Das Buch
Captain Braylar Killcoin, der Anführer der berühmt-berüchtigten syldoonischen Söldnertruppe, ist ein Getriebener: Tag für Tag suchen ihn die Seelen derjenigen heim, die er mit seiner mächtigen Waffe Blutrufer getötet hat. Die einzige, die ihn von seinem Fluch befreien könnte, ist seine Schwester Soffjian, eine mächtige Magierin – doch kann Braylar ihr wirklich vertrauen?
Eines Tages werden Braylar und seine Söldner nach Sonnenmatt, in die Hauptstadt des Reiches, zurückbeordert. Dort sollen sie dem neuen Kaiser Cynead, der die Macht mit unlauteren Mitteln an sich gerissen hat, die Treue schwören. Gleichzeitig schmiedet der abgesetzte Kaiser Thumaar einen Plan, um sich den Thron zurückzuholen. Einen Plan, für dessen Durchführung er Soffians und Braylars Hilfe benötigt. Und plötzlich ist Braylar, der kampferprobte Haudegen, mitten drin in einem Netz aus Lügen, Intrigen und Verrat. Ein Netz, das ihn das Leben kosten könnte …
Finstere Gestalten, dunkle Magie und ein packendes Abenteuer – mit Die Klinge des Königs setzt Jeff Salyards sein großes Fantasy-Epos fort.
Der Autor
Jeff Salyards wuchs in einem kleinen verschlafenen Ort nördlich von Chicago auf. Schon früh träumte er sich in laute und chaotische Welten voller unbezähmbarer Charaktere. Seine Faszination für die Fantastik hat er niemals verloren. Neben seinem Job bei der American Bar Association widmet er sich dem Schreiben fantastischer Abenteuer. Der Autor lebt mit seiner Frau und seinen drei Töchtern in der Nähe von Chicago. Von Jeff Salyards ist bereits im Heyne Verlag erschienen: Tanz der Klingen.
JEFF SALYARDS
Die
Klinge
des
Königs
ROMAN
WILHELM HEYNE VERLAG
MÜNCHEN
Titel der amerikanischen Originalausgabe
VEIL OF THE DESERTERS
Deutsche Übersetzung von Jürgen Langowski
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Deutsche Erstausgabe 01/2017
Redaktion: Rainer Michael Rahn
Copyright © 2014 by Jeff Salyards
Copyright © 2017 der deutschsprachigen Ausgabe und der Übersetzung
by Wilhelm Heyne Verlag, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlaggestaltung: Nele Schütz Design, München
Umschlagillustration: Melanie Korte
Karte: William MacAusland
Satz: Schaber Datentechnik, Austria
ISBN: 978-3-641-19082-8
V003
www.heyne.de
Für Jane,
die mich immer wie ihr eigen Fleisch
und Blut behandelt hat
1
Mein Ausflug zum Großen Jahrmarkt war von wundervollen Aromen, Düften und Anblicken begleitet gewesen. Der Rückweg zum Traurigen Hund fühlte sich dagegen an wie der Gang zum Schafott. Wenn man es recht bedachte, war der Vergleich gar nicht mal so falsch.
Auf dem Weg zum Basar hatte ich die kräftigen Düfte von Brot, Fleisch und Kochfeuern wahrgenommen. Auf dem Rückweg roch ich nur den Urin, nach dem die kleinen Gassen stanken. Anfangs war ich von der neu gefundenen Freiheit so begeistert gewesen, dass ich den abscheulichen Gestank überhaupt nicht wahrgenommen hatte. Federnden Schritts hatte ich den Syldooner verlassen und den Jahrmarkt erkundet. Auf dem Rückweg zum Traurigen Hund sah ich nur noch den Kot von Pferden und Hunden und schleimige Massen, die ich nicht näher bestimmen konnte. Obendrein war all das darauf aus, mir einen Schuh zu stehlen oder die Hose zu verschmutzen. Stinkender Treibsand, das war es.
Selbst die Gesichter und Stimmen veränderten sich. Auf dem Hinweg hatte ich Freude, Fröhlichkeit und Staunen gesehen, jetzt waren es die Gereiztheit eines Besuchers angesichts seiner stark erleichterten Börse, die Abscheu in der Miene eines Lehnsherren, dem die Untertanen im Gedränge unangenehm nahe kamen, die stumpfen Gesichter der Huren, die sich durch das Gedränge schoben und halbherzig versuchten, neue Freier in die Freudenhäuser zu locken, und hier und dort ertönte der schrille Schrei einer Mutter, die mit den ungehorsamen Kindern schimpfte.
Der Weg hin und zurück war der gleiche – in so kurzer Zeit hatte sich natürlich nicht viel verändert –, aber meine Stimmung und Wahrnehmung hätten kaum unterschiedlicher sein können. Es war erstaunlich, wie eine Kleinigkeit die Einstellung zur ganzen Welt derart ins Gegenteil verkehren konnte. Das zerschlagene Gesicht des jungen Hornmannes in der Menge, das gegenseitige Erkennen, seine blitzartige Flucht und die Einsicht, dass ich uns alle ins Verderben gestürzt hatte, als ich Braylar im Gras gebeten hatte, den Soldaten zu verschonen – es reichte aus, um mir den wunderschönen Tag zu verderben, und womöglich hatte ich auch dafür gesorgt, dass sowieso nicht mehr viele folgen würden, ob gute oder schlechte.
Es kostete mich viel Überwindung, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Jeder Schritt war schwerer als der vorige, ich hatte Angst, und mein Magen revoltierte und verkrampfte sich umso schlimmer, je näher ich meinem Ziel kam. Ich hatte mich entschlossen, zum Traurigen Hund zurückzukehren und dem Captain zu beichten, was ich gesehen hatte. Zweifellos würde er einen Wutanfall bekommen, dessen Ziel natürlich ich wäre. Das war durchaus verständlich. Aber die Alternativen waren noch unerquicklicher. Ich würde bestimmt nicht zum Baron laufen oder versuchen, aus Zechingen zu fliehen. Die Begegnung mit dem Captain würde nicht erfreulich verlaufen, aber die anderen Wege führten nur zu Schlimmerem. Ich dachte auch daran, überhaupt nichts zu sagen und so zu tun, als hätte ich den Hornmann nicht erkannt. Falls Braylar aber irgendwie herausfand, dass ich den Mann gesehen und geschwiegen hatte, so unwahrscheinlich dies auch sein mochte, würde mein Leichnam sehr bald zum gewaltigen Gestank in den Gassen beitragen.
Als ich mich dem Gasthof näherte, brachte ich es jedoch nicht über mich, auch die letzten paar Schritte zu gehen, und bog in eine Seitengasse ab. Ich hoffte, der Druck in der Brust ließe nach, und mein Herz, das wie ein aufgescheuchter Vogel im Käfig hüpfte, beruhigte sich endlich wieder. So beschloss ich, mich ein Stück weit mit der Menge treiben zu lassen und mit dem Strom zu schwimmen, wohin er mich auch tragen mochte, um all das eine Weile zu vergessen, so kurz die Spanne auch sein mochte. Ich war nicht bereit, jemandem zu erzählen, was ich gesehen hatte. Noch nicht. In Bewegung bleiben, das lenkte mich ab.
Nachdem ich den Weg zur Hauptstraße eingeschlagen hatte, sollte es nicht lange dauern, bis mein Wunsch erfüllt wurde. Fast sofort wurde ich mitgerissen. Ich hätte hungrig oder durstig sein müssen – ich hatte nicht einmal das Bier ausgetrunken und die Muscheln aufgegessen, an denen ich mich verschluckt hatte –, aber mir war der Appetit vergangen. Mein Magen rebellierte und zeigte sich unleidlich. So gab ich mich damit zufrieden, dem Strom der Menschen zu folgen, und achtete nicht mehr auf Wegweiser oder die abgeblätterten Emaillestreifen an den Wänden. Auch wenn ich kaum mehr als Wasser im Bauch hatte, würde es mir sicherlich schwerfallen, den Rückweg zum Traurigen Hund zu finden, aber das war mir in diesem Augenblick egal.
Ich wanderte umher und folgte der Menge. Wenn der Strom dünner wurde und mich in Seitenstraßen oder Wohnviertel spülte, machte ich kehrt und suchte ein Gedränge, das mich in eine andere Richtung schob. Obwohl viele Besucher in ihre Hütten und auf die Höfe zurückgekehrt waren und die ersten Straßenhändler die kleinen Baldachine aus Leder und verschossener Leinwand abbauten, waren immer noch sehr viele Menschen unterwegs. Deshalb war es nicht schwer, eine neue Menschentraube zu finden, die mich irgendwohin mit sich zog.
Als ich einen Platz erreichte, hörte ich ein wildes Durcheinander von Geräuschen – entzücktes Quietschen, vielleicht mischte sich auch Angst darunter, es war schwer zu erkennen, und viel Gemurmel. Die Art von Raunen, die entstand, wenn sich viele Leute zu den Nachbarn beugten und ihnen aufgeregt etwas erklärten, sich dabei aber bemühten, leise zu sprechen, weil sie zugleich beunruhigt und ergriffen waren. Eine einzelne, in solchen Dingen offenbar recht geübte Stimme übertönte den Lärm. In regelmäßigen Abständen vernahm ich noch etwas anderes. Es war ein fremdartiges Geräusch, eine Art durchdringendes Kreischen oder Brüllen, bei dem mir der Atem stockte und mein Bauch sich verkrampfte. Wenn es ertönte, verstummten alle anderen Geräusche vorübergehend und setzten erst nach einer kleinen Atempause wieder ein.
Mitten auf dem Platz hatten sich die Zuschauer zu einem dichten Kreis versammelt. Von einem Impuls getrieben, den ich selbst nicht recht verstehen konnte, drängte ich mich auf eine Art und Weise nach vorn, auf die Mulldoos stolz gewesen wäre. Allerdings fehlte es mir an Körpermasse, um die Leute rasch wegzuschieben, und ich bekam einige Flüche und böse Blicke ab, als die Leute erkannten, dass ich nur ein dürrer Bursche war, der sich vordrängen wollte. Geräusche wie diejenigen, die mitten auf dem Platz entstanden, hatte ich zwar noch nie gehört, aber trotzdem wusste ich irgendwie, woher sie kamen. Und als ich die obere Kante eines hohen Käfigs entdeckte, war ich sicher, dass ich richtiglag.
Freilich konnte mich diese Gewissheit nicht auf das vorbereiten, was ich dann sah.
Als Kind hatte ich mich immer gefragt, ob die Augen der Ungeheuer in den Märchen wie Laternen glühten, ob sie wie Mist oder sogar noch schlimmer stanken, welche Geräusche die Krallen machten, wenn die Ungeheuer über die Dielen des Gasthofs oder draußen direkt hinter mir über die Felder schlichen, und ganz besonders, wie ihr Brüllen und ihr Angriffsschrei klang. Nun verrenkte ich mir den Hals, um über die Leute vor mir hinwegzuspähen, und war drauf und dran, das erste Ungeheuer meines Lebens in Fleisch und Blut zu sehen.
Der hohe Käfig war gut zwanzig mal dreißig Schritte groß. In der hinteren Ecke führte ein Durchlass zu einer vergitterten Rampe, die ihrerseits mit einem stabilen Wagen verbunden war. Die Ladefläche war mit Eisenstangen gesichert und mit Holz überdacht. Zugtiere waren nicht angespannt. Ein Stück entfernt stand ein zweiter Wagen mit einer flachen Ladefläche, vor den sechs sichtlich nervöse Ochsen geschirrt waren.
An der Seite des Käfigs gab es ein fest verschlossenes Tor. Von dort aus führte ein kurzer gesicherter Gang zu einem kleinen rechteckigen Käfig, der sich innerhalb des größeren Gefängnisses befand. Nun erst sah ich auch das Wesen, das den kleineren Käfig in der Mitte umkreiste, der im Augenblick allerdings leer war.
Das Ungeheuer war ein riesiger Vogel, gut anderthalbmal so groß wie ein Mann, mit schwarz und gelb gesprenkeltem Gefieder und einem dicken, muskulösen Hals. Der Kopf war fast so groß wie der eines Pferds, vorne ragte ein kräftiger Schnabel hervor.
Genau wie Lloi es beschrieben hatte, besaß das Untier keine Flügel, sondern dünne gefiederte Gliedmaßen, die in drei Klauen ausliefen. Zwei davon waren sehr kurz, die dritte war viel länger und gekrümmt und trug am Ende eine sichelförmige rasiermesserscharfe Kralle. Die Beine waren kräftig und stämmig wie kleine Bäume, liefen ebenfalls in mächtigen Klauen aus und warfen den Staub hoch, wenn das Wesen im Käfig hin und her schritt. Die kleinen schwarzen Augen starrten böse die Gaffer an.
Auch der Schausteller lief im Kreis herum, allerdings außen vor dem Käfig. Er trug eine offene Weste. Seine Haut, das Haar und der Gabelbart waren gleichermaßen stark eingefettet. In Nase und Ohren trug er unzählige Ringe und Stecker, auf denen die untergehende Sonne blitzte. In einer Hand hatte er einen langen Treibstock. Zwei jüngere Versionen seiner selbst, die sich nur dadurch von ihm unterschieden, dass sie statt des Vollbarts lediglich Stoppeln im Gesicht hatten und weitere Hosen trugen, liefen am Rand der Menge entlang. Einer hatte einen Eimer mit Fleisch dabei, der andere eine Schale, um die Münzen einzusammeln.
Die Schausteller waren gewiss keine Grashunde, versuchten aber offenbar, deren Erscheinungsbild nachzuahmen. Der Vater rief: »Meine Damen und Herren, dies ist ein echter Reißer. Das gefährlichste Raubtier im Grünen Meer. Ich habe gesehen, wie er mit einem einzigen Hieb ein Pferd getötet und ihm die ganze Kehle herausgerissen hat.«
Er wartete, bis das erstaunte Murmeln der Menge abgeklungen war. »Jetzt bekommt Ihr die Gelegenheit, auf die Ihr schon lange gewartet habt. Für einen kleinen Beitrag könnt Ihr das Ungeheuer von draußen füttern.« Er deutete mit dem Treibstock auf den kleineren Käfig in der Mitte. »Die Mutigen unter Euch können auch erleben, wie es ist, dem Reißer sehr nahe zu kommen. Ihr könnt spüren, wie sich die letzten Augenblicke anfühlen, wenn man ihm als Beute dient und zerfleischt wird.« Mehrere Zuschauer keuchten, worauf er lächelte und ein paar silberne Zähne zeigte. »Nur keine Angst – das Ungeheuer mag stark und schnell sein, aber kein Reißer kann die Stangen zerbrechen oder verbiegen. Da drinnen seid Ihr völlig sicher und könnt trotzdem etwas erleben, das außer Euch noch niemand erlebt hat.« Er hob die Stimme noch weiter. »Wer unter Euch will nun das Ungeheuer füttern, dessen Blutdurst niemand stillen kann?« Er betrachtete den Reißer, dann wieder die Menge. »Und wer unter Euch wagt sich in den inneren Käfig? Du vielleicht?« Er zielte mit dem Treibstock auf ein verschrecktes Mädchen. »Oder Ihr?« Ein Mann, der ein paar Reihen weiter hinten stand. »Oder vielleicht Ihr, junger Herr?« Er deutete auf einen Bauern, dessen Mädchen sich eng an ihn schmiegte.
Nach kurzem Zögern lief ein Junge nach vorne und warf eine Münze in die Schale. Der Sohn des Schaustellers spießte mit einer langen Gabel ein Stück Fleisch auf und gab dem Jungen einige Anweisungen, die vermutlich vor allem darauf hinausliefen, ja keinen Arm in den Käfig zu stecken. Dann trat er zur Seite und machte dem Jungen Platz, der langsam zum Käfig ging und das Fleisch vor sich hielt, wenngleich nicht so hoch, dass ich es sehen konnte.
Einige Schritte vor dem Gitter blieb er stehen, das Fleisch ragte gerade eben hinein. Der Reißer ließ sich nicht zweimal bitten. Mit erstaunlicher Geschwindigkeit machte er zwei rasche Schritte quer durch den Käfig. Der Junge fuhr zurück und ließ die Gabel fallen, worauf die Zuschauer lachten. Der Reißer störte die Belustigung, indem er den Schnabel hob und wieder ein schrilles Kreischen ausstieß, dass einem das Blut in den Adern stockte. Die Zuschauer murmelten untereinander, und der Schausteller ermunterte den Jungen, das Fleisch wieder in den Käfig zu halten. »Kind, die Stangen schützen dich! Beherrsche dich und füttere das Untier!«
Der Junge machte einen Schritt, in der Menge johlten ein paar andere Jungen. Er schob das Fleisch durch die Stangen, und der Reißer fuhr herum und riss es von der Gabel. Dabei hätte er fast das Werkzeug mitgezerrt.
Die Menge jubelte. Bleich und erschüttert hob der Junge den Arm, als hätte er einen gewaltigen Feind besiegt oder wäre dem sicheren Tod entronnen.
Dann marschierte ein Freund des Jungen, der ihn offenbar ausstechen wollte, zu dem Sohn des Schaustellers und fragte so laut, dass es alle hören konnten: »Was kostet es, nach drinnen zu gehen?«
Es wäre überzeugender gewesen, wenn dabei nicht seine Stimme gebrochen und die Augen nicht hinter dem zerzausten Haar verborgen geblieben wären, aber immerhin war es doch eine hübsche Angeberei. Ich weiß nicht, in welcher Situation solche Burschen dümmer sind: Wenn sie ihr eigenes oder das andere Geschlecht zu beeindrucken versuchen. Wie auch immer, die Menge applaudierte anerkennend, als wäre dies ein harmloses Puppentheater und kein Junge, der sich freiwillig in die gefährliche Nähe einer tödlichen Kreatur begab.
Der Schausteller klatschte zweimal in die Hände. »Sehr gut, sehr gut. Hier entlang, mein Junge, hier entlang!« Er führte ihn zu dem vergitterten Durchgang und schloss das Tor auf. Der Reißer achtete kaum auf den idiotischen Jungen, dem der Schausteller gerade eine lange Gabel mit einem großen Stück blutigen Fleischs gab. »Pass gut auf, Junge. Wenn du da drin bist, musst du den Stangen fernbleiben.«
Der Junge schnappte sich die Gabel. »Ich passe auf das auf, worauf ich aufpassen will, alter Mann. Du hast mir gar nichts zu sagen.«
Es war nicht zu erkennen, ob es nur das Spiel der Schatten war oder tatsächlich blitzschnell ein Anflug von Wut über das Gesicht des Schaustellers zog. Falls Letzteres zutraf, so sorgte die Gegenwart des zahlenden Publikums dafür, dass der Unmut rasch wieder verschwand. Er verneigte sich. »Wie Ihr wünscht, junger Herr. Trotzdem werden meine Söhne immer in der Nähe sein, also keine Angst.«
»Bestimmt nicht«, behauptete der Junge und machte ein paar Schritte in den gesicherten Korridor hinein. Die ersten beiden erfüllt von dem dummen Überschwang, den ein Jugendlicher jederzeit mühelos an den Tag legen konnte, den dritten zögernd, weil ihn der Reißer von der anderen Seite des Geheges aus neugierig beobachtete. Vielleicht auch abschätzend. Der Junge bemerkte es, spürte es und hielt inne.
Nun rief der Schausteller: »Mitten hinein, Junge, mitten hinein. Da ist es sicherer. Gehe mitten hinein und füttere ihn von dort aus.«
Als ihn der Reißer direkt anstarrte, die Augen so sanft wie geschmolzener Stein, dämmerte dem Jungen, worauf er sich eingelassen hatte, und er eilte weiter. Es kam ihm nicht mehr darauf an, irgendjemanden zu beeindrucken. Die Söhne des Schaustellers folgten ihm.
Der Reißer öffnete den riesigen Schnabel. Ich rechnete mit einem weiteren drohenden Kreischen, doch er stieß nur ein gedehntes leises Fauchen aus und verfolgte den Jungen, der sich jenseits der Gitter bewegte, weiter mit seinen Blicken. Schließlich stand der Junge mitten in dem geschützten Bereich und starrte das Wesen an, das ihm von dort aus sicherlich viel beeindruckender und gefährlicher erschien als vorher in der Gesellschaft der anderen dummen Jungen.
Der Schausteller wanderte wieder um den Käfig herum und rief: »Das Fleisch, Junge. Tritt an das Gitter heran. Nahe, aber nicht zu nahe, und halte es dem Ungeheuer hin. Hilf ihm, Askill.« Der Junge reagierte nicht, sondern blieb einfach in dem Käfig stehen, die Arme hingen an den Seiten herab, als wären sie festgebunden. Der größere Sohn des Schaustellers trat neben ihn und zeigte ihm, wie es weiterging, während der andere den Reißer beobachtete.
In der Menge ließen sich ein paar Freunde des Jungen vernehmen, aber es war schwer zu erkennen, ob es Ermunterung oder Spott war. Wahrscheinlich ein wenig von beidem.
Der Junge sah sich zum Publikum um. Er wirkte jetzt erheblich jünger als vorher und wünschte sich offenbar, er hätte den Mund gehalten und wäre draußen geblieben. Dann aber trat er näher an das Gitter heran und hörte Askill zu. Langsam hob er die Gabel und schob sie ein paar Handbreit weit hinaus. Am Ende baumelte das Fleisch.
Ich überlegte noch, welchem Tier das Fleisch einmal gehört haben mochte, da hob der Reißer den Kopf. Abwechselnd starrte das Untier den Jungen und das an, was in erreichbarer Nähe vor dem Gitter hing. Fast schien es, als beobachtete und berechnete das Wesen, um einzuschätzen, wie stark der Junge war. Oder wie schnell.
Das Wesen machte ein paar Schritte ins Zentrum des Käfigs und sah abermals den Jungen an, der die Gabel zwischen zwei Gitterstäben hinausstreckte. Und dann, als hätte es den Jungen mit einem Zauber an Ort und Stelle gebannt, machte es drei Schritte – so groß, unerwartet und blitzschnell, dass man es kaum glauben konnte. In einem Augenblick war er noch zwanzig Schritte von dem kleineren Käfig in der Mitte entfernt, im nächsten stand der Reißer vor dem Gitter und schnappte nach der Gabel.
Dann drehte das Ungeheuer den großen Kopf ruckartig zur Seite, aber statt loszulassen, wie man es ihm vermutlich eingeschärft hatte, hielt der Junge fest, wurde bis ans Gitter gezogen und prallte mit der Schulter dagegen. Als er endlich losließ, war es schon zu spät. Der Reißer schob die dünnen Arme zwischen den Stäben hindurch und packte das Handgelenk des Jungen mit den kleinen Klauen. Jetzt kreischte er. Die Söhne des Schaustellers stachen mit den Treibstöcken zu, waren aber nicht schnell genug. Der Reißer zog den Arm des Jungen durch die Stäbe, ließ die Gabel fallen und schnappte mit dem großen Schnabel nach dem Unterarm, den er mit den Klauen festhielt.
Askill und sein Bruder stachen dem Reißer die Stöcke in die Seite, doch einen wehrte er mit der sichelförmigen Kralle des freien Armes ab, und den zweiten ignorierte er ganz und gar. Askill sprang zurück, als der Reißer zweimal zubiss. Man hörte Knochen brechen und Fleisch zerreißen, während das Opfer aufschrie. Dann stürzte der Junge gegen den jüngeren Sohn des Schaustellers und stieß ihn und den Treibstock zurück. Aus dem verstümmelten Unterarm spritzte das Blut.
Der Reißer entfernte sich mit einem Sprung vom Käfig und war außer Reichweite der Treibstöcke. Zweimal kaute er die abgetrennte Hand im Schnabel, dann verschluckte er sie.
Abgesehen von gelegentlichen spöttischen Rufen einiger Jungen, hatte sich die Menge bisher eher ruhig verhalten. Jetzt aber waren überall Schreie zu hören. Viele Zuschauer verlangten lautstark nach der Stadtwache. Der Junge stieß einen letzten Klagelaut aus, ehe er zu Boden sank und das Blut anstarrte, das aus dem Armstummel spritzte. Askill rief nach dem Vater, der Bruder bedeckte unterdessen die Wunde mit dem Hemd und versuchte, die Blutung so gut wie möglich zu stillen. Dabei sah er sich Hilfe suchend um.
Als ich den Jungen betrachtete, der schockiert den verletzten Arm mit dem gesunden stützte, während sich die fehlende Hand im Bauch des Reißers auflöste, musste ich an Lloi denken, die in ihrer Jugend verstümmelt worden war. Ich fragte mich, wie ihre Familie das getan hatte und ob sie danach ebenso schockiert die blutigen kleinen Stummel angestarrt hatte, wo vorher die Finger gewesen waren. Auch wenn sie vermutlich schon lange mit dieser Strafe gerechnet hatte, konnte man denn wirklich darauf vorbereitet sein, dass einem ein Körperteil einfach abgehackt wurde? Hatte sie ihr Schicksal hingenommen oder sich gewehrt? Hatten sie diejenigen, die sie für ihre Verwandten gehalten hatte, am Ende fesseln müssen? Wenn ich Lloi richtig einschätzte, dann hatte sie sich vermutlich erbittert gewehrt und wahrscheinlich sogar einige Angehörige verletzt, ehe es vollendet war.
Was hätte sie wohl zu diesem gefangenen Reißer, dem Anjurier und seinen Söhnen gesagt, die das Ungeheuer von Stadt zu Stadt schleppten, um den Zuschauern einen billigen Nervenkitzel und eine gefährliche Attraktion zu bieten? Hätte sie ihn gehasst und ihm etwas Böses gewünscht? Wahrscheinlich nicht. Trotz der Misshandlungen hatte sie nicht einmal ihr eigenes Volk gehasst.
Das konnte mich freilich nicht besänftigen. Die Szene hatte mich wütend gemacht, und ich wollte den Schausteller anschreien, er sei ein Scharlatan und ein Schurke, und er selbst hätte es verdient, einen Arm zu verlieren. Fast war es, als hätte er den Jungen selbst verstümmelt. Auf jeden Fall zog er einen Nutzen daraus. Einen irren Augenblick lang überlegte ich, ob das Untier ihn angreifen würde, seinen Häscher und Peiniger, wenn es mir irgendwie gelänge, den Käfig zu öffnen. Oder würde es weglaufen oder vielleicht sogar einen Unschuldigen in der Nähe anfallen?
Da fiel mir ein, wie dumm es wäre, den Schausteller anzuschreien. Nicht nur, weil ich damit nichts erreichen würde, sondern auch, weil in diesem Getümmel sowieso niemand auf mich hören würde. Und selbst wenn, damit hätte ich nur unerwünschte Aufmerksamkeit erregt. Gleich als Nächstes wurde mir bewusst, wie dumm ich mich ganz allgemein verhalten hatte.
Meine Bitte, Braylar möge den jungen Hornmann im Gras verschonen? Dumm. Nicht sofort zum Traurigen Hund zurückkehren, nachdem ich ihn auf dem Jahrmarkt erkannt hatte? Ungeheuer dumm. Und Flusstal mit den Syldoonern zu verlassen war vermutlich das Dümmste, was ich überhaupt jemals getan hatte. Aber es war zu spät, es war geschehen, ich konnte es nicht rückgängig machen. Also blieb mir nichts anderes übrig, als zum Traurigen Hund zu laufen und zu versuchen, so gut wie möglich mit alledem zurechtzukommen.
Schweren Herzens und mit einem flatternden Gefühl im Bauch verließ ich den Platz und kehrte zum Gasthof zurück, ohne mich auch nur einmal über die Schulter umzusehen. Meine Füße waren schwer, obwohl ich mich endlich in die richtige Richtung bewegte.