Das Buch

Berlin, in einer schwülen Sommernacht. Gerade hat sich Lara ihren Traum vom eigenen Café erfüllt, da wird sie auf dem Heimweg von einem Fremden überfallen. Er bedroht sie mit einem Messer und zwingt sie in ein Auto. Lara kann sich mit Müh und Not retten und kommt mit einer Schnittwunde davon.

Am nächsten Morgen steht die Polizei vor Laras Tür. Sie kann Laras Verletzung dem Tatmuster eines brutalen Serienmörders zuordnen, der in der Stadt sein Unwesen treibt. Die Polizei rät ihr unterzutauchen. Doch wie kann Lara ihr Leben so einfach hinter sich lassen? Dann spricht der Killer eine deutliche Warnung aus: Er verwüstet ihr Café und schreibt »Ich krieg dich, Nutte!« an die Wand.

Sechs Jahre später. Lara ist nach Rügen gezogen und hat ein neues Leben begonnen, weit weg von Berlin, weit weg von ihrem alten Leben. Und von dem Mann, der sie töten wollte. Oder vielleicht doch nicht?

Die Autorin

Hanna Winter wurde in Frankfurt am Main geboren und arbeitete nach dem Publizistik-Studium als Redakteurin. Heute lebt sie als freie Autorin in Berlin.

Von Hanna Winter ist in unserem Hause bereits erschienen:

Die Spur der Kinder

Hanna Winter

STIRB

Thriller

Ullstein

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Originalausgabe im Ullstein Taschenbuch

1. Auflage September 2011

© Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2011

Umschlaggestaltung: ZERO Werbeagentur, München

Titelillustration: © Artwork HildenDesign unter Verwendung eines Motivs von © plainpicture/BY

Satz und eBook: LVD GmbH, Berlin

ISBN 978-3-8437-0058-0

»Das Böse trifft stets die Anderen«

(Sprichwort)

Prolog

Berlin. An einem kühlen Apriltag 2005 …

Das Warten erschien ihm von Minute zu Minute unerträglicher. Sein Herz raste vor Verlangen. Doch er zwang sich, die Vorfreude auf ihren nackten, entstellten Körper zu zügeln und sich auf das Bevorstehende zu konzentrieren.

Er lehnte an der Tür seines Campingbusses, zog nervös an seiner Zigarette und ließ seinen Blick ziellos über die heruntergekommenen Hausfassaden schweifen.

Noch einmal rief er sich jenen Freitagnachmittag vor sechs Wochen in Erinnerung, an dem Franziska Hoffmann in dem Schnellrestaurant am Alexanderplatz seine Bestellung entgegengenommen hatte. Hoffmann war das, was man als graue Maus bezeichnete. Doch in ihm hatte sie von der ersten Sekunde an jenes immer wiederkehrende Bild hervorgerufen, das ihm sagte: Sie wird die Richtige sein. Wird die Nächste sein …

»Hallo? Möchten Sie etwas bestellen?«, hatte sie ihn zum wiederholten Male gefragt, während er geistesabwesend auf das Namensschild über ihrer Brust gestarrt und sich hinter ihm bereits eine Schlange gebildet hatte.

Im Nachhinein hatte er sich gefragt, ob er sich das nur eingebildet hatte oder ob sich sogar die Stimmen ähnelten …

Von jenem Tag an war er Franziska Hoffmann auf Schritt und Tritt gefolgt. Er hatte angefangen, ihren Tagesablauf zu studieren. Ihre Hobbys und Gewohnheiten. Hatte sie im Fitness-Studio beobachtet. Kannte ihr Elternhaus. Ihren Freundeskreis. Hatte ihre Post aus dem Briefkasten gefischt und ihren Müll durchsucht. Er wusste, welche Zeitschriften sie las und bei welchem Pizzaservice sie bestellte, welches Parfum sie benutzte, welches Hundefutter sie kaufte, welche Nassrasierer, Slipeinlagen und Kondome sie benutzte. Und er wusste, dass sie an diesem Tag um Viertel nach zwei von ihrer Frühschicht im Virchow-Krankenhaus kommen würde. Wie immer würde sie ihren Zwergpinscher ausführen, bevor sie ihren Nebenjob im Schnellrestaurant antrat.

Der abgelegene Parkplatz, auf dem er seinen Bus im Schutz eines Bauschuttcontainers abgestellt hatte, lag ganz in der Nähe von Franziska Hoffmanns Wohnung.

Und auf ihrem Rückweg von der Hundewiese.

Der Mann warf einen weiteren Blick auf die Uhr und holte tief Luft, als ein Kläffen ihn aus den Gedanken riss. Augenblicke später bog Franziska Hoffmann um die Ecke. Mit seinem Stiefel trat er die Zigarette aus, zog seine Baseballkappe tief ins Gesicht und begann am Fahrradträger des Campingbusses herumzuwerkeln.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass sie das marineblaue Kleid trug, das er schon einmal an ihr gesehen hatte. Es betonte ihre schmalen Hüften und stand ihr ausgesprochen gut. Ihre schulterlangen haselnussbraunen Haare wehten im aufkommenden Wind, und es waren nur noch wenige Meter, bis die junge Frau den Parkplatz erreichen würde.

Die Show konnte beginnen.

Der Mann täuschte einen heftigen Hustenanfall vor, rang nach Luft, bis ihm das Blut in den Kopf schoss und seine Adern an Hals und Stirn hervortraten. Sein Ächzen steigerte sich zu einem hilflosen Röcheln. Er lehnte mit der Schulter an dem Bus, fuhr mit der Hand in die Bauchtasche seines Anoraks und umfasste das Messer. »O Gott, mein Herz! Mein HERZ!«, keuchte er und fasste sich an selbiges, als wollte er es sich aus der Brust reißen.

Als ihn die junge Frau bemerkte, zögerte sie keine Sekunde und eilte ihm zu Hilfe.

Natürlich tat sie das, hatte sie doch keinen Grund, es nicht zu tun. Sie war Krankenschwester, es war helllichter Tag, der Parkplatz lag nicht einmal hundertfünfzig Meter von ihrer Wohnung entfernt. Und nicht zuletzt ging es hier um ein Menschenleben.

Um ein Menschenleben!

Wie hätte sie auch ahnen können, dass es um ihr eigenes ging?

»Um Himmels willen, ist Ihnen nicht gut?« Neben ihr kläffte der Zwergpinscher. »Soll ich einen Krankenwagen rufen?«

Statt einer Antwort brachte der Mann nur ein heiseres Keuchen heraus, schien das Gleichgewicht zu verlieren und taumelte dicht an Franziska Hoffmann heran. Diese zückte ihr Handy, um die Nummer des Notrufs zu wählen. Doch das wusste er durch eine weitere dramatische Herzattacke, bei der er sie so heftig anrempelte, dass ihr Handy zu Boden fiel, gerade noch zu verhindern. Gäbe es einen Oscar für den besten Herzanfall, er hätte ihn sicher verdient.

Danach ging alles ganz schnell. Scheinbar mit dem Tod ringend, schlang er seinen linken Arm um die schmächtige Frau, als wolle er sich auf sie stützen. Mit seiner Rechten stach er blitzschnell zu. Einmal. Zweimal. Direkt in die Magengrube.

Franziska Hoffmann brach sofort in sich zusammen.

Für einen entfernten Beobachter muss es ausgesehen haben, als krümme sie sich unter der Last seines Gewichts. Und ehe sie sich’s versah, hatte er sie bereits in seinen Campingbus gezerrt.

***

Momente später kauerte die zierliche Frau, keuchend vor Schmerz und an Händen und Füßen mit einer starken Kordel gefesselt, auf dem mit heller LKW-Plane bespannten Bett. Es befand sich im hinteren Teil des abgedunkelten Busses, in dem neben Fläschchen mit verschiedenen Chemikalien unzählige Klosteine verstreut lagen. Sie sollten den Geruch von Angst und geronnenem Blut mit einem beißenden Zitrusgeruch übertünchen.

Der Mann sank dicht neben die junge Frau auf das Bett.

»Nein, b-bitte tun Sie mir nichts!«, flehte die Krankenschwester. Ihre Stimme zitterte so stark, dass die Worte kaum zu verstehen waren.

Dünne Lichtstrahlen sickerten vereinzelt durch die zugeklebten Fenster, gerade ausreichend, um seine neueste Errungenschaft in Augenschein zu nehmen. Noch stand sie zu sehr unter Schock, um den Schmerz wahrzunehmen.

Aber das sollte sich schon bald ändern …

Der Mann schob den winzigen Pinscher, der ihnen in den Bus gefolgt war, mit dem Messer brutal beiseite, so dass dieser winselnd aus dem Campingwagen schnellte.

Dann schloss er die Tür. Franziska Hoffmann lag vollkommen starr auf dem Rücken. Ihr Atem ging stoßweise. Der Stoff ihres marineblauen Kleids färbte sich rund um die Einstichstellen dunkel, fast schwarz. Das Blut rann in feinen Bahnen über die Plane.

Gott, wie sehr er diesen Anblick liebte! Dieses Gefühl unendlicher Macht, die er über dieses kümmerliche Leben besaß. Er hoffte inständig, keine Hauptschlagader getroffen zu haben – das hübsche Fräulein Hoffmann sollte noch etwas durchhalten und ihm keinesfalls zu früh wegsterben.

»Bitte! I-ich habe kein Geld bei mir!«, keuchte sie. Kopfschüttelnd lachte der Mann. Warum dachten eigentlich immer alle, es ginge ihm ums Geld? »Pschhhh … ganz ruhig!«, hauchte er ihr ins Ohr, griff ihr ins Haar, schlang es sich um seine Faust und setzte ihr die scharfe Klinge an die zierliche Kehle. Übte leichten Druck auf ihre Haut aus, gerade so viel, dass die Klinge noch nicht einschnitt. »Ein Mucks und du bist tot, verstanden?«

Sie nickte zaghaft.

»Wenn du tust, was ich dir sage, wird dir nichts geschehen …«

Irgendwie glaubten sie ihm das immer, was die Sache erheblich erleichterte.

Wieder ein leichtes Kopfnicken.

»So ist gut … meine süße, kleine Franziska«, sprach er leise, fast flüsternd und sog den Geruch ihrer frisch gewaschenen Haare ein. Er spürte, wie sein Puls zu rasen begann, während die Klinge seines Messers ganz langsam den Hals der Frau hinabfuhr. Über ihr Dekolleté streifte.

Stumme Tränen liefenFranziska Hoffmanns Wangen hinab, während sie die Augenlider so fest aufeinanderpresste, dass sich ihr ganzes Gesicht verzerrte. Sie zitterte am ganzen Leib, als er mit dem Messer über ihren flachen Bauch fuhr … unter ihren Rock. Die Frau zuckte zusammen, als er ihre schwarzen Nylons zerschnitt. Den zarten Stoff ihres Slips.

»Schon mal von einem Messer gefickt worden?« Er stierte in ihre weit aufgerissenen Augen.

»Nein! BITTE! Bitte nicht!«, krächzte sie. »Ich flehe Sie an, lassen Sie mich gehen – ich werde Sie auch ganz bestimmt nicht verraten!«

Seine Lippen umspielte ein süffisantes Grinsen. »Was du nicht sagst …« Er liebte dieses herrliche Spiel mit der Angst und hätte es noch ewig weiterspielen können, doch es war höchste Zeit, zu verschwinden. Er durfte kein Risiko eingehen, hatte sich hier ohnehin schon viel zu lange aufgehalten. Und so zwang er sich, vernünftig zu sein und sich noch eine Weile zu gedulden, ehe er mit seiner Prozedur beginnen würde.

Er legte das Messer weg und verschloss ihr mit einem breiten Klebebandstreifen den Mund. Eine reine Vorsichtsmaßnahme, da Franziska Hoffmann ohnehin nicht geschrien hätte. So wie die meisten, die die Hoffnung bis zuletzt nicht aufgaben, doch noch mit dem Leben davonzukommen, wenn sie gehorchten.

Dann tauschte er seine blutbespritzten Klamotten gegen ein frisches T-Shirt und eine saubere Jeans und ging nach vorn zur Fahrerkabine, die durch einen Vorhang abgetrennt war.

Mit dem zufriedenen Lächeln eines treusorgenden Familienvaters lenkte er den Bus auf die Straße und steuerte jenen Ort an, an dem er sich Franziska Hoffmann in den nächsten Tagen ungestört widmen konnte, bevor er sie der Öffentlichkeit präsentierte.

***

Zwei Monate später.

Freitagabend, 3. Juni …

Das kleine Café am Ende der Mulackstraße war brechend voll. Ein eigenes Café zu besitzen war schon immer Laras Traum gewesen.

Nach der Trennung von Raffael sollte es ihrem Leben wieder einen Sinn geben. Sie vor neue Herausforderungen stellen.

Die Eröffnungsparty war Torbens Idee gewesen. Er war Gerichtsmediziner an der Berliner Charité und ihr bester Freund. Ihre bessere Hälfte, wie sie manchmal scherzhaft sagten. Und seit dem Tod ihrer Eltern ihr einziger Vertrauter.

Während Lara sich fragte, ob er auch Raffael eingeladen hatte und dieser auch kommen würde, lenkte sie sich mit belanglosem Smalltalk über die zunehmende Sanierung der Stadt ab, sagte »Hallo, schön, dass Sie gekommen sind« zu ankommenden Gästen, sagte »Ach wirklich? Klingt ja interessant« zu denen, die bereits da waren, und »Danke fürs Kommen« zu jenen, die sich verabschiedeten.

Unwillkürlich zog es ihren Blick dabei immer wieder zum Eingang. Gerade so, als ob Raffael doch noch kommen würde, wenn sie nur oft genug zur Tür starrte.

Er kam. Er kam spät, aber er kam. Und er kam allein, was Lara mit immenser Erleichterung zur Kenntnis nahm.

Rasch wandte sie sich ab, als habe sie ihn nicht bemerkt.

»Hallo, Lara, wunderschön siehst du aus«, begrüßte er sie, als er Augenblicke später in Jeans und einer dünnen Lederjacke hinter ihr stand.

Nun, da ihr Exmann gesagt hatte, was sie hören wollte, wünschte sich Lara nichts lieber, als dieses verflucht enge, schulterfreie Kleid, das er immer so gerne an ihr gesehen hatte, gegen ein weites T-Shirt und eine bequeme Jeans einzutauschen. Selbst nach so vielen Jahren wollte sie ihn immer noch beeindrucken.

»Sieh an, du hast es also noch geschafft«, gab Lara die Überraschte.

»Alles Gute für dich und dein Café«, sagte er und reichte ihr einen Strauß Blumen.

Chrysanthemen. Er wusste es immer noch. Als sie noch ein Paar waren, hatte er ihr jeden Freitag einen Strauß mitgebracht; später nur noch an jedem zweiten oder dritten. Und irgendwann gab es gar keine Sträuße mehr.

»Danke«, sagte Lara und roch an den Blumen. »Wie wär’s mit einem Glas Sekt?«

»Nur deshalb bin ich hier«, meinte Raffael grinsend und spähte zu dem attraktiven Kellner, der mit einer Zigarette im Mund untätig hinter der Theke stand und jetzt zu ihnen herüberstarrte. »An deinem Personal solltest du allerdings noch arbeiten – es sei denn, deine Gäste sollen verdursten. Aber, lass nur, ich hole uns zwei Gläser«, stichelte er und verschwand in der Menge, ehe Lara etwas entgegnen konnte.

»Alles in Ordnung?«

Die Frage stellte Torben Landsberg.

»Sicher«, seufzte sie.

»Hehe, lass dich nicht wieder auf die alten Spielchen ein, heute ist dein großer Abend«, meinte Torben, ihrem Blick zu Raffael folgend. »Sieh dich um, die Leute amüsieren sich prächtig – und du solltest das auch!«

Lara bemühte sich zu lächeln. »Immerhin hat er den Anstand besessen, alleine zu kommen, ohne diese … diese …«

»Ach was, die ist doch längst Schnee von gestern«, entgegnete Torben, der genau wie Lara stets ein Händchen für den falschen Mann und unglückliche Liebschaften bewiesen hatte.

Nach ihrer Scheidung von Raffael war Torben für sie mehr denn je der Mann mit der starken Schulter zum Ausweinen gewesen.

»Apropos Spaß …«, grinste er und sah verzückt zur Theke. »Wer ist dieser hübsche Kerl mit der Schürze?«

»Ach, das ist nur Daniel.« Die Tatsache, dass er sie noch immer anstarrte, wurde ihr allmählich unheimlich. »Meine Aushilfe.«

Torben schmunzelte. »So, so. Von dem würde ich mich auch gern mal bedienen lassen …«

Lara unterdrückte ein Grinsen. »Vorsicht, an dem verbrennst du dir die Finger – Daniel ist stockhetero.«

»Hm, zu schade … Kennst du ihn schon länger?«

»Nö«, flunkerte sie. Gute Freunde erzählen sich zwar vieles, aber eben nicht alles.

»Du hast diesen Daniel aber nicht zufällig eingestellt, um Raffael eifersüchtig zu machen?«

»Nein, nein, Daniel hat sich erst vor ein paar Tagen um die Stelle beworben. Und …« 

»Und da dachtest du, zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen kann nie schaden.«

»Bin ich wirklich so durchschaubar?« Lara lachte und sah wieder zu Raffael, der sich inzwischen mit einer kleinen Blonden unterhielt, die ungefähr halb so alt war wie er.

Da hätte ich ja lange auf meinen Sekt warten können.

Sie fragte sich, ob Raffael es darauf anlegte, sie zu provozieren, als Torben plötzlich ein in buntes Papier eingeschlagenes Geschenk hinter seinem Rücken hervorholte. »Taraaa, das ist für dich!« Er nahm Lara die Blumen ab, während sich auf ihrem Gesicht ein erwartungsvolles Grinsen ausbreitete und sie das Papier aufriss.

»Ein Elektroschocker?« Sie lachte laut auf, als sie bemerkte, dass Torbens makabres Präsent die Blicke der umstehenden Partygäste auf sich gezogen hatte.

»Falls das eine Warnung sein soll, mich vor dir in Acht zu nehmen …« 

»Vor mir? Vielleicht, wenn du ein Kerl wärst …«, wandte er scherzhaft ein und wartete vergeblich darauf, dass Lara sein Lächeln erwiderte. »Ich dachte, dir als frischgebackener Café-Besitzerin kann so ein Ding nicht schaden – schließlich weiß man nie, wer da so hereingeschneit kommt … Und dann diese schrecklichen Morde in letzter Zeit«, murmelte er kopfschüttelnd. »Erst der grausam zugerichtete Leichnam dieser Rechtsanwältin, dann die Flugbegleiterin und zuletzt noch die junge Krankenschwester … Hast sicher davon gehört, aber glaub mir, ich hatte die Damen auf meinem Seziertisch, und der Anblick war alles andere als …« Lara brachte ihn mit einem strengen Blick zum Schweigen. »Jeder in Berlin hat davon gehört, Torben. Aber das ist kein Thema für den heutigen Abend.«

Er biss sich auf die Unterlippe. »Ups, sorry, ich vergesse wohl manchmal, dass das kein Party-Thema ist.«

Lara bedankte sich mit einer Umarmung für den Elektroschocker und ließ diesen mit einem Lächeln in ihrer Handtasche hinter dem Tresen verschwinden, während die umstehenden Gäste ihre Gespräche wieder aufnahmen. »Was soll’s, lass uns anstoßen«, meinte Lara und winkte Daniel heran. »Trinken wir auf das Café und darauf, dass ich dein kleines Präsent niemals brauchen werde.«

Daniel war gerade dabei, die Gläser zu füllen, als Lara ihren Vermieter in der Menge auf sich zusteuern sah. Die Glatze so rot wie die Karos auf seiner Krawatte, die er schon bei Vertragsunterzeichnung getragen hatte. Fast hätte Lara vergessen, dass sie ihn eingeladen hatte.

»Guten Abend, Frau Simons.«

»Herr Eberts, schön, dass Sie kommen konnten.« Lara schüttelte seine ausgestreckte Hand und wollte ihn gerade mit Torben bekannt machen, da blieb Daniel mit einem Tablett Sektgläser neben ihnen stehen. »Lara, kann ich dich mal kurz in der Küche sprechen?«

»Äh, ja klar«, meinte sie und unterdrückte ein Seufzen, als ihre Augen unwillkürlich über Daniels Schulter hinweg zu Raffael und der Blonden huschten. Achtzehn. Höchstens neunzehn.

»Moment bitte.« Sie ließ Eberts und Torben stehen und schlängelte sich hinter Daniel an den umstehenden Gästen vorbei Richtung Küche.

»Oh, Lara …« Raffael sprach sie im Vorbeieilen an und streckte ihr schuldbewusst ein Glas Sekt entgegen.

»Nein, danke. Deinen abgestandenen Sekt kannst du behalten.« Sie klang hörbar gereizt. Und mehr um ihm die Tour zu vermasseln, fragte sie: »Ach, bevor ich’s vergesse, könntest du Emma am Montag von der Schule abholen? Ich krieg das mit dem Café nicht unter einen Hut.«

Raffael musste schmunzeln. Kurz überlegte er, was er darauf antworten sollte. »Was soll ich?«

»Ob du unsere Tochter am Montag von der Schule abholen könntest«, wiederholte sie so laut, als hätte sie es mit einem Schwerhörigen zu tun.

»Nein, nein – das Wort meine ich.«

Sie hasste ihn. »Ob du sie bitte abholen könntest.«

Er lächelte. »Na, wenn du mich so nett fragst …«

Lara schenkte ihm ein bissiges Grinsen und warf einen flüchtigen Blick auf das Blondchen, das mit glühenden Wangen zwischen ihnen stand.

»Vielleicht gehen sie ja auf dieselbe Schule, dann kannst du gleich beide nach Hause fahren.« Raffael schob das Kinn vor und grinste blöd. Kaum hatte Lara die Tür zum Gastraum hinter sich zugezogen und sich umgedreht, stand wie aus dem Nichts Daniel vor ihr.

»Kannst du mir mal verraten, was dein Ex hier verloren hat?«, fragte er aufgebracht.

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht«, sagte Lara, nahm eine Vase aus dem Schrank und stellte die Chrysanthemen hinein, die Torben für sie in die Küche gebracht hatte.

Mit jovialem Lächeln trat Daniel dicht an sie heran.

»Du willst mir unbedingt die kalte Schulter zeigen, was?« Lara wollte ihm gerade ausweichen, da presste er sie plötzlich gegen die Tür und versuchte, sie zu küssen. Mit einer Hand betatschte er ihre Brust, mit der anderen fuhr er ihr in den Schritt.

Lara schlug seine Hände weg.

»Mach das nie wieder!«

»Sonst hat es dir doch auch gefallen …«

Es klopfte an der Tür.

»Lara?«

Torben.

Lara funkelte Daniel wütend an, bis dieser zurückwich.

»Bin gleich da!«, rief sie durch die Tür.

Sie strich ihr Kleid glatt und hörte, wie sich Torbens Schritte wieder entfernten.

»Mach, dass du wegkommst!«, fauchte sie Daniel an. »Und lass dich hier bloß nicht mehr blicken!«

Er warf ihr seine schwarze Schürze vor die Füße.

»Na schön, ganz wie du willst …« Mit ausdrucksloser Miene steckte er sich eine Zigarette an, ließ das brennende Streichholz auf einen Stapel Papierservietten fallen und lief wortlos zur Hintertür hinaus. Die Servietten fingen sofort Feuer.

»Bist du jetzt vollkommen übergeschnappt!«

Blitzschnell nahm Lara die Vase und goss das Blumenwasser auf die Flammen, bevor diese auf die Holzschränke und den danebenstehenden Karton mit dem Kaffeeautomaten übersprangen. Erst nachdem sie einen ganzen Kanister Wasser darüber ausgeschüttet hatte, gelang es ihr, das Feuer zu löschen. Sie hastete in den Hinterhof und sah im hereinfallenden Licht der umliegenden Wohnungen gerade noch, wie Daniel durch das Gatter zur Straße verschwand.

»Scheißkerl!«, brüllte sie ihm nach und bemerkte, dass sie vor Wut zitterte. Lara lief wieder hinein, schlug die Tür hinter sich zu und lehnte sich keuchend dagegen.

Es dauerte eine ganze Weile, ehe sie sich wieder beruhigt hatte und bereit war, zurück auf ihre Party zu gehen.

Die Hintertür schloss sie sicherheitshalber zweimal ab.

***

Noch in derselben Nacht …

Stunde um Stunde hatte er schon im Schutz der Dunkelheit hinter dem Steuer des Taxis gesessen und wie ein lauerndes Tier in das Café auf der gegenüberliegenden Straßenseite gespäht. Der bloße Anblick von Lara Simons beschleunigte seinen Puls. Seit Wochen schon verfolgte ihn wieder dieses unsägliche Verlangen, dunkel und zugleich sternenklar wie diese Juninacht.

Gott, wie lange hatte er schon auf diesen Abend gewartet! Sein schweißnasses Unterhemd klebte an seinem Rücken. Er sank im Sitz zurück und spürte, wie sein Schwanz in seiner engen Jeans hart wurde, während er mit dem Zeigefinger über das Messer fuhr und bereits bildlich vor Augen hatte, wie er damit Laras schwarzes, schulterfreies Kleid aufschlitzte. Zitternd würde sie vor ihm liegen, an Händen und Füßen festgeschnallt. Würde um ihr Leben betteln, so wie es bisher noch alle getan hatten.

Nach einigen Tagen würde er die Schlampe dann von ihren Qualen erlösen und ihr den wohlverdienten Todesstoß versetzen. Am Montagmorgen würden die ersten Kunden dann vor verschlossenen Ladentüren stehen. Freunde und Bekannte würden sich allmählich um die spurlos verschwundene Lara Simons sorgen und mutmaßen, ihr sei vielleicht doch alles über den Kopf gewachsen.

Nach den obligatorischen achtundvierzig Stunden würde auch die Polizei mit der Suche beginnen. Dort ginge man, anhand der Indizien, die er ihnen zum Fraß vorwerfen würde, schließlich von einem Gewaltverbrechen aus. Eine Annahme, die sich wenige Tage später bestätigen würde, nachdem man ihren verstümmelten Leichnam an einem Ort seiner Wahl vorgefunden hätte.

Mit leuchtenden Augen sah er die Schlagzeilen in der Presse vor sich … Da öffnete sich die Tür zum Café.

Ein junger Mann verließ mit einer aufgedonnerten molligen Frau an der Hand die Party und entschwand einige Meter weiter in die Nacht.

Wieder zwei Gäste weniger.

Inzwischen kratzte die Perücke, die er unter seiner Baseballkappe trug, so sehr, dass er fast wahnsinnig wurde. Er ließ das Messer in der Bauchtasche seines Kapuzenpullis verschwinden, zündete sich die elfte oder zwölfte Zigarette an und ging im Kopf ein letztes Mal die nächsten, alles entscheidenden Schritte durch. Denn in der Routine lauerte die Nachlässigkeit und in der Nachlässigkeit lauerten Fehler – niemand wusste das besser als er.

Zu viel stand für ihn auf dem Spiel, als dass er sich auch nur den allerkleinsten Fehler erlauben durfte. Er schloss die Augen und trommelte aufs Lenkrad, als es plötzlich an der Scheibe pochte. Im Augenwinkel erkannte er die Silhouetten zweier Gestalten. Der Mann und die Mollige. Reflexartig zog er seine Baseballkappe tiefer ins Gesicht und rauchte seelenruhig weiter. Erst nach einem erneuten, heftigeren Klopfen drückte er die Zigarette in der Mittelkonsole aus und ließ die Scheibe ein Stück weit herunter.

»Entschuldigung, sind Sie frei?« Der junge Mann stützte sich mit einer Hand am Dach des Mercedes ab und beugte sich mit einem breiten, einnehmenden Zahnpastalächeln zum offenen Fenster hinunter.

»Nein, bin ich nicht.«

»Wirklich nicht? Ihr Taxilicht ist an, und da dachte ich …«

»Bist du taub? Ich hab NEIN gesagt! NO! NIENTE! Und jetzt sieh zu, dass du Land gewinnst!«

Nach Luft schnappend, riss der junge Mann die Hände hoch, als richte man eine Pistole auf ihn.

»Okay, okay!« Er nahm die Mollige bei der Hand und zerrte sie fluchend davon.

Weise Entscheidung …

Kaum waren die beiden an der nächsten Straßenecke verschwunden, starrte der Mann wieder zum LARAs hinüber. Nur noch eine Handvoll Gäste leerte die letzten Gläser. Bald sind auch die weg, dann wird die Schlampe ihren Laden absperren und sich auf den Heimweg machen. Er leckte sich die Lippen und fuhr sich mit der Hand in den Schritt.

Lange kann es nicht mehr dauern.

***

25 Minuten später …

Lara löschte das Licht. Sie schloss die Eingangstür zum LARAs hinter sich ab und trat auf die Straße, als Torben plötzlich hinter ihr stand. »Wo kommst du denn jetzt her?«, fragte sie überrascht. Torben hatte schon vor einiger Zeit das Café verlassen. Sie war davon ausgegangen, dass er genug von dem ganzen Trubel hatte.

»Bloß ein bisschen frische Luft schnappen, war ziemlich stickig da drin«, meinte er mit einer fächernden Handbewegung und machte ein besorgtes Gesicht. »Ich hab doch gesagt, ich lass dich nach der Aktion von diesem Daniel nicht allein nach Hause gehen.«

Er legte den Arm um Lara, und sie gingen ein paar Schritte die Straße entlang.

»Ist dieser Kerl noch mal aufgetaucht?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Wäre ja noch schöner …«

»Ts, so kann man sich täuschen«, seufzte Torben. »Dieser Typ hat echt ’ne gewaltige Schraube locker. Hast du keine Angst vor dem? Ich meine, der ist doch unberechenbar. Wenn du willst, sorge ich dafür, dass mein Anwalt …« 

»Ach, lass mal …«, unterbrach Lara ihn und winkte ab.

Im trüben Lichtkegel einer Laterne blieb Torben kurz stehen.

»Du kennst ihn also doch näher, was?«

Schnaubend sah Lara auf.

»Ja, ja, schon gut«, sagte Torben schnell, »musst ja nicht drüber reden, wenn du nicht willst …«

Für eine kurze Weile liefen sie schweigend nebeneinanderher.

»Mach dir keine Sorgen, von diesem Zwischenfall in der Küche hat niemand etwas mitbekommen. Und davon einmal abgesehen, war deine Eröffnungsparty ein voller Erfolg«, durchbrach Torben die Stille. »Und dein Café wird es auch.«

Unsicher lächelte Lara.

»Meinst du wirklich?«

»Klar, wirst schon sehen – sobald am Montagmorgen der erste Espresso gebrüht wird, stehen die Leute Schlange.«

»Das hoffe ich. Immerhin stecken da meine gesamten Ersparnisse drin. Von den Krediten ganz zu schweigen …«

Torben kniff sie in die Seite.

»Hey, hey! So kenne ich meine toughe Kämpferin ja gar nicht. Du lässt dich doch sonst nicht so leicht unterkriegen …«

»Mein Wagen steht gleich da hinten …«, wechselte Lara seufzend das Thema, »… ist lieb gemeint, aber wirklich nicht nötig, mich nach Hause zu begleiten.«

»Sicher?«, fragte Torben. »Nein, nein, ich komme besser mit.«

»Ach was, ich komm schon klar«, bekräftigte Lara und kramte ihren Autoschlüssel aus der Handtasche.

»Na schön, wie du meinst«, sagte er schließlich.

»Kann ich dich irgendwo absetzen?«

Torben sah an sich herunter und tätschelte den kleinen Bauchansatz, der sich unter seinem T-Shirt abzeichnete. »Danke, aber die paar Meter gehe ich zu Fuß, ein bisschen Bewegung kann mir nicht schaden.« Zum Abschied drückte er ihr einen Kuss auf die Stirn.

»Falls dieser Daniel sich doch noch melden sollte, dann –« 

»Dann rufe ich dich sofort an.«

Lächelnd nickte Torben.

»Braves Mädchen.«

Dann trennten sich ihre Wege.

»Ach, Lara …«, rief er ihr noch hinterher.

Lara drehte sich um.

»Und versprich mir, dass du heute Nacht keinen Gedanken mehr an Raffael verschwendest!«

»Raffael? Wer soll das sein?«, gab sie scherzhaft zurück und stieg in ihren metallicblauen Mini Cooper. Den Wagen hatte Raffael ihr bei der Scheidung aus schlechtem Gewissen überlassen. Als ob er seinen Vertrauensbruch damit wieder wettmachen könnte.

Verziehen hatte Lara ihm die Seitensprünge bis heute nicht, das Auto aber dennoch angenommen; schließlich war es nun an ihr, Emma zur Schule zu fahren.

Sie ließ den Motor an und lenkte den Mini aus der Parklücke. Jetzt, da die Anspannung allmählich von ihr wich, spürte sie, wie die Müdigkeit Besitz von ihr ergriff. Noch schnell eine Dusche und dann nichts wie ins Bett, dachte Lara, als sie Augenblicke später plötzlich ein schlappendes Geräusch vernahm.

Der Wagen begann zu holpern und zog zunehmend nach rechts, ganz gleich, in welche Richtung sie lenkte. »So ein Mist!« Lara hielt am Straßenrand und stieg aus. Sie ließ die Fahrertür offen stehen, lief um den Wagen herum und fluchte, als sie den platten Vorderreifen entdeckte. Hilflos blickte sie sich um, doch weit und breit war da niemand, der ihr bei einem Reifenwechsel behilflich sein konnte.

Als sie noch darüber nachdachte, ob sie Torben, Raffael oder den ADAC anrufen sollte, bog ein Taxi um die Ecke.

So was nennt man wohl Glück im Unglück.

Kurzerhand entschied Lara, den Reifenwechsel auf den nächsten Morgen zu vertagen, und winkte das Taxi heran. Sie nahm ihre Handtasche aus dem Mini, schloss ihn ab und stieg vorne ins Taxi ein, da die Rückbank von zwei wuchtigen Kindersitzen in Beschlag genommen wurde. Lara nannte dem Fahrer ihre Adresse und lehnte sich im knirschenden Ledersitz zurück. Einfach nur nach Hause.

Sie unterdrückte ein Gähnen, während sie mit halbgeöffneten Augen Straßenschilder und Ampellichter am Fenster vorbeifliegen sah.

»Fahren Sie doch bitte über die Invalidenstraße, das geht schneller«, bat sie, nachdem ihr aufgefallen war, dass sie einen Umweg fuhren.

Der breitschultrige Fahrer mit Baseballkappe und Kapuzenpulli erwiderte nichts.

»Am besten wenden Sie da vorne«, wies ihn Lara an.

Doch der Mann machte keinerlei Anstalten, umzudrehen.

Er schwieg einfach und fuhr geradeaus weiter.

Lara spürte, wie sich alles in ihr anspannte, doch sie befahl sich, ruhig zu bleiben.

»Haben Sie mich gehört? Sie fahren falsch!«

Möglicherweise verstand der Fahrer kein Deutsch oder er war schlichtweg nicht willens, sich von besserwisserischen Fahrgästen belehren zu lassen.

Doch spätestens als Lara im hereinfallenden Mondlicht bemerkte, dass der Mann mitten im Sommer lederne Handschuhe trug und das Taxameter nicht eingeschaltet war, bekam sie es mit der Angst zu tun.

»Anhalten, ich will auf der Stelle aussteigen!«, brüllte sie den Mann an und löste mit einer raschen Handbewegung ihren Gurt. Jegliche Müdigkeit war verflogen, und mit einem Mal begriff sie, dass auch die Kindersitze auf der Rückbank kein Zufall waren – er hatte gewollt, dass sie auf dem Beifahrersitz Platz nahm. Direkt neben ihm.

Nichts wie raus hier! Schnell! Panisch rüttelte sie am Türgriff, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Verdammt, Kindersicherung!

»ANHALTEN hab ich gesagt!«

Er würdigte sie keines Blickes. Kein Wort. Keine Geste. Nichts.

Plötzlich bog er in einen holprigen Pfad ein und steuerte geradewegs das stillgelegte Industriegelände am Nordhafen an. Keine Menschenseele weit und breit. Keine Straßenlaterne. Nur nachtschwarze Dunkelheit.

Laras Herz begann wie wild in ihrer Brust zu hämmern. Hier draußen würde niemand ihre Schreie hören. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen. Das Taxi erschien ihr mit einmal Mal unsagbar winzig und erdrückend eng. Sie umklammerte ihre Handtasche, als ihr unwillkürlich die entstellten Frauenleichen durch den Kopf schossen, über die Torben gesprochen hatte. Torben! Der Elektroschocker!

»Was … was wollen Sie von mir?« Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, drosselte der Mann das Tempo. Sie sah noch, wie seine Hand in die Türablage glitt, bevor er ihr urplötzlich eine Messerklinge an die Kehle hielt.

»Ein Mucks …«, flüsterte der Mann mit seltsam belegter Stimme, »… und du bist tot.«

Lara rührte sich nicht und wagte kaum noch zu atmen, während ihr die scharfe Klinge in die Haut zu schneiden drohte. Sie fuhren jetzt nur noch Schrittgeschwindigkeit, drangen immer weiter in die unbeleuchtete Industriebrache vor. Dann stoppte der Wagen. Das Scheinwerferlicht erlosch. Tausend Filme liefen gleichzeitig in Laras Kopf ab, während ihre Hand im Schutz der Dunkelheit unmerklich tiefer in ihre Handtasche fuhr. Jetzt!, schrie alles in ihr, und binnen Bruchteilen von Sekunden wich Lara zurück und zog den Elektroschocker aus ihrer Handtasche.

Doch just als sie dem Mann satte einhunderttausend Volt durch den Leib jagen wollte, war seine Klinge auf ihre Schulter abgerutscht. Lara schrie vor Schmerz, als sich die Klinge in ihr Fleisch bohrte und sie es mit letzter Kraft schaffte, ihm den Elektroschocker in die Seite zu rammen. Funken zischten durch die Dunkelheit, bevor ihr Peiniger das Messer endlich fallen ließ und ächzend in sich zusammensank.

Mit aller Gewalt rüttelte Lara am Türgriff. Doch wie zuvor waren ihre Mühen umsonst. Das Herz klopfte Lara bis zum Hals, als sie sich nach dem Mann umsah, der wie ein schlaffer Sack auf dem Sitz hing. Das Gesicht von der Kappe verschattet. Sie war sich nicht sicher, ob er tatsächlich weggetreten war – dennoch führte der einzige Weg aus diesem gottverdammten Taxi an ihm vorbei. Verdammt, wo ist sein Messer? Laras Augen schnellten durch den Wagen, doch es war zu dunkel, um irgendetwas zu erkennen. Sie nahm all ihren Mut zusammen und versuchte, mit dem Elektroschocker in der Hand über den Schoß des Mannes zu klettern.

Unmengen von Adrenalin schossen durch ihre Adern, während sie sich ganz vorsichtig an den erschlafften Gliedmaßen des Mannes vorbeizwängte. Lara erlaubte sich kaum noch zu atmen, bevor sie endlich die Tür erreichte, sich mit aller Kraft dagegenstemmte und es ihr schließlich gelang, sich aus dem Taxi zu befreien.

Schmerzerfüllt hielt sie sich die Schulter und stolperte orientierungslos durch das düstere Hafengebiet.

Es dauerte eine Zeitlang, ehe sie zurück zu dem Pfad fand, auf dem sie gekommen waren. Lara zwang sich, nicht zurückzuschauen und immer weiterzulaufen, als sie plötzlich stehen blieb. Meine Handtasche! In der Tasche waren ihre Hausschlüssel, ihr Handy und ihr Portemonnaie mit ihrem Ausweis und all ihren Personalien! Warmes Blut strömte ihr über die Finger, während sie zurück in die Richtung sah, aus der sie gekommen war. Kurz haderte sie mit sich. Aber schließlich verwarf sie den Gedanken, noch einmal zurückzulaufen, und schleppte sich keuchend weiter. Nach einer Weile, die ihr wie eine Ewigkeit vorkam, erkannte sie endlich die Lichter einer Tankstelle, an der sie Minuten später kraftlos zusammenbrach.

***

Samstagmittag, 4. Juni …

Eine grauenvolle Nacht lag hinter Lara. Der Schock der Ereignisse steckte ihr noch tief in den Knochen, und bei jeder Bewegung spannte und schmerzte die frische Naht an ihrer Schulter. Noch während sie in T-Shirt und Jeans mit Emma beim Frühstück saß, verfluchte sie sich dafür, dass sie sich von dem Arzt in der Charité nicht doch die stärkeren Schmerztabletten hatte verschreiben lassen.

Wie so oft hatte sie im Wohnzimmer gedeckt. Der Anblick von Raffaels leerem Platz am Küchentisch – sie konnte ihn noch immer nicht ertragen. Sie bestrich eine Scheibe Toast mit Butter, während ihre Augen über die Schlagzeilen der auf dem Tisch ausgebreiteten Berliner Zeitung wanderten. Erleichtert stellte sie fest, dass der Überfall auf sie mit keinem Wort erwähnt wurde.

Ein Skandal war das Letzte, was sie so kurz vor der Eröffnung des Cafés gebrauchen konnte.

Sie nippte an ihrem Kaffee und schaute gedankenverloren zu Emma, die vor dem Fernseher saß und beiläufig die Rosinen aus ihrer Schale Müsli pickte. Für gewöhnlich blieb die Flimmerkiste um diese Zeit aus, doch Lara hasste es, ihre Tochter anzulügen – und solange Emma selbstvergessen die Zeichentricksendungen im Kinderkanal verfolgte, würde sie wenigstens keine Fragen mehr zu Mamis Schulterverband stellen.

Lara schob die Zeitung beiseite und sah die Post durch. Rechnungen. Eine Einladung zu einer Vernissage. Prospekte. Und noch mehr Rechnungen. Doch sosehr sie sich auch bemühte, wieder Alltag einkehren zu lassen, überall tauchten die Buchstaben A. N. G. S. T. vor ihren Augen auf. Ein Gefühl, das sie auf keinen Fall zulassen wollte.

Sie hatte sich zur Wehr gesetzt. Sie war kein Opfer, redete Lara sich ein, als es im nächsten Moment an der Tür klingelte. Beunruhigt schaute Lara auf. Sie erwartete niemanden. Wie immer sprang Emma auf, um als Erste an der Tür zu sein.

»Schon gut, Schatz, setz dich wieder hin, heute geht Mami.« Lara stand auf und ging zur Tür. »Wer ist da?«, fragte sie durch die Gegensprechanlage.

Keine Antwort.

»Hallo?«

Wieder nichts.

»Mami, wer ist denn da?«, wollte Emma wissen, die ungeduldig neben der Tür stand.

»Niemand, Schatz, bestimmt nur Werbung.«

Plötzlich klopfte es oben an der Wohnungstür.

»Frau Simons?« Eine Männerstimme drang dumpf durch die Tür. »Sind Sie zu Hause?«

Lara warf einen Blick durch den Spion. Im Treppenhaus zwei Gesichter, die sie nicht kannte. Sie öffnete einen Spaltbreit die Tür, ohne die Sicherheitskette zu lösen.

»Sind Sie Frau Lara Simons?« Dieses Mal kam die Frage von der Frau im anthrazitfarbenen Trenchcoat. Sie war schätzungsweise Ende vierzig und damit ein paar Jahre älter als ihr Kollege.

»Und wenn es so wäre?«

»Ich bin Hauptkommissarin Sylvia Hausmann, Mordkommission Berlin.« Ein schräges Kopfnicken zu ihrem Kollegen in gutsitzendem Jackett, Jeans und Turnschuhen. »Mein Kollege Magnus Kern. Wir hätten da ein paar Fragen an Sie, wenn wir kurz reinkommen könnten?«

Lara ließ sich einen Dienstausweis zeigen, wie sie es in Filmen gesehen hatte. Nicht dass sie eine Ahnung davon hätte, wie so ein Ding auszusehen hatte. Davon abgesehen, hatte Torben ihr mal erklärt, konnte jeder, der ein paar Euro investierte, so eine Plastikkarte im Internet ersteigern.

Kurz dachte sie daran, Torben anzurufen, kam sich bei dem Gedanken schließlich aber doch albern vor.

Lara schloss die Tür, hakte die Kette aus und ließ die Polizisten herein.

Sylvia Hausmann trat als Erste ein. Ihre wachsamen Augen wanderten durch die Dachgeschosswohnung, die trotz einiger herumliegender Spielsachen ordentlich wirkte. Sonnendurchflutet und gemütlich.

»Wie geht es Ihnen?«, fühlte die Kommissarin sich mit einem Blick auf Laras Schulterverband bemüßigt zu fragen.

Lara seufzte und rang sich ein Lächeln ab. »Gut wäre wohl übertrieben …«

»Mama ist gestern gestürzt und hat eine riiiesige Wunde – die ist mindestens so groß!«, erzählte Emma mit weit auseinandergestreckten Händen. Lara schloss die Tür hinter den Beamten und strich Emma über den Kopf.

»Schatz, bist du so nett und spielst bitte in deinem Zimmer weiter?«

Die Kleine wusste, dass dies eine Aufforderung und keine Frage gewesen war, nahm murrend ihre Babypuppe und verzog sich ins Kinderzimmer.

Lara führte die Polizisten über den Flur in das von Dachschrägen durchzogene Wohnzimmer.

»Tja, dann nehmen Sie doch Platz.« Sie deutete auf die Couch und schaltete den Fernseher aus. »Kann ich Ihnen einen Kaffee oder einen Tee anbieten?«, fragte sie mehr der Form halber.

»Nein, nein, machen Sie sich wegen uns bitte keine Umstände«, entgegnete Magnus Kern nach einem Blick zum gedeckten Esstisch.

Der blonde Polizist mit den leicht abstehenden Ohren und den tiefblickenden, fast bernsteinfarbenen Augen war von jener Sorte Mann, die erst mit zunehmendem Alter zu Attraktivität gelangte.

»Laut Polizeibericht sind Sie unmittelbar nach der Messerattacke im Taxi zu einer nahe gelegenen Tankstelle geflüchtet, dort zusammengebrochen und dann erst wieder in der Notaufnahme der Charité zu sich gekommen, richtig?«, begann er ohne weitere Erklärungen das Gespräch und nahm neben seiner Kollegin auf der Couch Platz.

Lara ließ sich auf den Sessel sinken und faltete ihre Hände.

»So weit die Kurzfassung.«

»Verzeihen Sie meine Direktheit«, meinte Kern und stützte seine Ellenbogen auf den Knien ab. »Aber wie kommt es, dass Sie den ganzen Weg von Ihrem Café in der Mulackstraße bis zum Nordhafen neben diesem Mann saßen, ihn aber kaum beschreiben können?«

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Wie ich Ihren Kollegen gestern Nacht bereits zu Protokoll gegeben habe, war es dunkel. Außerdem hatte der Mann eine Baseballkappe auf … Und die Haare, die hatte er so ins Gesicht gekämmt«, beschrieb sie mit einer entsprechenden Geste. »Ich meine, er hätte Locken gehabt.«

»Locken?«, ergriff Sylvia Hausmann das Wort und zückte einen Notizblock.

»Ja, so bis übers Ohr … Dunkelbraun, glaube ich, beschwören kann ich das aber nicht. Und wenn ich mich recht erinnere, war er recht muskulös.«

Hausmann notierte etwas und sah wieder auf.

»Kommen wir noch mal auf die Baseballkappe zurück: Können Sie die etwas präziser beschreiben?«

Lara schob den Unterkiefer zur Seite und sah die Kommissarin mit schmalen Augen an. »Wenn ich mich nicht täusche, war die Kappe blau und das Schild rot, oder andersherum, so genau weiß ich es nicht mehr. Ach, und ich meine mich zu erinnern, dass es eine RedSox-Kappe war, ganz sicher bin ich mir aber nicht. Wie gesagt, es war dunkel.« Ein tiefer Atemzug. »Abgesehen davon hatte ich einen langen Abend hinter mir und war hundemüde.«

»RedSox«, wiederholte Hausmann und bedachte Lara mit einem verblüfften Lächeln.

»Sie sind Baseballfan?«

Lara schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht wirklich. Aber ich kenne mich ein bisschen aus. Mein Mann« – sie korrigierte sich –, »mein Exmann … Er hat in Boston studiert, bevor er eine Stelle als Grafiker in Berlin angenommen hat. Die Spiele der Boston RedSox hat er auch im Nachhinein noch öfter verfolgt.«

Magnus Kern räusperte sich.

»Ist Ihnen in letzter Zeit vielleicht irgendjemand aufgefallen, der Ihnen gefolgt ist oder sonst irgendwie verdächtig vorkam?«

Lara senkte die Lider, um sich zu konzentrieren.

»Nein, nicht dass ich wüsste.«

»Was ist mit Ihrem Kellner, diesem Daniel Rodriguez?«, fragte Kern mit einer kurzen Pause zwischen Vor- und Nachnamen. »Sie haben zu Protokoll gegeben, dass es am besagten Abend Ihrer Eröffnungsfeier einen Zwischenfall gab. Um was ging’s denn?«

»Ach, das war bloß eine Meinungsverschiedenheit.« Sie lachte hilflos auf. »Ich glaube kaum, dass Daniel der Mann im Taxi war, falls Sie darauf hinauswollen.«

Kern studierte ihr Gesicht.

»Aber gerade sagten Sie doch, Sie konnten den Fahrer nicht erkennen.«

Lara blinzelte irritiert.

»Daniel hat keine Locken, außerdem ist er viel schlanker.«

»Wir wollten Rodriguez heute früh einen Besuch abstatten, doch der Vogel war bereits ausgeflogen. Hat seine Wohnung mit Sack und Pack verlassen und ist auf seinem Motorrad abgedüst«, schaltete Sylvia Hausmann sich ein. »Nach Angaben seiner Nachbarin schien er es wohl ziemlich eilig gehabt zu haben. Wissen Sie vielleicht, wohin er wollte?«

Lara verneinte. Sie wollte es auch gar nicht wissen. Um ehrlich zu sein, war die Affäre mit Daniel Rodriguez ein Akt purer Verzweiflung gewesen und ein für alle Male abgeschlossen.

»Der Bursche hat nicht gerade ein kleines Vorstrafenregister«, fügte Magnus Kern hinzu. »Reicht von Autodiebstahl und Körperverletzung bis zu wiederholter Brandstiftung.«

Lara sah überrascht auf, sagte aber nichts.

Der Polizist zupfte sich nachdenklich am Ohrläppchen.

»In was für einem Verhältnis standen Sie denn zu Herrn Rodriguez?«