Nachrichten vom Ironman
THORSTEN SCHRÖDER
NACHRICHTEN VOM IRONMAN
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© spomedis GmbH, Hamburg 2013
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Lektorat: Anna Gutjahr
Korrektorat: Gabi Hagedorn
Umschlaggestaltung, Layout und Satz: Melanie Trommer
Fotos: Frank Wechsel soweit nicht anders angegeben;
Michael Rauschendorfer (Bild 1, Bild 2);
Andreadonetti | Dreamstime.com (Bild 3);
Nis Sienknecht (Bild 4, Bild 5);
Thorsten Schröder (Bild 6);
Wiebke Tiede (Bild 7, Bild 8, Bild 9, Bild 10, Bild 11);
pebe sport (Bild 12),
Sina Horsthemke (Bild 13);
FinisherPix.com (Bild 14, Bild 15);
Carola Felchner (Bild 16)
ISBN 978-3-95590-030-4
www.spomedis.de
Das große Rennen
Ich umarme Wiebke fest zum Abschied, aber mit den Gedanken bin ich schon woanders. Ich konzentriere mich auf das, was mir jetzt bevorsteht. Eingepackt in einen Neoprenanzug, mit Badekappe und Schwimmbrille auf dem Kopf, schaue ich hinunter auf den Langener Waldsee. Dort unten beginnt gleich mein größtes sportliches Abenteuer, mein erster Ironman. 3,8 Kilometer Schwimmen, 180 Kilometer Radfahren und anschließend ein Marathon: 42,195 Kilometer Laufen. Ich muss wahnsinnig sein, denn ich kann mir gerade überhaupt nicht vorstellen, dass ich eine solche Ausdauerleistung vollbringen kann. Ich habe Bammel.
»Du schaffst es!«, ruft mir meine Freundin hinterher, und ich hoffe ganz stark, dass sie recht hat. Wiebke steht inmitten der Zuschauer, die sich zu Tausenden hinter der Absperrung drängen, um uns alle anzufeuern. Schon jetzt im fahlen Morgenlicht um kurz nach sechs wuseln am Strand so viele Menschen hin und her wie sonst nur bei sommerlicher Hitze an einem Sonntagnachmittag.
Die seelische Unterstützung kann ich gut gebrauchen, denn ich bin mindestens so nervös wie vor meiner allerersten »Tagesschau«. Mein Herz schlägt schon vor dem Start wie bei einem Sprint und ich gehe unruhig auf und ab. Dabei habe ich mich noch nie so lange und so akribisch auf etwas vorbereitet wie auf den heutigen Tag. Warum beruhigt mich das denn nicht?
Vielleicht, weil es viel zu viele Unwägbarkeiten auf einer so langen Strecke gibt. Macht mein Körper die Anstrengung mit? Halten der Rücken, das Knie und die Achillessehne der Belastung stand? Spielt die Psyche mit? Schaffe ich es, richtig zu essen und zu trinken? Es kann so viel passieren. O Mann, worauf habe ich mich da bloß eingelassen?
Ich drehe mich noch einmal um zu Wiebke und versuche zu lächeln. Von nun an kann sie mir leider auch nicht mehr helfen. Ich muss die 226 Kilometer ganz allein schaffen. Auf geht’s, runter zum See.
Schon seit ein paar Minuten wühlen die Profis mit ihren Kraulzügen das Wasser auf und gleich sind wir dran: die sogenannten Agegrouper, die Freizeittriathleten in ihren Uniformen aus schwarzem Neopren und roten Badekappen. Zweitausend Frauen und Männer gehen mit Storchenschritten oder das Wasser wegkickend in den See.
Wenn ich mir meine Mitschwimmer so anschaue, dann wirken die alle wild entschlossen. Bin ich etwa der Einzige, der die Hosen voll hat, weil er nicht weiß, was auf ihn zukommt?
Fast alle sind schon im Startbereich und stehen bis zu den Knien oder zur Hüfte im Wasser, bevor auch ich etwas zögerlich hinterherstapfe. Das Wasser ist recht sauber und hat mit 21 Grad eine angenehme Temperatur. Die Lufttemperatur liegt etwas darunter, der Himmel ist leicht bedeckt. Was bin ich froh: Der See ist nicht so warm, dass ein Neoprenanzug verboten wäre. Ich habe mir extra einen neuen Neo besorgt, der mich beim Schwimmen hoffentlich nicht so einengt wie mein alter Anzug und außerdem für genug Auftrieb sorgt. Mir ist trotzdem mulmig zumute. Wie immer vor dem Schwimmen im Freiwasser, seit mir beim Hamburger Triathlon vor ein paar Jahren ein Missgeschick passiert ist.
Damals zog und zerrte ich unmittelbar vor dem Start an meinem Neo, weil er nicht gut saß, er zwickte noch hier und da. Das Material war im Laufe der Jahre offenbar spröde geworden, denn ich hörte plötzlich ein böses Geräusch – rrrrrrrrtsch –, und schon zog sich auf Höhe des Bauchnabels ein großer Riss quer durch den Anzug, etwa 30 Zentimeter breit. Dass dieser Riss böse Folgen haben könnte, daran dachte ich in dem Moment noch nicht.
Erst als ich ins Alsterwasser gesprungen war, wurde mir klar, dass ein kaputter Neo nicht nur keine Hilfe ist, sondern mindestens hinderlich. Es wurde kalt und nass im Anzug, denn er füllte sich langsam mit Wasser, und ich kam nur noch schleppend voran. Es wurde immer anstrengender und ich fühlte mich zunehmend unwohler in meiner Haut. Nach etwa 100 Metern war der Neo so aufgebläht, dass ich kaum noch von der Stelle kam. Jetzt wurde es brenzlig: Ich kraulte wie wild, doch der Sog wollte mich hinunter in die Tiefen der kühlen Alster ziehen. Plötzlich breitete sich in mir ein schreckliches Gefühl aus. In Armen und Brust hatte sich ein heftiges Gewitter gebildet, das hinaufzog in meinen Kopf. Angst! Panik! Ich verlor die Kontrolle über mich und fuchtelte hektisch mit Armen und Beinen, um nicht unterzugehen. Ich keuchte wie wahnsinnig und unterdrückte den Impuls, nach Hilfe zu schreien. Verzweifelt suchte ich nach Rettung. Der Steg, von dem aus wir in die Alster gesprungen waren, war zu weit weg. Aber ein Kanufahrer der DLRG war bereits auf mich aufmerksam geworden und kam mir entgegen. Es dauerte eine Ewigkeit, bis ich endlich den Bug des Kanus zu fassen bekam und mich daran festhalten konnte, erleichtert und schwer atmend. Ich holte tief Luft und beruhigte mich langsam. Das Gewitter verzog sich. Jetzt konnte nicht mehr viel passieren, ich würde nicht auf den Boden der Alster sinken und elendig ertrinken. Gerettet!
Ich weiß noch genau, dass mir damals der Gedanke durch den Kopf schoss, mich vom Kanu einfach ans rettende Ufer schleppen zu lassen und das Rennen zu beenden. In Sekundenschnelle war mir aber klar, dass ich unbedingt weitermachen wollte. Ich musste nur den Neo loswerden. Also versuchte ich, den eng anliegenden Anzug mit einer Hand von meinem Körper abzustreifen, während ich mich mit der anderen am Kanu festhielt – ein schwieriger Kampf mit dem widerspenstigen Neo, dem Kanu und dem Wasser. Ein Kanu ist eine wackelige Angelegenheit, auch wenn dessen Fahrer wild paddelte, um das kleine Boot stabil zu halten, während ich an ihm zog und zerrte. Es dauerte fast zehn Minuten, dann hatte ich den Neo abgepellt. Endlich frei! Nur mit Badehose bekleidet, schwamm ich noch leicht geschockt, aber in aller Ruhe die restlichen etwa 1.400 Meter ins Ziel.
Als ich aus dem Wasser stieg, entdeckte ich Wiebke sofort hinter der Absperrung. Sie schien mich nicht recht zu erkennen, sondern starrte mich an, als wäre gerade ein Gespenst aus dem Wasser gestiegen. Sie war offenbar vollkommen verdutzt, dass ich dermaßen leicht bekleidet war. 40 Minuten zuvor war ich schließlich in voller Montur in die Alster gesprungen.
Dieses Erlebnis hat tiefe Spuren hinterlassen. Seitdem schlummert das bedrohliche Gefühl in mir – allzeit bereit, sich zu einem Gewitter zusammenzubrauen, wenn ich im See schwimme. Zuletzt ereilte mich die Panik beim Vorbereitungstriathlon in Darmstadt vor einem Monat. Erst nach quälend langen Minuten mit schwerem Atem und einem platzen wollenden Schädel konnte ich die Angst besiegen. Die große Sorge vor der Panik ist aber bei jedem Wettkampf präsent.
Jetzt auch, unmittelbar vor dem Ironman-Start. Was, wenn das Kopfgewitter wieder auftaucht und ich das Rennen abbrechen muss? Dann wäre all das Training für die Katz gewesen. Hoffentlich habe ich die mentale Stärke, aufkommende Panikattacken abzuwehren.
Gleich ist es so weit. Nur noch eine Minute, sagt gerade der Sprecher. Schnell eintauchen, schnell ein paar kurze Sprints, dann suche ich mir ganz hinten im Feld ein ruhiges Plätzchen. Die anderen können nach dem Startschuss gern losrasen, ich komme später hinterher. Ich will meinen eigenen Rhythmus finden. Umso ruhiger werde ich.
Doch dann passiert etwas Unerwartetes: Plötzlich fühle ich weder Zurückhaltung noch Angst. Forsch stapfe ich in großen Schritten an den anderen vorbei. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist – aber ich will beim Start nicht hinten stehen, sondern mittendrin sein.
Moment mal, geht es jetzt nicht vor allem darum, sicher ins Ziel zu kommen? Was mache ich da? Ist das nicht gefährlich? Ich wundere mich über mich selbst. Offenbar bin ich bei dem Gemisch aus Vorfreude, Spannung und vor allem Adrenalin größenwahnsinnig geworden. Bevor ich auf die Idee komme, dass ich zu viel riskiere, höre ich den Sprecher schon den Countdown starten. Hier komme ich jetzt nicht mehr weg. Aber aus unerfindlichen Gründen will ich das auch gar nicht. In wenigen Sekunden fällt der Startschuss. Dann muss sich erweisen, ob ich soeben einen großen Fehler gemacht habe. Und ob ich in den vergangenen Monaten tatsächlich so fit geworden bin, dass ich diesen langen und anstrengenden Wettkampftag durchstehe. Noch vor zehn Monaten hatte ich nicht daran zu denken gewagt, tatsächlich einen Ironman in Angriff zu nehmen. Damals war ich noch ein ganz normaler Freizeitsportler.
Expertentipp von Andreas Raelert |
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Panik, wie sie Thorsten beschreibt, habe ich zum Glück so noch nie erlebt. Aber ein beklemmendes Gefühl beim Schwimmstart ist ganz normal. Zu meinen Weltcup-Zeiten war die erste Boje für mich immer der Horror, da ging es drunter und drüber – Schläge und Tritte inklusive. Sie sollten sich schon beim Start entsprechend Ihrer Leistungsfähigkeit positionieren. Wer weiß, dass er nicht der allerbeste Schwimmer ist, sollte sich lieber außen und etwas weiter hinten aufstellen und den kleinen Umweg auf den ersten Metern ruhig in Kauf nehmen. Das ist besser, als überschwommen zu werden und gar keinen Schwimmrhythmus zu finden. Suchen Sie sich ein Umfeld, dessen zu erwartende Leistung zu Ihrer passt. Das kann man vor dem Start durch kurzes Fragen abklären. Eine kleine Angstbremse: Überlegen Sie sich mal, wie oft Triathleten schon mit 2.500 oder mehr Gleichgesinnten gleichzeitig ins Wasser gesprungen sind. Und wie wenig Unfälle es daran gemessen in den letzten 15 bis 20 Jahren gab. Es gab zwar einige tragische Todesfälle durch Herzinfarkte. Aber die werden nicht in erster Linie durch die schiere Masse an Athleten ausgelöst worden sein. Im Triathlon wird grundsätzlich Rücksicht aufeinander genommen, wir sind alle keine Monster!
Andreas Raelert
* 11. August 1976
Andreas Raelert nahm 2000 in Sydney und 2004 in Athen an den Olympischen Spielen teil. Nachdem der Rostocker die Qualifikation für Peking knapp verpasste, wechselte er auf die Langdistanz und landete bei der Ironman-Weltmeisterschaft auf Hawaii mehrfach auf dem Podium.
In Roth stellte er 2011 die Weltbestzeit auf der Langdistanz auf.
Noch elf Monate
Der Schweiß klebt mir im Gesicht, meine Haare sind nach vier Stunden unterm Fahrradhelm nicht fernsehtauglich, meine Startnummer habe ich in einen Mülleimer geworfen und mein Rücken verlangt nach dem Sofa. Meine Waden und Oberschenkel sowieso. Ich schalte drei Gänge runter und kurble auf meinem Rennrad erschöpft, aber zufrieden Richtung Apfelsaftschorle, Kaffee und Kuchen. Wiebke wartet auf mich, um mich nach den Cyclassics erstzuversorgen. Die drei Kilometer aus der Hamburger Innenstadt nach Hause sind das perfekte Ausrollen nach einem langen Rennen über 155 Kilometer durch die Straßen von Hamburg und Umgebung. Ich war zum 15. Mal am Start und bin zum 15. Mal heil ins Ziel gekommen. Fast wäre es diesmal allerdings schiefgegangen.
Vor meinem inneren Auge läuft die Szene ab, die mir mindestens Schürfwunden, blutige Knie und ein zerdelltes Rad hätte bescheren können: Es geschah kurz vor dem idyllischen Örtchen Buchholz. In einem Pulk von zig anderen Radlern ließ ich meine Beine gleichmäßig treten, als plötzlich ein gelbes Trikot von links heranschoss und ungeduldig versuchte, sich zwischen meinen beiden Windschattenspendern hindurchzumogeln. Das sieht gefährlich aus, dachte ich und nahm die Finger an die Bremsen, bereit zum sofortigen Handeln. Genau die richtige Entscheidung, denn der Drängler kam einem der beiden etwas zu nah. Ein Scheppern, Schreie und der Ungestüme krachte zusammen mit seinem Opfer vor mir auf den Asphalt. Ich sah noch, wie sich beide verknäulten. Den Rest hörte ich nur. Denn mit einer ruckartigen Bewegung hatte ich es gerade noch geschafft, mein Rad um den Crash herumzulenken und nicht zu einem der Dominosteine zu werden, die sich jetzt mit Getöse ebenso langlegten wie das gelbe Trikot. Hinter mir endete gerade so mancher Traum von einer erfolgreichen Cyclassics-Teilnahme, begleitet von hässlichen Geräuschen, die entstehen, wenn Mensch, Rad und Asphalt hart aufeinandertreffen. Ich strampelte gleichmäßig weiter, wenn auch mit einem riesigen Schrecken in den Gliedern. Das Einzige, was raste, war mein Puls.
Zum Glück bin ich verschont geblieben und verkrafte es deshalb locker, wieder nicht die magische Grenze von vier Stunden geknackt zu haben. Ganz knapp verpasst, um vier Minuten. Ich konnte zum Ende des Rennens einfach nicht mehr zulegen. Riesige Berge türmten sich plötzlich vor mir auf. Wie kamen denn die Alpen hierher in die norddeutsche Tiefebene? Oder waren es die Pyrenäen? Bei nüchterner Betrachtung könnte man auch von kleinen Hügeln sprechen. Aber sie waren mir nach rasanten 120 Kilometern eindeutig zu steil. Schwer keuchend kämpfte ich mich über die Gebirgskette und rollte im Tal durchs Ziel. Immerhin dürfte ich unter den gut 2.000 Teilnehmern einen Platz im vorderen Drittel geschafft haben, und über einen Schnitt von fast 39 Kilometern pro Stunde kann ich auch nicht klagen.
Ich biege in die zweite Zielgerade des Tages ein, in meine Straße. Mit den Cyclassics endet meine Saison und das Rennrad verschwindet gleich bis zum nächsten Frühjahr im Keller.
»Hallo, Thorsten«, höre ich plötzlich eine Stimme, als ich vom Rad steige. »Wie lief das Rennen?«
Fabian steht auf dem Balkon im zweiten Stock des Mietshauses nebenan und ruft herunter. Wieso sieht der so frisch und erholt aus und lächelt fröhlich? Er kann unmöglich bei den Cyclassics mitgemacht haben. Ich erzähle, dass ich froh bin, heil angekommen zu sein, und will wissen, warum er nicht dabei war.
»Ich habe gerade meinen ersten Langdistanztriathlon geschafft, in Glücksburg beim Ostseeman.«
Fabian ist Drehbuchautor und kann sich als Freiberufler die Zeit fürs Training ganz gut einteilen. Er hat mir mal erzählt, dass er sich trotzdem an den Langdistanzen in Frankfurt und in Embrun in den Alpen die Zähne ausgebissen hatte. Zwei Versuche, zweimal ist er nicht ins Ziel gekommen. Und jetzt?
»Nach 12 Stunden 26 war ich durch.«
»Wahnsinn! Herzlichen Glückwunsch!« Dabei wirkt Fabian auf mich gar nicht so drahtig und dürr, wie ich mir einen Langdistanzler immer vorstelle. Er muss aber super trainiert sein, denn jetzt ist er Finisher.
»Es war zwar sehr windig und der Wellengang war heftig, aber es hat trotzdem Spaß gemacht. Viele Zuschauer, eine tolle Stimmung – einfach ein grandioses Erlebnis!«
Wir waren uns lange nicht über den Weg gelaufen, deshalb hatte ich nicht mitbekommen, dass er diese Tortur noch einmal in Angriff genommen und auch noch gemeistert hat. Ich bin beeindruckt! Und der Hobby-Triathlet in mir wird sehnsüchtig. Ach ja, einmal eine Langdistanz absolvieren oder sogar den Mythos Hawaii erleben, das hätte schon was. Dieser Traum schlummert schon seit Jahren als winzig kleine Idee in der hintersten Ecke meines Hirns. Immer nur kurz auf sich aufmerksam machend, wenn ich im Oktober Bilder vom Ironman auf Hawaii sehe und ganz große Augen bekomme. Durchtrainierte Menschen kämpfen sich durch Wasser und Wüste, bis sie sich mit letzter Kraft, aber unglaublich glücklich ins Ziel schleppen. Wie muss man dafür trainieren? Worauf kommt es im Rennen an? Wie fühlt es sich an, so viele Stunden in Bewegung zu sein, eine solche Distanz zu bewältigen? Das würde ich gern einmal im Selbstversuch in Erfahrung bringen. Wenn nur dieser riesige Trainingsaufwand nicht wäre.
Ich hatte Fabian mal auf seiner Rennmaschine getroffen, aber viel Zeit für ein Schwätzchen unter Nachbarn hatte er damals nicht. Nach 150 Kilometern auf dem Rad wollte er sofort die Schuhe schnüren und zehn Kilometer Laufen dranhängen. »Koppeltraining« nannte er das. Dabei klingelte bei mir der Wecker, der mich aus meinem Traum riss: Wer bei einem Ironman an den Start gehen will, der muss sehr, sehr viel dafür tun. Neue sportliche Ziele sind schön und gut, aber sie sollten realistisch sein. Und wenn ich ehrlich bin, muss ich mir eingestehen, dass ein Ironman für mich so weit weg ist, wie »Wetten, dass..?« zu moderieren.
Ich bin und bleibe wohl ein Genusssportler, der es liebt, sich an der frischen Luft zu bewegen, die Natur zu genießen, seinen Körper zu spüren und etwas für seine Fitness zu machen. Ein bisschen Herausforderung und Anstrengung kann ich gebrauchen, aber nicht so viel, dass es zur Qual wird. Bei den Cyclassics muss es immer die lange Strecke sein, die 155 Kilometer. Und schon vor vielen Jahren habe ich mein Rennradhobby ausgeweitet auf Triathlon. Vom Sprint habe ich mich zur olympischen Distanz vorgearbeitet. Statt 500 Meter Schwimmen sind das 1.500 Meter im Wasser, statt 20 Kilometer auf dem Rad sind es 40 und statt 5 Kilometer laufe ich 10. Damit falle ich höchstens in die Kategorie »ambitionierter Freizeitsportler«. Mehr aber auch nicht. Der Schritt zum Ironman ist viel zu groß.
Mein Reich sind die Triathlons über die olympische Distanz. Vor ein paar Wochen war ich zum elften Mal hintereinander beim Hamburg-Triathlon am Start und lief nach 2 Stunden und 38 Minuten über die Linie. Dafür muss ich zwar gezielt trainieren, aber außergewöhnlich große Opfer fordert das nicht. Mein nächstes sportliches Ziel ist eine Zeit unter 2:30 Stunden, ich werde es ab dem nächsten Frühjahr versuchen. Vielleicht auch erst im Jahr danach.
Ich verabschiede mich vom Ironman Fabian, hebe mein Rad auf die Schulter und steige die Kellerstufen hinab. Ganz vorsichtig, nur nicht mit den Klickschuhen abrutschen! Ich habe die Cyclassics unverletzt überstanden, jetzt sollte ich nicht an der Treppe scheitern.
Der Gedanke an den Ironman lässt mich nicht los. Mal überlegen: Eine Langdistanz beginnt mit 3,8 Kilometern im Wasser. So viel bin ich noch nie in meinem Leben am Stück geschwommen. Schon gar nicht gekrault. Ungefähr eine Stunde und 15 Minuten bräuchte ich wohl mindestens dafür. Wie sollte ich das denn durchhalten? Die 1,5 Kilometer bei der olympischen Distanz schaffe ich. Aber spätestens nach zwei Kilometern würde ich elendig ersaufen. Wenn nicht wegen Erschöpfung, dann nach einer Panikattacke. Im Wasser bin ich überhaupt nicht in meinem Element. Fast alle Triathleten hassen das Schwimmen, oder? Ich wäre also in guter Gesellschaft, aber ein Trost ist das nicht. Mein Ironman-Schwimmcheck ergibt: die reinste Qual.
Außerdem fährt man 180 Kilometer auf dem Rad. Bei den Cyclassics bin ich 155 Kilometer unterwegs, früher waren es sogar mal 170. Viel fehlt also nicht mehr. Resultat des Radfahrchecks: verdammt lang, aber mit entsprechendem Training machbar.
Krönender Ironman-Abschluss ist ein Marathon, also 42,195 Kilometer. Vor sechs Jahren bin ich den Marathon in Hamburg gelaufen. Ich hatte schon erwartet, danach jedes Wochenende bei einem anderen Marathon-Event zu starten, denn viele Leute sagten: »Wer einmal Marathon läuft, der wird süchtig.« Aber Ausnahmen bestätigen die Regel, und die Ausnahme bin ich. Von Suchtgefahr keine Spur. Das strenge Training nach Plan war nichts für mich, und bei den längeren Läufen bekam ich Rückenschmerzen. Laufen? Ja, gern mal um die Alster, aber bitte keinen Marathon mehr. Ergebnis des Laufchecks: viel zu anstrengend.
Mir machen also schon die einzelnen Disziplinen Schwierigkeiten, wie soll ich sie dann geballt hinkriegen? Könnte ich meinen Körper überhaupt so trainieren, dass er die Belastung durchhält? Vielleicht geht das, wenn ich mir Fabian so anschaue. Aber ich müsste ständig trainieren, müsste wohl permanent mit meinem inneren Schweinehund kämpfen, mich quälen, auf vieles verzichten. Das ist mir einfach zu aufwendig. Warum sollte ich mir das antun? Vergiss es, Schröder!
Ich bin heil in unserem Keller angekommen, schiebe mein Rennrad in das dunkle Verlies und verabschiede mich von ihm bis zum nächsten Frühjahr. Ich kann die Sportsaison mit dem guten Gefühl beenden, etwas für mich und meine Gesundheit getan zu haben. Nun komme ich wieder mehr zur Ruhe – ganz im Gegensatz zu meinen Nachbarn. Die bekommen ausgedehnte Fingerübungen am Klavier und eigenwillige Interpretationen der Stücke und Lieder von Schumann, Fats Waller, Mozart oder Scott Joplin zu hören. Ich spiele erst seit fünf Jahren und bin der lebende Beweis, dass das Erlernen eines neuen Instruments im fortgeschrittenen Alter nicht mehr so leicht von der Hand geht. Deutlich erfreuter dürften meine Nachbarn sein, wenn ich von nun an häufiger auf dem gemütlichen Sofa die Bücher abarbeite, die seit Weihnachten darauf warten, von mir gelesen zu werden. Ich bin Schönwettersportler. Bei winterlichen Temperaturen draußen Sport zu treiben, ist nichts für mich. Obwohl ich mich immer durchgepustet und zu neuem Leben erweckt fühle, wenn ich mich doch mal zu einem Lauf in lausiger Kälte oder im Schneeregen aufgerafft habe. Entsetzt frage ich mich dann, wie ich es in einer Wohnung mit so trockener, muffiger Heizungsluft aushalten konnte. Ist ja eklig! Dieses Gefühl hält leider nur so lange an, bis ich mich wieder an die mollig warme Bude gewöhnt habe. Also ungefähr eine Stunde.
Wiebke hat das Klackern der Radschuhe auf der Treppe gehört und steht in der geöffneten Wohnungstür. Mit Apfelsaftschorle, Kaffee und Kuchen feiern wir auf dem sonnigen Balkon den Übergang in die Sport-nur-noch-nach-Lust-und-Laune-Periode.
Meine Badehose ist schon längst unter dem Berg an Sportklamotten im Schrank verschwunden und wird vorerst nicht mehr nass gemacht. Sobald ich mein letztes Schwimmtraining vor dem Hamburg-Triathlon absolviert habe, will ich sie nicht mehr sehen, geschweige denn anziehen. Schwimmen ist nur lästige Triathlonpflicht. Bye-bye, bis in gut einem halben Jahr, meine Liebe!
Die Laufschuhe hatten einige Monate lang die Poleposition direkt an der Wohnungstür und warteten stets griffbereit auf ihren Einsatz. Jetzt wandern sie in den Schuhschrank und werden nur bei Bedarf herausgeholt. Ich laufe noch hin und wieder die 7,5-Kilometer-Runde um die Außenalster, um fit zu bleiben. Ich mag es nämlich gar nicht, wenn ich die Stufen zu meiner Wohnung im zweiten Stock hinaufsprinte und anschließend hechle wie ein durstiger Hund.
Außerdem will ich mit dosiertem Sport meinem Rücken Gutes tun. Als Jugendlicher wurde bei mir Wirbelgleiten diagnostiziert: Ein Wirbelkörper rutscht dabei über den darunterliegenden Wirbel nach vorn und kann die Nerven einklemmen. Sehr gefährlich! Ein bisschen davon spürte ich damals schon. Füße und Oberschenkel kribbelten des Öfteren und waren taub, ich hatte kein Gefühl mehr in den Beinen, der Rücken war manchmal steif. Deshalb wurde ich als 15-Jähriger an der Wirbelsäule operiert und musste anschließend ein Jahr lang ein festes Korsett tragen. Was hatte der Onkel Doktor damals zu mir gesagt? Immer schön schlank bleiben und durch Sport die Rumpfmuskulatur kräftigen. Wird gemacht, Doc!
Auch deshalb werde ich im Herbst und Winter wieder öfter ins Fitnesscenter gehen und Hanteln und Gewichte stemmen. Allerdings habe ich mir das Etablissement nach seinem Saunabereich ausgesucht. Denn mein Lieblingssport ist das Extrem-Whirlpooling. Meine Ausdauer im Becken mit dem sprudelnden Wasser ist sensationell.
Ein bisschen Bewegung brauche ich auch deshalb, weil ich sonst sehr schnell sehr rund werden würde. Dicker werden kann ich gut. Eine Laune der Natur, dass dies schon nach einer relativ geringen Menge kalorienreicher Nahrung wie Schokolade oder Chips passiert.
Ich schenke Wiebke und mir noch Kaffee nach und gönne mir ein drittes Stück Käsekuchen. Ich habe beim Radrennen schließlich Unmengen an Kalorien verbrannt.
Wenn ich sehe, was mein ranker und schlanker Kumpel Thomas an fettigem, süßem und salzigem Kram zu sich nimmt, werde ich neidisch. Die Stoffwechselfähigkeiten sind unter den Menschen äußerst ungerecht verteilt. Die meisten würden zwar sagen, ich sei schlank, sie kennen aber die nackte Wahrheit nicht. Wenn ich meine Bauchmuskeln nicht anspanne, erschrecke ich vor meinem Spiegelbild. Mit der großen Kugel sehe ich aus, als wäre nicht Triathlon mein Sport, sondern Bierkrugstemmen. Offenbar hat sich bei meinen Genen noch nicht herumgesprochen, dass die wirklich harten Zeiten vorbei sind. Dass vorerst keine Hungersnöte drohen und ich nicht alles Verwertbare in Depots direkt am Körper lagern muss. Den Notfall gibt es nicht mehr, also muss ich zumindest einen Teil des Fettüberschusses mit Sport bekämpfen.
Früher habe ich Fußball gespielt, aber meine lädierte Wirbelsäule hat meiner Karriere ein jähes Ende bereitet. Als ich 14 war, sagte mir der Arzt, dass ich meine Fußballschuhe an den Nagel hängen muss. Ich kippte aus den Latschen. Tatsächlich erlitt ich einen Kreislaufkollaps in der Arztpraxis, denn man wollte mir ein lebenswichtiges Organ entfernen: den Fußball. Vorbei der Traum vom Profikicker, der mit seiner Mannschaft von Sieg zu Sieg eilt. Daraus wäre vermutlich sowieso nichts geworden, aber träumen darf man doch wohl noch.
Ich brauchte unbedingt einen Ersatz. Es wurde der Radsport. Merkwürdig, dass die gekrümmte Haltung auf dem Rad für den Rücken kein Problem war, aber ich hatte nichts dagegen einzuwenden. Motiviert hatten mich in den 1990er-Jahren die damals noch sehr kurzen Fernsehberichte von der Tour de France. Spannend, wie die Rennfahrer die Berge hinaufkurbelten und jeder gegen jeden kämpfte. Erst viel später kapierte ich, dass es entscheidend um Mannschaftstaktik geht, davon hatte ich damals nicht den blassesten Schimmer. Die Männer kämpften sich schwitzend und keuchend die Steigungen hinauf inmitten traumhaft schöner Bergkulisse – hier eine Attacke, da ein Gegenangriff, dort eine Kapitulation. In ihren Gesichtern konnte man die Leiden und Qualen sehen. Ich war erstaunt und fasziniert, dass ein Mensch solch steile Berge hinaufkommt – ohne Motor, nur aus eigener Kraft. Bei ihrem Kampf wurden die Rennfahrer von einem dichten Spalier enthusiastischer Zuschauer nach oben geschrien. In der Ebene rasten sie mit 40 oder 50 Sachen über den Asphalt und schafften dies allein durch kräftiges Treten mit muskulösen Beinen.
Das wollte ich auch. Fans und Berge fehlten mir zwar, aber weil direkt vor unserer Haustür in Reinbek vor den Toren Hamburgs das ländliche Idyll begann mit Wäldern und Feldern und wenig befahrenen Straßen, bot sich das Radfahren an. Als auch noch Jan Ullrich die Tour de France gewann, war es ganz um mich geschehen. Ihm wollte ich nacheifern, meinem damals noch des Dopings unverdächtigen Helden. Das ging besonders gut bei einem richtigen Radrennen: den Cyclassics in Hamburg. Seit 1998 schwinge ich mich dort auf den Sattel und hatte in jenem Jahr auch meine Triathlonpremiere. Ein Freund hatte mich auf die Nordseeinsel Föhr mitgeschnackt. Ein Wochenendausflug mit unseren Freundinnen, die ihren sportlichen Kerlen beim Wettkampf zujubeln und sie bewundern durften. Wir gingen über die Sprintdistanz an den Start und landeten prompt unter den ersten zehn, was bei nur 51 Teilnehmern keine Sensation ist. Zumal unter unseren Konkurrenten einige weniger sportliche Familienväter waren, die während ihres Inselurlaubs nicht nur Sandburgen mit ihren Kindern bauen wollten.
Ich hatte Blut geleckt. Triathlon war ein ganz großer und abwechslungsreicher Spaß! Sogar dem ungeliebten Schwimmen konnte ich etwas abgewinnen, daran wollte ich meine Disziplin testen. Ich gehe gern mal Aufgaben an, die mir nicht nur Spaß machen, um meine Grenzen zu testen und möglichst zu erweitern. Auf ging’s zu weiteren Triathlonheldentaten – zum Beispiel bei Rennen in Ratzeburg und Gudow. Mit den Wettkämpfen hatte ich zumindest einen gelegentlichen Ersatz für meine heiß geliebten Fußballspiele am Wochenende gefunden.
Dann hob Hamburg ein großes Event aus der Taufe: einen Triathlon mit Startplätzen für die Sprint- und die olympische Distanz. Ein Wettkampf wie für mich gemacht, direkt vor meiner Haustür.
Hamburg-Triathlon und Cyclassics – diese beiden großen Veranstaltungen für Jedermänner in meiner Stadt motivieren mich, im Frühjahr meine Sportsachen hervorzukramen. Das Frühlingserwachen kommt bei mir ohne Frühjahrsmüdigkeit daher, stattdessen mit Sport: zweimal pro Woche eine Alsterrunde laufen, ein- bis zweimal im Monat aufs Rad für 50 oder 60 Kilometer, und zum Schwimmen überwinde ich mich auch ab und zu.
Expertentipp von Andreas Raelert |
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Thorstens Quereinstieg in den Triathlon ist typisch. Ich selbst bin über das Ringen und Schwimmen zum Triathlon gekommen, weil ich 1992 eine Hawaii-Doku im Fernsehen gesehen habe und fasziniert war. Da ich ohnehin im Rahmen des Schwimmtrainings manchmal Laufeinheiten absolvierte und mit dem Rad zur Schule fuhr, dachte ich: Das kann ich auch! Mein erster Triathlon in Rostock mit 16 Jahren war dann gleich auf der olympischen Distanz. Ich würde Einsteigern aber eine Sprintdistanz empfehlen. Auch wenn es sich nach Klischee anhört, möchte ich allen Quereinsteigern nahelegen: Der Spaß muss an erster Stelle stehen! Wenn es zum Zwang wird, sollte man lieber die Finger davon lassen. Suchen Sie sich am besten ein Triathlonumfeld. Vor allem Läufer und Radfahrer sollten sich einem Triathlon- oder Schwimmverein anschließen, dann lernen sie die ungewohnte Disziplin motivierter und schneller. Obwohl Triathlon eine Einzelsportart ist, macht das Training mit Gleichgesinnten deutlich mehr Spaß und man kann von den Erfahrungen anderer profitieren. Quereinsteiger zeigen sich häufig überrascht, wie anspruchsvoll ihre Paradedisziplin im Triathlonwettkampf plötzlich ist. Radfahren nach dem Schwimmen oder Laufen nach dem Radfahren ist etwas ganz anderes, als es isoliert zu machen. Verzweifeln Sie aber nicht! Triathlon ist auch eine Gewöhnungssache. Bleiben Sie einfach am Ball. Und trainieren Sie Ihre Schwächen, ohne die Stärken völlig zu vernachlässigen.
Noch zehn Monate
Die Badehose ist wieder aufgetaucht. Aus den Tiefen des Schranks habe ich sie an die Oberfläche geholt, denn ich will im nächsten Jahr die Zweidreißig beim Hamburg-Triathlon knacken. Wenn ich mir schon den Ironman nicht zutraue, dann kann ich wenigstens versuchen, auf der olympischen Distanz schneller zu werden. Erste Maßnahme: Schwimmen trainieren, selbst wenn es schwerfällt und ich sicher keine zehn Minuten wettmachen kann. Vielleicht aber drei oder vier, eventuell sogar fünf. Mein Kumpel Björn hat das auch geschafft – und das wurmt mich gewaltig. Er lässt mich mittlerweile locker hinter sich, obwohl er bei den Wettkämpfen zeitweilig sogar brustschwimmt. Welch eine Schmach!
Bislang hatte er auf den ersten Metern im Rennen lediglich das Spritzwasser meines Beinschlags gesehen, bevor ich uneinholbar für ihn entschwommen war. Seit einem Jahr aber trainiert Björn im Schwimmverein und hat mich im Rennen richtig nass gemacht, obwohl ich mich ausnahmsweise mal nicht völlig bescheuert angestellt habe: 29 Minuten und 29 Sekunden habe ich gebraucht – aber nur, weil ich zufällig die perfekte Linie gefunden und keinen Meter verschenkt hatte. Ich wusste gar nicht, wie mir geschah, denn meistens brauche ich viel länger. Das liegt unter anderem daran, dass ich im Wasser der Alster die Hand vor Augen kaum sehe und meine Brille immer beschlägt. Deshalb beträgt meine Sichtweite auch oberhalb der Wasseroberfläche ungefähr einen Zentimeter. Ich fühle mich dann völlig hilflos. Wo bin ich? Wo sind die anderen? Wo ist das Ziel? Immerhin weiß ich, wer ich bin und was ich da treibe. Ich drifte ständig nach links ab und merke immer zu spät, dass ich auf dem Holzweg bin. Das nervt, kostet Zeit und kann gefährlich sein: Einmal spürte ich beim Kraulzug einen heftigen Schmerz an den Fingerknöcheln. Ich war gegen einen der Brückenpfeiler gekracht, zwischen denen wir durchmussten. Wo kam der denn plötzlich her?
Ich schaffe die magische Grenze von einer halben Stunde nur, wenn alles Glück dieser Welt auf meiner Seite ist. Weil ich damit nicht immer rechnen kann, sollte ich an meiner Technik feilen und mich besser orientieren lernen. Ein schönes Projekt für die Herbst- und Wintermonate, für das ich mir einen Schwimmtrainer suchen werde. Ich will angreifen, damit ich auch an Björn wieder vorbeiziehe.
Der Kassierer im Schwimmbad kann mir sofort helfen. »Steppke, warte mal, dein Typ wird verlangt«, ruft er an mir vorbei.
Ich drehe mich um und stehe vor einem mindestens einen Meter neunzig großen, kräftigen Kerl mit einer riesigen Sporttasche in der Hand. Er trägt einen schwarzen Trainingsanzug und ist gerade durchs Drehkreuz geschlüpft, um die Halle zu verlassen. Er spricht sehr ruhig und gelassen. Ja, er sei Schwimmtrainer, ich sei bei ihm an der richtigen Adresse, ich solle mich bald per Telefon oder E-Mail bei ihm melden, hier die Visitenkarte, dann könne man mal in Ruhe darüber reden, sagt mir der Mann von um die 40. Welch Zufall, dass Stephan Pape – so laut Karte sein richtiger Name – gerade meinen Weg kreuzt. Sicher ein Wink des Schicksals. Das muss der Mann sein, der mir meine Tempo- und Orientierungssorgen beim Schwimmen nehmen kann.
Meine zweite Hoffnung: Vielleicht stellt sich ein Nebeneffekt ein und mir macht Schwimmen endlich mehr Spaß, wenn ich zügiger durchs Wasser gleite. Ich quäle mich bislang immer ins Becken und versuche, den Beginn der Schwimmvorbereitung für den Hamburg-Triathlon möglichst weit hinauszuzögern. Ende Mai bleibt mir aber wirklich nichts anderes übrig, als endlich ins Wasser zu springen. Wenigstens ein paar Mal sollte ich die 1.500 Meter Wettkampfdistanz zurücklegen, denn schon zwei Monate später wird es in der Hamburger Alster ernst.
Das Zweitschönste am Schwimmbadbesuch ist die heiße Dusche und das Schönste kommt erst zum Schluss, wenn ich endlich wieder raus kann aus dem Wasser. Vorher muss ich mich allerdings noch überwinden hineinzuspringen. Um das gern zu tun, bräuchte ich Badewannenwassertemperatur. Von 28 Grad spricht die halleneigene Internetseite, aber das kann nicht stimmen. Meine Kollegen vom NDR-Verbrauchermagazin »Markt« könnten einen Skandal aufdecken: »Schwimmbad lockt Kunden mit falschen Versprechungen« wäre ein passender Titel für den Enthüllungsfilm. Es läuft auf höchstens 20 Grad hinaus. Zumindest gefühlt.
Wenn ich endlich drin bin, geht das stupide Hin- und Herschwimmen los. Um 1.500 Meter zurückzulegen, muss ich 30 Bahnen schwimmen. 30-mal 50 Meter pure Langeweile! Ich glaube, einige meiner Mitschwimmer kommen aus völlig freien Stücken ins Bad. Kein Trainingsplan und kein Arzt scheuchen sie hierher. Sie schwimmen, weil es ihnen Spaß macht. Was haben diese Menschen nur, was ich nicht habe?
Ich quäle mich auch deshalb mit dem Schwimmbadbesuch, weil ich mir die Frage stelle, wer mich heute demütigen wird. Ist es wieder der Mann mit der Riesenplauze? Wie kann der ein solches Tempo hinlegen? Das spricht jeglicher Physik Hohn. Glaube ich zumindest. Aber ich war in Physik immer eine Niete. Mit seinen Armzügen pflügt der Typ so schnell durchs Wasser, dass ich gar nicht erst versuche mitzuhalten. Oder ist heute wieder die unscheinbare Dame im Wasser, die mindestens so schnell ist wie ich? Ich bin jünger und fitter und sollte ihr eigentlich das Wasser reichen können. Kann ich aber nicht, und das geht entschieden gegen meine Ehre. Ich muss dennoch einsehen, dass ich keine Chance habe, ihr davonzuziehen. Also genehmige ich mir am Ende der Bahn eine Pause, damit sie an mir vorbeischwimmt und mir nicht mehr selbstbewusstseinzerstörend auf die Pelle rückt.
Na gut, ich versuche mal neidlos anzuerkennen, dass ich kein übermäßig talentierter Schwimmer bin. Ich könnte die blöden Eitelkeiten einfach beiseitelassen und die beiden als Ansporn nehmen: Mit guter Schwimmtechnik scheint vieles möglich zu sein.
Expertentipp von Andreas Raelert |
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Die Zweifel, die einen überkommen können, wenn man von einem völlig unathletisch aussehenden Sportler im Training überholt wird, kennt wohl jeder. Dann heißt es: cool bleiben! Es ist erstaunlich, wie schnell der Körper auf regelmäßiges Training reagiert. Wer mit dem Laufen anfängt oder nach längerer Pause wieder einsteigt, weiß: Man kann sich kaum vorstellen, zehn Kilometer am Stück laufend zurückzulegen. Wenn der Muskelkater vorüber ist und Sie eine Woche Training in den Beinen haben, sieht die Welt schon wieder ganz anders aus. Auch mir als Profi geht es nach einer Saisonpause und trainingsfreien Zeit so, dass ich zu Beginn das Gefühl habe, ich hätte noch nie Sport getrieben. Ich weiß also, wie frustrierend es sein kann, wenn man den Warnblinker rechts setzen muss. Das ändert sich aber zum Glück schnell wieder.