden
Ruhe – der Anker im Alltag
Gesunde Ernährung
Mentaltraining: Wie bewerte ich die äußeren und inneren Reize?
Die Macht der Gedanken
Unseren inneren Kritiker kennenlernen – und umerziehen
Blick auf das Positive und gesunder Realismus
Das Gute im Theater sehen
Mut zum Scheitern, um zu wachsen – Zukunftsvisionen
Stärken sehen
Nachvollziehbare Ziele setzen
Akzeptanz und Mut
Nimm’s nicht persönlich!
Lästern vermeiden
Sich gegenseitig stützen – Wertschätzung zeigen
Zukunftsplanung
Persönlicher Aberglaube
Statt Perfektionismus das Eigene entwickeln
Grenzen wahren und setzen
Mal nicht leiden? Die Lust am Flow entdecken
Humor pflegen
Reiz-Management: Wie reduziere ich von vorneherein stressauslösende Reize?
Stressfaktor Zeit
Wo ist die Zeit geblieben?
Ausmisten
Prioritäten setzen
Zeitfenster einrichten
Nein sagen und Grenzen setzen
Das soziale Netzwerk pflegen
Kleine Schritte
Lebenssinn statt Liebessehnsucht
Kapitel 5: Wertschätzende Kommunikation
Was ist Kommunikation?
Was kommt an?
Meine ich das, was ich sage? – Die richtige Wortwahl
Die große Bedeutung der Gefühlsebene
Ein Bewusstsein für »kommunikative Fehlbarkeit« pflegen
Jede Sichtweise hat ihre Berechtigung
Das Selbstgespräch
Nonverbale Kommunikation
Bühnensprache ist Körpersprache
Kraft der Körpersprache
Grundtechniken verbaler Kommunikation
Die Kommunikationsbrücke: Die Sender-Seite
Das Was und das Wie · Nur Relevantes erzählen · Begründungen · Wichtige Informationen übermitteln und wiederholen · Den richtigen Zeitpunkt und einen günstigen Ort wählen · Feedback geben · Die innere Grundhaltung · Feedback-Regeln · Augenöffner auch in schwierigen Situationen
Die Kommunikationsbrücke: Die Empfänger-Seite
Die Kunst des Zuhörens · Aktives Zuhören oder andere verstehen · Den Wert der Nachricht vor Augen halten · Von einer positiven Absicht ausgehen · Einfach nur Danke!
Die wandelnde Kraft der Wertschätzung
Jedes Gefühl ist erst einmal richtig
Wer hat angefangen?
Toleranz wachsen lassen
Das Gute sehen oder Warum ist loben so schwer?
Verantwortung für das eigene Handeln übernehmen
Kommunikation als tägliche Herausforderung
Kapitel 6: Konfliktfähigkeit
Konflikte als Chance
Konflikte sind im Theater strukturell vorprogrammiert
Konflikte sind gut
Drei Schritte zur Konfliktbewältigung – Strategien der Selbststeuerung
1. Schritt: Ruhe bewahren
Stabiler Stand · Körperausrichtung und -haltung · Tempo verlangsamen · Bewusst ausatmen
2. Schritt: Verständnis für die Situation entwickeln
Unsere Konstruktionen von Wirklichkeit · Wichtige Wegweiser: Unsere Emotionen · Emotionen akzeptieren · Empathie – die Kraft der Einfühlung · Kritik als konstruktives Feedback · Selbstbewusst den eigenen Standpunkt wahren · Humor · Vertrauen aufbauen
3. Schritt: Win-win-Lösungen finden
Das Wichtigste: Wertschätzung auf menschlicher Ebene · Geduld aufbringen für einen gemeinsamen Weg · Offen sein für Neues · Kreativität aktivieren · Wandel als Tagesgeschäft anerkennen
Eine Frage der inneren Haltung
Den eigenen Maßstab setzen
Positive, lösungsorientierte Grundeinstellung
Klugheit walten lassen
Ein ewiger Prozess – Geduld und Gelassenheit
Kapitel 7: Meisterschaft des Selbst
Das künstlerische Talent schmieden
Die japanische Tradition der Künste und des Kunsthandwerks
Jenseits des Sichtbaren und der Perfektion – yugen und wabisabi
Die Kunst-Wege
Kunst als Handwerk
Übung als Geisteshaltung
Rituale als Formen der Vertiefung
Der »gelöste« Künstler – ein Wegbereiter
Die Kunst des Loslassens
Danksagung
Literatur und Quellen
»Ich fühle mich nicht mehr so hilflos allen Widrigkeiten des Lebens ausgeliefert! Es ist ein gutes Gefühl, ›Werkzeuge‹ zu haben und damit die Chance, etwas zu verbessern, sich das Leben einfacher und freudiger zu machen!«, schrieb mir eine Chorsängerin nach einem Seminar, das ich in einem Theater zum Thema »Stressbewältigung« gegeben hatte.
Diese Rückmeldung machte mich sehr glücklich. In meinem Leben und in meiner Arbeit als Trainerin und Coach erlebe ich täglich im Umgang mit den verschiedensten Menschen, wie wir allein durch unser Denken, unsere inneren Sichtweisen und – in der Folge – durch unsere Ausstrahlung und unser Verhalten vieles bewirken können, auch wenn die Rahmenbedingungen noch so starr und widerborstig sein mögen. Dass Künstlerinnen und Künstler innerhalb der hierarchisch-starren Strukturen des Theaterbetriebs diese Wirkung erfahren konnten, bestätigte und beflügelte mich, mich noch intensiver auf die Zusammenarbeit mit Kulturinstitutionen zu konzentrieren.
Denn: Wenn wir unsere »deutsche Theater- und Orchesterlandschaft« erhalten wollen, müssen wir auch die künstlerischen Strukturen ins 21. Jahrhundert übertragen. Beneidet und bewundert von vielen, und von Deutschland für die internationale UNESCO-Liste des Immateriellen Kulturerbes nominiert,1 ist unser deutsches Theatersystem – schaut man genauer hin – seit Längerem in der Krise: Unterfinanzierung, hohe Krankheitsquoten und das Gefühl knirschender Überlastung – als würde es von einem Moment zum nächsten zusammenbrechen.
So radikal und zum Teil beängstigend der gesellschaftliche Wandel sich derzeit vollzieht, so spannend sind die neuen Perspektiven, die sich für die Gestaltung von kreativen Arbeitsplätzen auftun, wie beispielsweise sich selbst organisierende Unternehmen. Das Theater könnte hier Vorreiter für den kulturellen Bereich sein.
In den großen theaternahen Verbänden wird derzeit über Wege der Veränderungen intensiv nachgedacht. Auch in einzelnen Häusern werden erste strukturelle Veränderungen vorgenommen. Doch bis sie tatsächlich spürbar werden, leiden die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die Künstlerinnen und Künstler in den Theatern weiter.
Mit diesem Buch möchte ich Kunstschaffenden praktische Hilfen bieten, um jetzt und heute in den aktuell schwierigen Strukturen zu einer größeren Selbstwirksamkeit und Zufriedenheit zu finden. Gleichzeitig hoffe ich, dass diese wachsende Selbstwirksamkeit aller Teilnehmenden an den künstlerischen Prozessen im Theater den Wandel von innen heraus vorantreibt und als fruchtbarer Boden für die notwendigen Veränderungen dient.
1Im April 2018 wurde der Antrag zur Nominierung der »Deutschen Theater- und Orchesterlandschaft« als Immaterielles Kulturerbe bei der UNESCO eingereicht. Die Entscheidung fällt im Jahr 2020. Bisher hat Deutschlands Theater- und Musiklandschaft nur einen Eintrag auf der deutschen Liste des Immateriellen Kulturerbes. (Siehe https://www.unesco.de/)
Talentierte junge Künstlerinnen und Künstler1, die frisch von den Hochschulen ihr erstes Engagement im Theater antreten, bekommen meist einen regelrechten Kulturschock. Im Tagesbetrieb eines Theaters angekommen, ist die heilige Aura und der hehre Anspruch gemeinschaftlicher künstlerischer Kreationen rasch dahin, spätestens wenn kurz vor der Premiere komplette Szenen umgestellt werden, wenn die Älteren im Ensemble die eigene Machtposition subtil oder auch weniger subtil ausspielen, wenn gute neue Ideen nicht gehört oder im Keim erstickt werden, sich die ersten Ermüdungserscheinungen nach monatelangen durchgetakteten Probe- und Aufführungsterminen ohne Pause einstellen, man sich nur noch von Fast Food ernährt, wenn erste Versagensängste aufkommen, die ersten Blackouts eintreten und man nicht mehr weiß, wann man das letzte Mal die beste Freundin kontaktiert hat.
Der Betrieb »saugt einen langsam auf«, wobei man nicht, wie gehofft, auf der Wolke der kreativen Glückseligkeit lebt, sondern in der permanenten Überforderung irgendwie »überlebt«.
Die aktuelle Situation für Künstler an Theaterbetrieben kann nicht dramatisch genug geschildert werden. Das Argument »Augen auf bei der Berufswahl« hat sicherlich seine Berechtigung, wenn es um die künstlerspezifischen Anforderungen geht wie der Umgang mit Lampenfieber oder die abendlichen Arbeitszeiten, die einem regulären Familienleben eher im Wege stehen. Dennoch darf dieses Argument nicht als Freibrief für alle Missstände herhalten, wie schlecht belüftete, enge Proberäume, ungünstiges Führungsverhalten oder unnötige Zusatzarbeiten, weil die interne Kommunikation nicht funktioniert und kurzfristige Änderungen nicht bei allen angekommen sind.
Eine Flucht in die Selbstständigkeit ist keine Lösung, denn zum einen ändert das nichts am Theatersystem, das sich vor allem von innen her wandeln muss, zum anderen kennt auch in der freien Szene die Selbstausbeutung kaum Grenzen.
Wir als Gesellschaft, die Kunst erleben wollen, sollten nicht zulassen, dass sich Kunstschaffende für uns und um der Kunst willen ausbeuten und ihre Gesundheit aufs Spiel setzen. Der volkswirtschaftliche Schaden wäre enorm. Sowohl die Theaterbetriebe als Arbeitgeber als auch die Künstlerinnen und Künstler selbst sollten deshalb zu einem gesunden Selbstverständnis gelangen, dass auch sie Arbeitsbedingungen und -strukturen benötigen, in denen sie ihre ganze künstlerische Kraft entfalten und nachhaltig entwickeln können.
Glücklicherweise nehmen sich in den Theaterbetrieben die Verantwortlichen nach und nach dieser Zustände an. Wir stehen am Anfang eines vorsichtigen Umdenkens und Handelns, insbesondere weil mittlerweile auch die gesetzlichen Bestimmungen z. B. im Arbeitsschutzgesetz zur Gesunderhaltung der Arbeitnehmer verstärkt wurden; eine große Herausforderung für Theaterbetriebe, denn letztlich ist alles im Theater diametral entgegengesetzt zu einer im Gesundheitsschutz gewünschten »Work-Life-Balance«. Diese Tatsache war bislang auch der gerne angebrachte Grund, dass nichts geändert werden könne: »Im Theater geht das nicht. Da ist alles anders.« – Nun. Sicherlich. Es ist anders, was allerdings guten Entwicklungen und neuen Veränderungen nicht im Wege stehen muss. Wo, wenn nicht an dem Ort, an dem in jeder Spielzeit unzählige Neuproduktionen erschaffen werden, sollten konstruktive Veränderungen möglich sein? In der Oper arbeiten bis zu zweihundert Menschen auf und hinter der Bühne zusammen, um in nur acht Wochen eine koordinative, kreative Höchstleistung zu vollbringen. Gerade in einem Umfeld, das komplexe Arbeitsstrukturen gewohnt ist, sollte es doch machbar sein, die Gesamtstruktur des Betriebes kreativ zu optimieren.
Betrachtet man die aktuelle Arbeits- und Organisationsentwicklung in der Wirtschaft, die sich seit einigen Jahren intensiv mit gesunden, motivierenden Arbeitsformen befasst, ließen sich sicherlich einige Ansätze auf das Theater übertragen. Nichtsdestotrotz müssen für den Kulturbetrieb mit der hohen Fluktuation künstlerischer Mitarbeiter spezifische Lösungen entwickelt werden.
Wenn das Theater die zunehmende Entmenschlichung der Gesellschaft kritisiert und auch eine gesellschaftliche Aufgabe erfüllen will, dann sollte es ein lebendiges Beispiel für diese Vision sein.
Die derzeitigen Strukturen im Theater lassen nicht zu, dass diese Vision umgesetzt wird. Es ist ein Prozess, der von allen Seiten und von oben und unten Offenheit und Kreativität voraussetzt, Qualitäten, die das Theater im Kern auszeichnen (sollte). Mit neuen Organisationsstrukturen wird bereits weltweit experimentiert, Stichworte dazu sind selbstorganisierende Unternehmen und Agilität.2 Unsere gemeinsamen langfristigen Ziele im Theater sollten sein: die Rahmenbedingungen zu verbessern, die Selbstkompetenz der Einzelnen zu erhöhen sowie die Kommunikations- und Konfliktfähigkeiten zu erweitern, um nach und nach einen Rahmen zu schaffen, in dem Kreativität ihre volle Kraft entfalten kann und eine Arbeitsstruktur für das Theater entwickelt wird, die der Kunst dient – das Theater als Kunstschmiede, in dem sich das Was auch im Wie spiegelt:
Theater als künstlerisch-betriebliches Gesamtkunstwerk.
Dieses Buch soll Impulse bieten, was wir als Einzelne im Theaterbetrieb dazu beitragen können, um verkrustete Strukturen aufzubrechen und in kreativitätsfördernde Arbeitsbedingungen zu verwandeln. Sicherlich lässt sich ein so komplexes System wie das Theater nur durch kleine aktive Schritte ändern. Umso wertvoller, wenn wir diese Herausforderung annehmen. Denn je mehr von uns diesen Weg gehen, desto größer wird die Wirkkraft. Und jeder Weg beginnt – wie wahr – mit dem ersten Schritt.
In diesem Buch gebe ich Ihnen Hintergrundwissen, Anregungen und praktische Tipps, wie Sie in Ihrem künstlerischen Alltag für sich sorgen und in Ihrem Rahmen Ihren Arbeitsplatz optimieren und möglicherweise eine neue Haltung zu Ihrer Arbeit finden können. Es geht darum, der künstlerischen Gestaltungskraft in uns einen geschützten Raum zu geben; einen Raum, in dem wir von unseren Ängsten, Eitelkeiten, Unsicherheiten, unserer Konfliktscheu oder Streitlust und sonstigen Schwierigkeiten im Umgang mit anderen lassen können und unserem inneren kreativen Potenzial wieder freie Bahn schenken können.
Im ersten Kapitel gehe ich auf den »Arbeitsplatz Theater« ein und beschreibe, wo wertvolle Potenziale liegen, um ihn für den Künstler kreativ und gesund zu gestalten. Um diese Potenziale zu entfalten, bedarf es der Selbstwirksamkeit, die im zweiten Kapitel beschrieben wird; dem Wissen darum, dass wir selbst viel mehr in der Hand haben, als wir oft meinen. Und um diese Selbstwirksamkeit zu unterstützen, folgen in den nächsten vier Kapiteln neben Hintergrundinformationen praktische Hinweise, Anregungen und Übungen, wie sich der anspruchsvolle, kommunikationsreiche Alltag entspannter, gesünder und letztlich effektiver gestalten lässt. Ich zeige, welches kreative (Gehirn-) Potenzial wir noch ausschöpfen können, um gekonnt mit Stress umzugehen, beschreibe Techniken zur Stressbewältigung und erläutere, wie Kommunikation gelingen kann und wie Sie Konflikten und Auseinandersetzungen begegnen sollten.
Im abschließenden Kapitel möchte ich nochmals die Idee des Genies hinterfragen und zu der Haltung eines ganzheitlichen Kunsthandwerks motivieren. Eine Haltung, die ebenso kreativ, umfassend, bewegend, berührend, spirituell und politisch sein kann, allerdings kein sich schnell verbrennendes Künstlerfeuer verlangt, sondern durch kontinuierliche, gesunde Arbeit an sich selbst geprägt ist und die das Geschenk der eigenen künstlerischen Kreativität wertschätzt.
Neben konkreten praktischen Übungen in den Kapiteln 4, 5 und 6 sind am Ende jedes Kapitels Anregungen und Hinweise aufgelistet, die sich auf die Themen und Inhalte des vorangegangen Textabschnitts beziehen. Bereits an dieser Stelle bitte ich Sie, bloß nicht alle Übungen und Anregungen auf einmal umsetzen zu wollen. Das geht nicht und demotiviert nur!
Daher ist mein erster Tipp: Lassen Sie sich von Ihren Interessen leiten. Suchen Sie sich zunächst nur eine Übung aus dem Buch heraus und schauen Sie, was sich verändert. Erfahrungsgemäß ergibt sich aus dem ersten Schritt ein logischer zweiter. Da alles miteinander zusammenhängt, wird eine positive Veränderung an einer Stelle sich automatisch auch auf alles andere auswirken.
Wege zur Zufriedenheit
Eine abschließende Anmerkung: Vordergründig beziehe ich mich auf die »ausführenden Künstler« und deren »Kunst«, auch in den Beispielen, da einige inhaltliche Themen etwas anders gelagert sind als in den ebenso wichtigen technischen und Verwaltungsbereichen. Doch für mich steht fest: Alle Mitarbeiter eines Kulturbetriebes sind Kunstschaffende. Alle gehören einer großen besonderen Gemeinschaft an, die Kunst kreiert und ermöglicht, und alle verdienen gleichermaßen Wertschätzung und Anerkennung. Ich bin mir sicher, dass auch die nicht explizit angesprochenen Bereiche die Tipps in diesem Buch aufgreifen und umsetzen können.
Ich wünsche Ihnen von Herzen viel Freude bei Ihrer persönlichen Entdeckungsreise!
1Aus Gründen der Lesbarkeit wird im Folgenden meist die männliche Form verwendet, es ist jedoch immer die weibliche Form mitgemeint. (Anm. d. Red.)
2»Agilität ist die Fähigkeit von Teams und Organisationen, in einem unsicheren, sich verändernden und dynamischen Umfeld flexibel, anpassungsfähig und schnell zu agieren. Dazu greift Agilität auf verschiedene Methoden zurück, die es Menschen einfacher machen, sich so zu verhalten.« Aus: Svenja Hofert: Agiler führen: Einfache Maßnahmen für bessere Teamarbeit, mehr Leistung und höhere Kreativität, Wiesbaden: Springer Gabler, 2016; Kindle-Version, Kindle-Positionen 687–689. Des Weiteren sei auf das spannende Buch von Frederic Laloux: Reinventing organizations (München: Verlag Franz Vahlen, 2015) hingewiesen, das sich mit neuen Organisationsformen befasst.
Werfen wir zunächst einen Blick auf das ganze Ausmaß des künstlerischen Treibens hinter den Theaterkulissen und deren Herausforderungen, die uns jeden Tag jenseits der Pforte begegnen. Mit dem Blick auf den Theaterbetrieb als Arbeitsumfeld können wir in einem nächsten Schritt genauer feststellen, wo Potenziale zur Veränderung und zur Gestaltung eines gesünderen kreativen Arbeitsplatzes vorhanden sind.
In Theaterbetrieben befinden sich Künstler in einem Dilemma. Sie sind eingezwängt zwischen einer kreativen, feinfühligen Arbeitsaufgabe und den oft zermürbenden Rahmenbedingungen. Wie die Abbildung zeigt, müsste der feinfühlige Künstler gleichzeitig ein »dickes Fell« haben; im Grunde also künstlerisch sensibel und gleichzeitig menschlich stark sein. Dass das funktioniert, ist unbestritten. Nur wird ein »dickes Fell«, worunter ich in seiner positiven Ausprägung ein geerdetes Selbstbewusstsein, gelassene Souveränität, hohes empathisches Vermögen, einen wertschätzenden höflichen Umgang miteinander und eine gute Konfliktfähigkeit verstehe, weniger intensiv entwickelt als eine oft überbordende Sensibilität. Wie der Kommunikationswissenschaftler Friedemann Schulz von Thun in seinem Werte-Quadrat1 beschreibt, wandelt sich jede einseitig geförderte Tugend oder Qualität in eine entwertete Übertreibung, wenn nicht die entsprechend ausgleichende Schwesterntugend gefördert wird.
Übertragen auf den Künstler heißt das: Wird ausschließlich die Sensibilität und das auf sich selbst gerichtete Empfindsame gefördert, entwickelt sich ein egozentrischer Gefühlskloß, der nur mit Samthandschuhen berührt werden darf. Umgekehrt wird ein mit allzu dickem Fell versehener Künstler starr, unflexibel, gleichförmig und farblos wirken und das Publikum wenig emotional berühren – wie eine zwar verlässliche, aber künstlerische Dampfwalze.
Diese beiden Schwesterntugenden des Künstlers, das »Feinfühlige« und das »menschlich Starke«, gilt es ergänzend auszubilden. Da das Erstere im jeweiligen künstlerischen Ausbildungsweg intensiv entwickelt wird, geht es in diesem Buch um die andere Seite: um das »menschlich Starke«.
Das Dilemma des Künstlers
Worin besteht die Arbeitsaufgabe des Künstlers und welche Herausforderungen bringt sie mit sich? Die größte Herausforderung, der beispielsweise ein Schauspieler ausgesetzt ist, liegt darin, dass er sich selbst als Arbeitsinstrument nutzt. Auf der Bühne steht nicht ein Kunstwerk aus Stein, Stahl oder Holz, sondern ein Mensch mit Ausstrahlung, Persönlichkeit, einem Körper und einer Psyche. Die Rolle wird durch die eigene Person dargestellt. Es geht gar nicht anders, als dass das Persönliche mit einfließt. Erfahrungen aus dem privaten Leben werden damit automatisch auf der Bühne als Arbeitsstoff verwendet. Zudem, aus neurobiologischer Sicht betrachtet, ist eine Emotion eine Emotion, auch wenn sie gespielt ist. Wie die Embodiment-Forschung, die Forschung der Wechselwirkung von Körper und Psyche, zeigt, kann auch eine gespielte gute Stimmung, selbst ein künstliches Verziehen des Gesichts zu einem Lächeln, ein entsprechend positives Gefühl auslösen, bzw. die körperliche Darstellung negativer Gedanken kann negative Gefühle erzeugen.
Gefühle auf der Bühne und reale Emotionen lassen sich nicht trennen – außer man nimmt lediglich entsprechende Körperhaltungen als Projektionsfläche für das Publikum ein, wie es beispielsweise in asiatischen Schauspieltraditionen der Fall ist, in denen der Körper im Fokus steht.2 Doch selbst hier werden Emotionen ausgelöst.
Diese Arbeit wird als belastend empfunden, wenn der Darsteller in einer Inszenierung entgegen seiner eigentlichen Emotion fühlen muss, zum Beispiel wenn er nicht hinter der Interpretation steht. Ebenso ist es auf Dauer eine Belastung, unter hohem Druck punktgenau wiederholt negative Gefühle darstellen zu müssen.
Dieser hochemotionale Einsatz der Psyche ist das Grundarbeitsmittel von Künstlern, jedoch wird ein gesunder, selbstschützender Umgang damit selten in den Ausbildungsstätten oder an den Theaterbetrieben thematisiert und noch seltener aktiv trainiert. Ganz im Gegenteil: Der Fokus liegt oft auf der »Entblößung« der eigenen Psyche, der gerne mit dem Argument der notwendigen künstlerischen Grenzüberschreitung gekoppelt wird.
Ich möchte an dieser Stelle einen Vergleich mit der japanischen Kampfkunst Aikido anbringen, deren Körperübungen vielen Schauspielern bekannt sein werden und die ich selbst seit vielen Jahren praktiziere und unterrichte: In den Kampfkünsten, in denen es ebenso zentral um den Umgang mit Emotionen geht – allerdings ausschließlich den negativen wie Ängsten, Unsicherheiten und Aggressionen –, wird im Training dieser Umgang mit der Psyche immer wieder thematisiert. Auch in meinem Unterricht lege ich großen Wert auf eine klare Selbsteinschätzung und Wahrnehmung der eigenen psychischen Verfassung und dem Umgang mit ihr. Denn es kann hochgefährlich werden, die eigene Psyche nicht im Griff zu haben. Wie schnell ist eine Schulter gebrochen, ein Arm ausgerenkt, der Hals verdreht. Das Training des Aikido hat mir in seiner Extremsituation vor Augen geführt, wie sehr wir uns selbst und andere durch einen unbewussten Umgang mit unseren Emotionen schädigen können, gleichzeitig hat es mir aber auch gezeigt, welch enormes Energiepotenzial sich eröffnet, wenn wir unsere Emotionen im Griff haben, oder zumindest gut mit ihnen umgehen können.
Während es in den Kampfkünsten um das Trainieren der eigenen Psyche geht, ist die Herausforderung eines Schauspielers noch größer: Er muss seine Psyche und die von ihm gekoppelte Rollenpsyche trennen und sie dennoch als gegenseitige Befruchtung durchlässig halten. Ist diese enorme geistige Leistung nicht trainiert oder über die Jahre mit den sich wandelnden Herausforderungen und den Erfahrungen nicht weiter ausgebildet worden, ist es nicht verwunderlich, wenn sich ein schwankendes Selbstwertgefühl einstellt. Mache ich mir die Rolle zu eigen und zieht sie mich runter, nehme ich diese negative Stimmung mit in meinen Alltag. Ist die Rolle an einem Abend erfolgreich, bin ich in Höchststimmung. Floppt sie, deprimiert mich dies ebenso, auch wenn es möglicherweise nicht an der Rolle, sondern an einer subjektiven Haltung des Publikums lag. Wenn ich mich mit meiner Rolle komplett identifiziere, fühle ich mich auch als Privatperson in meinem Selbstwert getroffen.
Das Arbeitsinstrument von der Person zu trennen, ist im künstlerischen Bereich schwer, da das Arbeitsinstrument die Person selbst ist. Umso mehr – gerade unter den derzeit wenig förderlichen Rahmenbedingungen eines Theateralltags – müssen die Künstlerinnen und Künstler täglich auf den gekonnten Umgang mit ihrer Psyche achten.
Gerne möchte ich noch mit einem anderen Mythos aufräumen, der in der Kunstwelt herumgeistert und oft genug als schlagendes Argument angeführt wird, warum ein gewisser grenzüberschreitender Druck herrschen müsse: Um erfolgreich zu sein, müsse der Künstler leiden.
trotz3