Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden. Ähnlichkeiten mit realen Situationen, lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Werk inklusive aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtgesetzes ist ohne Zustimmung der Autorin unzulässig und strafbar.
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das Recht auf mechanische, elektronische oder fotografische Vervielfältigung, der Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, des Nachdrucks in Zeitschriften oder Zeitungen, des öffentlichen Vortrags, der Verfilmung oder Dramatisierung, der Übertragung durch Rundfunk, Fernsehen oder Video, auch einzelner Text- oder Bildteile.
Fragen Sie vorher einfach die Autorin.
Books on Demand GmbH, Norderstedt
© Carmen Mayer, überarbeitete Neuauflage 2021
Satz/Layout: Carmen Mayer
https://www.autorin-carmen-mayer.com
Covergestaltung: Carmen Mayer
Autorenportrait: Christine Olma
Herstellung und Verlag: BoD
ISBN: 978-3-754335-53-6
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind unter www.dnb.de abrufbar.
„Wer war denn die heute Nachmittag?“
Die Stimme seiner Mutter klang eisig. Christoph klappte den Ordner zu, mit dessen Inhalt er sich während der vergangenen zwei Stunden intensiv beschäftigt hatte.
„Wen meinst du?“, fragte er zurück, deutlich um einen gelangweilten Ton bemüht.
„Na die, mit der du dich so lange unterhalten hast, draußen am Tor.“
„Ach die. Eine Kundin. Hat sich nach unserem Eiswein erkundigt.“
„Nach unserem Eiswein? Ach. Um diese Jahreszeit? Und seit wann fertigen wir unsere Kunden am Tor ab?“ Margarete Orthler schüttelte den Kopf. „Hast du was mit der?“
Christoph schaute überrascht auf. Seine Mutter stand mit vor der Brust verschränkten Armen im Türrahmen und fixierte ihn mit zusammengekniffenen Augen.
„Lass besser die Finger von der“, fuhr sie fort, als er nicht antwortete. „Sonst stehst du irgendwann wieder so dumm da wie letztes Mal.“
Der junge Mann trommelte ungeduldig mit den Fingern auf dem schwarzen Deckel des Ordners vor sich.
„Ich hab nix mit der“, gab er unwirsch zurück. „Sie ist nur eine Kundin. Wollte mal vorbeischauen, weil sie in der Gegend war.“
„Und erkundigt sich im September nach unserem Eiswein! Wär’ ja noch schöner, wenn wir von der letzten Lese was übrig hätten. Auch so eine Ökotante, nehme ich an“, probierte sie es weiter.
Christoph ignorierte ihren provozierenden Tonfall. Er hatte die Hände über dem Deckel des schwarzen Ordners gefaltet. Sein Blick wanderte über den Schreibtisch hinweg zu seiner Mutter, die immer noch abwartend in der Tür stand.
„Was willst du?“, fragte er schließlich. Er klang müde.
„Dass du dich um das Gut und nicht um irgendwelche Weiber kümmerst“, antwortete sie. „Dein Vater …“
„Spar uns diese Leier, ich kenne sie in- und auswendig“, bat er.
Margarete Orthler zuckte die Schultern und setzte ein beleidigtes Gesicht auf.
„Wo ist die her?“, insistierte sie trotzig.
„Bayerischer Wald.“ Er stand auf. „Ich hab noch was zu erledigen.“
Sie wich zurück, als er auf sie zukam, ließ ihn vorbeigehen, sah ihm nach, wie er in den Hof hinaus und zu seinem Jeep lief. Gleich darauf verschwand das silbergraue Gefährt durch die Torausfahrt.
„Dieser Jeep“, grollte Margarete Orthler, bevor sie sich umdrehte und ins Haus zurückging. „Auch so eine Spinnerei. Wenn dein Vater noch lebte …“
„Jemand hat versucht, ihr irgendetwas aus dem Kopf zu schlagen.“
Hauptkommissarin Annemarie Zeller erhob sich aus dem feuchten Moos, in das sie sich neben eine weibliche Leiche gekniet hatte.
Walter Braunagel bemühte sich, ruhig zu bleiben. Er hatte nicht verhindern können, dass seine Chefin mit zum Tatort kam, weil Kommissar Norbert Schwarz an diesem Vormittag einen wichtigen privaten Termin wahrnehmen wollte.
„Und was?“
Annemarie Zeller streifte ihre Einmalhandschuhe ab und steckte sie in einen der mitgebrachten Plastikbeutel.
„Das herauszufinden ist Ihr Job, Walter Braunagel.“
„Ach tatsächlich?“
Annemarie Zeller fuhr herum. Braunagel fing einen wütenden Blick ein, den er jedoch ignorierte.
„Wie kommen Sie darauf, dass ihr jemand etwas aus dem Kopf schlagen wollte?“, beharrte er auf einer Erklärung.
„Sieht man das nicht?“
Kommissar Braunagel warf einen schnellen Blick auf die Leiche. Mehr ertrug er nicht. Er räusperte sich und wartete, bis der Fotograf mit seinen Aufnahmen fertig war und seine Ausrüstung zusammengepackt hatte.
Annemarie Zeller ging zu den Kollegen hinüber, die den Bereich um die Tote mit rot-weißem Trassierband gesichert hatten. Braunagel sah, dass sie etwas in ihr Handy tippte. Vermutlich organisierte sie einen Leichentransport und sprach anschließend mit dem Staatsanwalt. Auch diese Anrufe zählten zu seinen Aufgaben, aber er verkniff sich einen Kommentar.
Er wusste genau, warum sie selber anrief. Vor allem bei Staatsanwalt Dr. Schiller.
Die Kommissarin schälte sich aus ihrem Schutzanzug. Sie reichte ihn an einen der Polizisten weiter, die noch mit dem Trassierband beschäftigt waren, und strich Jacke und Hose ihres dunkelblauen Anzugs glatt. Walter Braunagel beobachtete sie dabei kopfschüttelnd. Den Schutzanzug hatte sie seiner Meinung nach in erster Linie übergezogen, um ihr tadelloses Outfit zu schonen, und erst in zweiter, um keine Spuren am Tatort zu hinterlassen.
Es war nicht fair, so über sie zu denken, das wusste er. Aber manchmal kam ihm so etwas einfach in den Sinn, und dann musste es eben so sein.
Der Kommissar drehte sich um die eigene Achse und bedachte den Leichenfundort samt der übel zugerichteten Frau mit einem abschließenden, konzentrierten Blick. Er wollte sicher gehen, nichts übersehen zu haben. Fotos waren für ihn sekundäre Hilfsmittel, wenn er sich bei seinen weiteren Ermittlungen nicht mehr an alles erinnern konnte. Sein Eindruck vor Ort war ihm wichtiger als alle Fotos und Videos der Welt, so gut sie auch sein mochten. Er hatte so etwas wie ein fotografisches Gedächtnis, auf das er sich hundertprozentig verlassen konnte.
Die Frau auf dem feuchten, frühherbstlich mit einer dicken Schicht aus Moos, Tannennadeln und verrottetem Laub bedeckten Waldboden hatte dunkelblondes, kinnlanges Haar, das jetzt wirr und schmutzig um ihren Kopf lag. Ihre Körpergröße schätzte Walter Braunagel auf eins siebzig. Sie lag auf dem Rücken, die Beine waren angewinkelt und zur Seite gedreht, Arme und Hände lagen wie bei einem schlafenden Baby links und rechts neben ihrem Kopf. Ihr Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit zerschlagen worden, weshalb Braunagel auf die Schnelle ihr Alter nicht zu schätzen vermochte. Der Regen der vergangenen Tage hatte einen großen Teil des Blutes abgewaschen und ließ ihre Verletzungen erschreckend deutlich sichtbar werden. Außerdem hatten sich bereits Tiere über die sterblichen Überreste der Frau hergemacht und deutliche Spuren hinterlassen.
Die Leiche war bis auf ein Paar Turnschuhe an ihren Füßen nackt. Sie trug keinen Schmuck, keine Uhr. Nirgendwo gab es eine Handtasche, ein Kleidungsstück oder etwas anderes, anhand dessen man ihre Identität hätte feststellen können. Sie lag keinen Meter neben einem offensichtlich wenig genutzten Waldweg, der ebenfalls mit einer Schicht aus Tannennadeln über einem dicken Pelz aus Moos bedeckt war. Es gab wenig Unterholz in unmittelbarer Nähe des Fundorts, und nur niedrig wachsende Pflanzen, deren Blätter und Stiele teilweise geknickt waren. Vermutlich hatten Tiere diese Spuren hinterlassen, für Spuren von Menschen waren sie zu klein.
Von dort, wo die Tote lag, konnte man den Weg ein Stück vor und zurück einsehen, bevor er in einer leichten Kurve auf der einen Seite, und hinter einer Kuppe auf der anderen Seite verschwand.
Walter Braunagel war sterbenselend geworden beim Anblick dieser Leiche. Er würde sich nie an solche Situationen gewöhnen.
„Die ist schon etwas länger tot“, hörte er seinen Kollegen Ralf Kluge von der Spurensicherung sagen, der neben ihn getreten war. Braunagel war ihm insgeheim dankbar für die Ablenkung. „Es hat geregnet und war reichlich kühl in den vergangenen Tagen, deshalb sind noch nicht so viele Viecher …“
„Notiert“, unterbrach Braunagel ihn schnell und erntete ein verständnisvolles Nicken.
„Was ich damit sagen wollte: Es gibt so gut wie keine sofort verwertbaren Spuren nach dem heftigen Regen gestern und vergangene Nacht.“
„Danke.“
„Klar doch.“
„Fuß- oder Reifenspuren irgendwo?“
„Mit der Spurensicherung sind wir fertig“, antwortete Kluge und wies mit dem Kinn auf zwei Kollegen in weißen Schutzanzügen, die gerade ihre Sachen zusammenpackten und zum Auto brachten. „Fußspuren, die wir verwenden könnten, wurden nicht gefunden. Nach Reifenspuren haben wir sowohl hier, als auch vorne auf dem Weg gesucht, aber auch nichts Brauchbares entdecken können.“
„Und das umgeknickte Gewächs hier?“
„Könnte von den Tieren stammen, die vor uns da waren. Das lässt sich nicht mehr so genau feststellen, Braunagel“, bestätigte Kluge dessen eigene Überlegungen.
„Vergewaltigungsopfer? Kampf- oder Abwehrspuren?“, wollte Braunagel wissen.
„Keine auf die Schnelle erkennbaren Zeichen dafür, hat der Notarzt zumindest gesagt. Das wird die Rechtsmedizin schon noch herausfinden.“
„Die Zeller ist der Meinung, jemand habe ihr etwas aus dem Kopf schlagen wollen.“ Es klang eher nach einer Frage als nach einer Feststellung.
„Das mag sein“, gab Kluge zurück. „Die Schläge ins Gesicht wurden mit großer Wucht ausgeführt, als hätte jemand die Frau abgrundtief gehasst. Meiner Meinung nach muss der Mörder sie gekannt haben.“ Er schaute einen Augenblick lang auf die Tote und fuhr dann fort: „Das eingeschlagene Gesicht erschwert die Identifizierung der Leiche, man wird nicht einmal so ohne Weiteres das Zahnschema dafür verwenden können. Auch darin könnte ein Grund für diese üblen Verletzungen zu suchen sein. Raffiniert ausgedacht, falls jemand die Ermittlungen aus irgendeinem Grund verzögern will.“ Er legte Braunagel kurz eine Hand auf die Schulter. „Aber nicht geschickt genug, nicht wahr, Herr Kollege?“
Braunagel verzog das Gesicht. „Na ja.“
Ralf Kluge tippte sich kurz mit zwei Fingern an die Schläfe und verabschiedete sich.
Kommissar Braunagel warf einen letzten Blick auf die Tote und ging zum Wagen zurück.
„Nicht geschickt genug“, wiederholte er die Worte des Kollegen, während er den Motor startete. „Ich weiß nicht, wer du bist, Frau, aber ich werde das herausfinden, wie ich herausfinden werde, wer dir etwas aus dem Kopf schlagen wollte und warum. Falls die Zeller mit ihrer Vermutung recht haben sollte.“
Hauptkommissar Walter Braunagel saß an seinem Schreibtisch im zweiten Stock der Kriminalpolizeiinspektion Würzburg-Zellerau und suchte online den aktuellen Datenbestand nach einer Vermisstenanzeige ab, die eventuell Aufschluss über die Identität der Toten geben konnte. Er war im vergangenen Frühjahr vierzig geworden, und arbeitete seit sieben Jahren in der Abteilung für Tötungsdelikte, wie die Mordkommission im Amtsdeutsch heißt. Sein dunkelbraunes, kurzes Haar stand ein wenig wirr um seinen Kopf, die dunklen Ringe um seine grauen Augen wetteiferten mit dem Schatten seines Dreitagebarts, während er konzentriert einige Dateien durchsuchte. Als er nichts Brauchbares fand, rief er im Institut für Rechtsmedizin der Uniklinik Würzburg an, ob die Obduktion der Leiche etwas Neues ergeben hatte.
„Ist irgendwas Verwendbares fertig?“, wollte er wissen, nachdem er sich hinreichend darüber ausgelassen hatte, wie beeindruckt er immer wieder von der schnellen Arbeit der Rechtsmediziner war. Besonders jetzt am Wochenende.
„Ihnen ist demnach klar, dass heute Samstag ist?“, fragte Wolfgang Schröter mit einem müden Ausdruck in der Stimme zurück.
Braunagel nickte ergeben. Seine Ausführungen waren also doch nicht so gut angekommen.
„Es ist Ihnen also klar“, hörte er die Stimme des Mediziners an seinem Ohr. „Ihr Nicken ist bis hierher durchgedrungen.“
„Immerhin.“
„Nun gut, zumindest so viel ist sicher: Wir haben keine Kampfspuren an ihrem Körper entdecken können“, bestätigte Wolfgang Schröter die Aussage von Ralf Kluge.
„Heißt?“
„Heißt, dass sie ohne jegliche Gegenwehr mit einem ziemlich heftigen Schlag von hinten auf den Kopf getroffen wurde, der sie außer Gefecht gesetzt haben dürfte. Ob der Schlag tödlich war oder die ihr anschließend zugefügten schweren Gesichtsverletzungen, wird sich herausstellen. So weit bin ich noch nicht.“
Braunagel machte sich Notizen.
„Gibt es nichts, womit ich zumindest einen Ansatz für unsere Ermittlungen hätte?“
„Doch, ein bisschen was hab ich für Sie. Nicht sehr viel, aber vielleicht hilft es Ihnen trotzdem: Der Schlag auf den Kopf wurde vermutlich mit sowas wie einem hölzernen Prügel ausgeführt. Proben sind bereits im Labor.“
„Die Spurensicherung hat nichts gefunden, was passen könnte.“ Braunagel klemmte sich das Telefon zwischen Schulter und Ohr und blätterte in den Unterlagen, die er von den Kollegen der Spurensicherung bekommen hatte.
„Der Täter kann das Zeug nach der Tat ja mitgenommen haben. Holz ist im Wald genügend vorhanden, und so ein Prügel ist unauffällig zu entsorgen“, ließ ihn Wolfgang Schröter seine Überlegungen wissen.
„Schön, dass Sie sich meine Gedanken machen.“
„Gerne“, lachte der Mediziner am anderen Ende der Leitung.
Braunagel suchte seine Notizen nach Fragen ab, die er zu stellen vergessen haben könnte.
„Vergewaltigung?“, schob er schließlich nach.
„Nein. Es gibt keinen Hinweis auf Geschlechtsverkehr, ob erzwungen oder freiwillig“, antwortete der Mediziner. „Wir untersuchen die Tote trotzdem noch nach Spuren von Spermiziden, falls ein Kondom benutzt wurde.“
„Danke.“
„Ach, da ist noch etwas, das Sie interessieren wird: Der Mord geschah mit Sicherheit am Leichenfundort. Es gibt keine Spuren am Körper der Toten, die darauf schließen lassen, dass sie getragen oder geschleift wurde. Sie muss bis auf die Turnschuhe nackt rumgelaufen sein. Das sind aber ziemlich neue Allerweltstreter. Mit denen ist ermittlungstechnisch garantiert nicht viel anzufangen.“
„Sie meinen, die Frau lief nur in Turnschuhen rum, ohne Klamotten?“ Braunagel zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sie wurde zwar nackt gefunden, aber ich bin ursprünglich davon ausgegangen, dass jemand sie nach ihrem Tod ausgezogen und ihre Kleider irgendwo entsorgt hat. Aber nackt rumgelaufen …? Seltsam.“
„Seltsam, ja.“
„Todeszeit? Ungefähr.“
„Die Frau dürfte zwei Tage vor Auffindung ihrer Leiche getötet worden sein, also irgendwann am Donnerstagabend. Da hatte es in diesem Waldstück meinen Informationen zufolge bestenfalls zehn, zwölf Grad, war also recht frisch. Deshalb können wir die Todeszeit auch nicht so ganz genau feststellen. Die niedrige Temperatur …“
„Wer geht denn Ende September abends nackt und nur mit Turnschuhen an den Füßen im Wald spazieren und warum?“, unterbrach ihn Braunagel. Er hörte, wie Schröter lachte.
„Keine Ahnung. Das herauszufinden ist Ihr Job.“
„Ach ja. Gut, dass Sie mich daran erinnern. Dann noch ein schönes Wochenende!“
Nach diesem Gespräch stand Braunagel auf und streckte sich. Beunruhigt horchte er dabei auf das leise Knacken seiner Gelenke und beschloss wieder einmal, täglich wenigstens eine halbe Stunde im Fitnessraum zu verbringen, der sich im unteren Bereich der Inspektion befand. Wobei ihm klar war, dass er es doch nicht schaffen würde, seinen inneren Schweinehund zu solchen Aktionen zu überreden - und ohne den Kerl war nichts zu machen.
Braunagel ging zum Fenster und schaute auf die Kreuzung hinunter, die direkt vor dem Gebäude den Verkehr in drei Richtungen aufteilte. Die kleine Anlage mit der auffälligen Metallskulptur zwischen Straße und Parkplatz leuchtete bereits herbstlich bunt. Braunagel beobachtete einen Gärtner, der sorgfältig Blätter und Verblühtes auflas und in eine Schubkarre warf. Gerade, als er seine Handschuhe auszog und in die Jackentasche stopfte, begann es zu regnen. Der Gärtner zog sich die Kapuze seines Anoraks über den Kopf, sammelte sein Werkzeug ein, und verschwand kurz darauf um die Ecke.
Der Kommissar schloss das Fenster, ging zu seinem Schreibtisch zurück, ließ sich auf seinen Bürostuhl fallen und starrte eine Zeit lang gedankenverloren auf den Bildschirm seines Computers.
***
„Alles in Ordnung mit dir?“
Norbert Schwarz, ein etwas untersetzter Mittfünfziger, den wohl seit Beginn seiner Dienstzeit in der Zellerau niemand ohne Pullover gesehen haben dürfte, war hereingekommen und hinter ihn getreten.
„Nein, gar nichts ist in Ordnung.“ Braunagel verschränkte die Arme hinter dem Kopf. „Die Zeller war mit am Tatort. War nicht zu vermeiden, nachdem du dich abgemeldet hattest.“
„Au. Ich hoffe, ihr habt euch nicht vor allen Leuten gestritten?“, feixte sein Kollege.
„Ging gerade noch mal gut. Wir waren außerhalb der Hörweite aller Leute.“ Braunagel schloss die Augen und ließ den Kopf nach vorne auf die Brust sinken. „Bist du auf dem Laufenden?“
„Bin ich. Hab mir den Bericht durchgelesen.“
„Die Bilder von der Frau im Wald gehen mir nicht mehr aus dem Kopf.“
„Verstehe.“
Schwarz setzte sich ihm gegenüber an seinen Schreibtisch und stützte abwartend den Kopf auf die Hände.
„Ich hab die Vermisstenanzeigen durchforstet, aber nichts gefunden“, informierte Braunagel ihn.
„Vielleicht war’s eine Touristin, die keiner vermissen wird, bis ihr Urlaub rum ist“, mutmaßte Schwarz.
„Die Touristen laufen hier bestenfalls mehr oder weniger gut gekleidet zwischen den Weinlokalen umeinander, aber doch nicht nackt in diesem Waldstück!“
„Stimmt auch wieder. Hat man ein Fahrzeug gefunden, mit dem sie hergekommen sein könnte?“
„Nein, bislang nicht. Der Wald liegt über den Weinbergen und reicht auf der anderen Seite den gesamten Nordhang runter bis ins Tal. Sie kann von überall hergekommen sein.“
„Nackig?“
„Ach Herr Schwarz!“
„Ich meine ja nur: Sie muss sich doch irgendwo ausgezogen und ihre Klamotten zurückgelassen haben. Nachdem sie offenbar nur mit Turnschuhen bekleidet unterwegs war, meine ich. Also weit kann sie nicht gelaufen sein, es war ziemlich frisch in den letzten Tagen.“
Braunagel nickte.
„Das ist richtig. Aber wenn sie sich selber ausgezogen haben sollte, dann ganz bestimmt nicht auf einem öffentlichen Parkplatz, sondern irgendwo versteckt im Wald. Deshalb konnten wir vermutlich bislang auch ihren Wagen nicht finden.“
„Also finden wir erst mal raus, wer die Tote ist.“
„Die Presseabteilung hat bereits einen entsprechenden Bericht an die lokalen Zeitungen weitergegeben, aber es wird Montag, bis wir mit einem Hinweis rechnen können“, informierte ihn Braunagel und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
„Du siehst ziemlich fertig aus, Walter, was ist denn los mit dir?“
„Ich hab nicht gut geschlafen, das ist los.“
Schwarz zuckte die Schultern. Es war bei solchen Antworten besser, nicht weiter nachzuhaken.
„Die Zeller will mich sprechen.“ Braunagel erhob sich und ging zur Tür. „Sollte ich in einer Stunde nicht zurück sein, schick’ die Hundestaffel los.“
***
„Ich soll dir ausrichten, dass die Kollegen vorhin ein Auto gefunden haben, das vielleicht unserer Leiche gehörte“, berichtete Schwarz dem Kollegen, als jener fast eine Stunde später wieder ins Büro kam. „Über unser heute ausnahmsweise mal funktionierendes Computersystem hab ich die Halterdaten abgefragt und herausgefunden, dass der Wagen auf eine Julia Neubauer in Waldgriesbach zugelassen ist. Er scheint schon seit ein paar Tagen auf einem abgelegenen Waldparkplatz einen halben Kilometer Luftlinie vom Fundort der Leiche entfernt zu stehen. Das meldete jedenfalls der Forstverwalter, der auch die Tote gefunden hat.“
„Das ist ihm jetzt erst eingefallen?“, wollte Braunagel wissen, und ließ sich mit einem lauten Seufzer auf seinen Bürostuhl fallen.
„Kann ich gerade noch nachvollziehen“, brummte Schwarz, der sich hinter den Bildschirm seines Computers zurückgezogen hatte. „Immerhin findet man nicht jeden Tag eine Leiche, da denkt man schon mal an alles Mögliche, nur nicht an irgendwo abgestellte Fahrzeuge. Aber dass die Kollegen von der Spurensicherung das Auto heute Vormittag übersehen haben, finde ich äußerst bemerkenswert.“
Braunagel runzelte die Stirn. Er hatte das Auto auch nicht gesehen, obwohl er sicherlich mit anderen Augen in diesem Wald unterwegs gewesen war als der reichlich verschreckte Forstbeamte. Und die von der Spurensicherung – na ja. Darüber würde man noch einmal sprechen müssen.
„Wo genau stand denn das Auto?“
„Auf einem Parkplatz, den wohl ausschließlich die Forstarbeiter benützen, wenn sie ins Holz gehen. Wie ein Fremder den Platz finden kann, wissen die Götter. Er liegt völlig abseits der üblichen Spazierwege, und man kommt auch nicht automatisch dort hin. Der Typ vom Forstamt sagte, er habe den Wagen zwar am Freitagabend auf einem Rundgang mit seinem Hund da stehen sehen, aber gedacht, dass eventuell ein Pärchen …“ Er warf einen schnellen Blick über den Bildschirmrand zu Braunagel hinüber. „Erst, als er sich wegen des Leichenfunds wieder einigermaßen beruhigt hatte, ist ihm das Auto eingefallen. Er hat gleich die Polizei angerufen, und die Spurensicherung ist daraufhin noch einmal rausgefahren.“
Schwarz holte einen Lageplan auf den Bildschirm und fuhr mit dem Finger die eingezeichneten Wege entlang. Dann tippte er auf die Stelle, wo der Wagen gefunden worden war. Braunagel trat neben seinen Kollegen und schaute ihm über die Schulter.
„Und weiter?“
„Die Spurensicherung nimmt den Bereich zwischen Parkplatz und Leichenfundort gerade unter die Lupe. Sie werden aber auch hier keine brauchbaren Spuren finden, denke ich mal. Der Regen dürfte so ziemlich alles verwischt haben, was eventuell wichtig gewesen wäre“, führte Schwarz weiter aus.
„Autoschlüssel?“ Braunagel hakte seine geistige Checkliste ab.
„Bislang nichts. Auch im Umfeld des Leichenfundorts nicht. Könnte durchaus sein, dass die Besitzerin den Wagen abgestellt hat, und mit jemand anderem weggefahren ist. Oder er wurde gestohlen und auf diesem Parkplatz abgestellt. Warten wir’s ab.“
„Oder er gehörte tatsächlich unserer Leiche, und die ist Julia Neubauer.“
„Aha, und wo hätte sie den Autoschlüssel hingetan? In den Turnschuhen waren sie jedenfalls nicht.“
„Irgendwo versteckt, wo sie ihn auf dem Rückweg wieder findet?“ Braunagel seufzte. Ihm war manchmal schleierhaft, was in Frauen vor sich ging, und er wünschte sich in Augenblicken wie diesen, ihrer Logik folgen zu können. „Ich schau jedenfalls nach dem Essen in der Vermisstendatei noch mal nach, ob es inzwischen einen Hinweis auf die Tote gibt“, sagte er dann und ging zu seinem Platz zurück. Während er nach seiner Jeansjacke griff, die über der Stuhllehne hing, fragte er über die Schulter: „Gehst du mit?“
„Zum Essen? Jetzt? Am helllichten Samstagnachmittag?“ Schwarz klopfte nach einem Blick auf seine Armbanduhr vielsagend auf sein Bäuchlein, gegen das er immer wieder erfolglos ankämpfte. Seine letzte Diät hatte er so lange durchgehalten, bis er immerhin fast zehn Kilo weniger wog. Dummerweise machte er anschließend Urlaub und bei seiner Rückkehr war alles wieder drauf. Braunagel dagegen schien restlos alles ohne Folgen zu verwerten, was er aß, denn an seiner Figur war nichts auszusetzen. Fast nichts.
„Ich hab seit dem Frühstück nichts gegessen, und nach dem Anblick der Leiche hatte ich keinen Appetit.“
„Ah ja. Also auf zu deinem Lieblingscafé an der Alten Mainbrücke mit der netten Kleinen, derentwegen du mindestens dreimal die Woche dort aufschlägst. Bienenstich und Cappuccino gehen immer, nicht?“
Braunagel grinste kopfschüttelnd zu seinem Kollegen hinüber. Schwarz kannte seine Schwäche für Bienenstich und Cappuccino, zu der sich zugegebenermaßen auch eine gewisse Sympathie für die ‚nette Kleine‘ hinter der Theke gesellt hatte.
Simone war geschätzte dreißig Jahre jung, dunkelhaarig mit einem frechen Pferdeschwanz, nicht ganz schlank, und reichte Braunagel gerade mal bis zur Schulter. Sie arbeitete seit einem halben Jahr in seinem Lieblingscafé, und er mochte es einfach, wenn sie da war. Seit der Trennung von seiner Ex hatte er jeglichen Kontakt zum anderen Geschlecht gemieden, der auch nur andeutungsweise über seine beruflichen Interessen hinausgegangen wäre. Er hatte zwar bemerkt, dass Simone ihn immer besonders freundlich und aufmerksam bediente, wusste aber nicht so recht, ob er sich das nur einbildete, oder ob sie tatsächlich ihn meinte. Und wenn ja, wie sie das meinte.
„Ich sagte ‚Essen‘. Ich mag jetzt keinen Bienenstich. Mir ist nach irgendwas Handfestem zumute. Was ist jetzt: Gehst du mit?“
„Klar. Vermutlich brauchst du jemanden, dem du deine Gedanken zu der Toten in die Tischdecke sticken kannst. Ich schlage vor, wir gehen zu Angelo.“
„Zu Angelo?“ Braunagel war schon fast an der Tür.
„Ja. Weil der Tischdecken aufgelegt hat.“
Seine Blicke tasteten über ihren nackten Rücken, streichelten über ihre Pobacken, und vergruben sich an der Stelle zwischen ihren leicht geöffneten Schenkeln, in der er sich vor wenigen Minuten völlig verloren hatte.
„Was bin ich für dich?“ Sie drehte sich von ihm weg, griff nach dem halb gefüllten Weinglas auf dem Nachttisch und trank einen Schluck. „Ich meine, außer zu alt.“
„Zu alt bist du nicht für mich“, antwortete er verstimmt. „Darüber haben wir jetzt oft genug diskutiert. Warum müsst ihr Frauen immer so viel fragen?“
„Weil ihr Männer uns sonst nicht sagen würdet, was wir wissen wollen.“
„Was ihr wissen oder was ihr hören wollt?“, fragte er zurück.
„Beides.“
„Uns Männern stellen sich solche Fragen einfach nicht.“
„Klugscheißer.“
Als er die Augen schloss, streichelten ihre Hände in zarten, kreisenden Bewegungen über seine Brust. Sie wusste, er liebte es, wenn sie ihn so berührte, und dass er sich nicht bewegte, weil er befürchtete, dass sie dann aufhören würde. Ihre Hände glitten über seine Haut, beschrieben Kreise und Bögen, bewegten sich langsam nach außen. Behutsam strichen sie an beiden Seiten entlang hinunter bis zu den Füßen, an der Innenseite seiner Beine zurück. Er stöhnte leise, als ihre Hände ihn über den Bauch bis zu den Brustwarzen massierten. Sie hatte sich über ihn gebeugt, berührte leicht mit den Lippen die Härchen auf seiner Brust, die sich vorwitzig aufgerichtet hatten.
„Hör einfach nicht auf“, vibrierte seine Stimme.
„Hatte ich auch nicht vor.“
Ihre linke Hand bewegte sich langsam wieder nach unten, fand die Stelle, an der sie ihn am meisten erregen konnte, spielte mit ihm, reizte ihn, umfasste ihn, während ihre Zunge sanft seine Brustwarzen umkreiste. Plötzlich explodierten alle seine Nerven auf einmal.
Sie fing ihn auf, als er leise aufschrie, sein Körper sich ihr entgegen bog, sich in ihre Hand ergoss, küsste seine Lippen, biss zart in seine Mundwinkel, zog sich vorsichtig zurück, als er sich wieder entspannte.
Er lag lange nur da, mit ihrem Kopf an seiner Schulter. Seine Hand lag auf ihrem nackten Rücken und sie genoss die Wärme seiner Haut.
***
Als sie erwachte, war der Platz neben ihr leer. Julia stieg in die Dusche, drehte den Hahn auf, ließ das Wasser so heiß es ging über ihren Körper rinnen, spülte die Erinnerung an seine Berührungen weg.