Alexandra Kui
MARIAS LETZTER TAG
Roman
Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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1. Auflage 2015
© 2015 by cbt Verlag
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlaggestaltung: semper smile, München
Umschlagmotive: Shutterstock (Liashko, OhHishiapply)
mi · Herstellung: kw
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-15073-0
V002
www.cbt-buecher.de
PROLOG
Kumulonimbus. Eine sehr junge Frau, fast noch ein Mädchen, inmitten eines Weizenfelds, sie trägt ein Kleid, blau wie weite Teile des Himmels, ein Flatterkleid mit Blümchenmuster. Strohblumen oder so. Sie hat auch Blümchen im Haar, und das Kleid ist kurz, denn sie will um jeden Preis gefallen, sie ist nicht allein. Bei ihr ist ein Junge, den sie mit dem Handy filmt: rothaarig, sommersprossig, einen Weizenhalm im Mundwinkel als Zigarettenersatz. Superheldenblick.
Sie ist süchtig nach diesem Blick, nach einem ganz bestimmten Lebensgefühl, das er verkörpert. Danach, es mit der Kamera einzufangen und festzuhalten für die Ewigkeit. Ein großes Gefühl, einer Ewigkeit würdig. Genau wie dieser Sommer.
Alles ist möglich. Der Weizen verfärbt sich bereits von Grün zu Gold, steht gerade mal kniehoch. Der Wind frischt auf, zerrt am Flatterkleid, verwandelt das Feld in ein grüngolden wogendes Meer. Unfassbar schön sieht das aus. Trotz oder gerade wegen dieser Gewitterwolke, die über alldem heranwächst: Kumulonimbus. Ein mächtiger Amboss, eine unkontrollierbare Zusammenrottung ursprünglich harmloser Schäfchenwolken.
In der Masse fühlen sie sich unbesiegbar. Weil sie es sind.
Schon grollt es von fern, zucken Blitze kreuz und quer, ein Anblick wie ein Netz von Nervenzellen, abgebildet in ihrem Biobuch unter dem Stichwort Großhirnrinde. Ausgerechnet jetzt muss sie an die Schule denken. Daran, dass sie eigentlich zu Hause sein sollte, um zu lernen, der Endspurt vor den großen Ferien hat längst begonnen, ist eigentlich schon vorbei. Dass ihre Oma das Blümchenkleid zu kurz findet für den Unterricht. Nuttig, hat sie gesagt, um genau zu sein. Die Oma: zu allem hat sie eine Meinung, selten eine gute.
Kein Blau mehr am Himmel, dafür eine Fülle anderer Farben: Grau, Gelb, Purpur, Schwarz. Erste Sturmböen lassen die junge Frau taumeln, doch sie fängt sich. Ihr Begleiter reißt beide Arme in die Höhe, ruft etwas gegen den Wind. Man versteht kein Wort.
Sie starrt ihn an, weiß nicht, ob sie lachen oder heulen soll, so ungeheuerlich viel passiert gerade mit ihr. Sie entscheidet sich für irgendwas dazwischen. Die Wucht des Augenblicks. Das Krachen der Donnerschläge. Das Schwinden des Lichts. Bald wird die Welt sich auflösen, zerrinnen in den Wassern einer kurzen, zornigen Frühsommersintflut.
Eigentlich fürchtet er sich vor Gewitter. Dort, wo er herkommt, gibt es keine. Es ist zu kalt.
Muss sie ihm sagen, dass es ab sofort gefährlich wird? Unsinn, deshalb sind sie ja hier.
Die Neuronendrähte am Himmel glühen. Gottes Großhirnrinde, denkt sie und hält mit dem Handy drauf. Eigentlich ist sie kein Stück gläubig, weder getauft noch konfirmiert, wäre es manchmal gern wegen der einfachen Antworten auf schwierige Fragen, und dann wieder nicht – aus demselben Grund. In letzter Konsequenz hält sie sich für eine Realistin, glaubt nur an das, was sie konkret vor sich sieht, vor allem dann, wenn sie es filmt.
Als der Regen über sie hereinbricht und binnen Sekunden in Hagel übergeht, gibt es einen Knall, so laut, dass sie beide Hände an die Ohren presst, das Handy landet im Weizenfeld. Reiner Instinkt, sie hat es nie zuvor fallen lassen, hütet das kleine, kostspielige Wunderwerk wie ihren Augapfel (was es im Grunde ja auch ist).
Ein lauter, hoher Ton kreist in ihrem Kopf wie ein gefährliches Insekt. Sonst hört sie nichts mehr. Sie ist klitschnass. Die Erde bebt.
Wie lange er schon so daliegt, der Junge mit den roten Haaren und dem Superheldenblick, der ihr so gut gefällt, dass es manchmal schon wehtut, weiß sie nicht. Eben stand er noch, die Arme hoch in die Luft gestreckt. Jetzt liegt er, ohne einen Mucks von sich zu geben, und rührt sich nicht mehr. Augen geschlossen. Der Blick weggewaschen vom Regen.
Anstatt sofort zu ihm hinzurennen, ihn zu beatmen, sein nordisches Kaltblüter-Herz wieder zum Schlagen zu bringen, bleibt sie zunächst stehen, stocksteif. Wasser rinnt über ihr Gesicht, Hagel, Tränen, Regen – egal. Sie schreit seinen seltsamen Namen. Und etwas in seiner Sprache, das sie ihm schon längst hätte sagen sollen:
Ég elska þig
Und was kommt jetzt? Happy End? Offenes Ende? Melodram?
So ganz habe ich es selbst noch nicht begriffen. Das Mädchen mit dem Blümchenkleid und dem teuren Handy war ich, eigentlich hätte der Blitz mich treffen sollen. Ich war die Größere von uns beiden. Diejenige, die streng genommen an allem schuld war, was passierte.
Dies ist meine Geschichte, ich betrachte sie wie ein selbst gedrehtes Video, das mich nicht loslässt, spule vor und zurück, vor, zurück und versuche, mir einen Reim darauf zu machen, besser noch, an den richtigen Stellen zu schneiden, doch das Leben ist nun mal kein Film. Schneiden ausgeschlossen. Löschen erst recht.
Ich versuche, alles der Reihe nach zu erzählen, aber manchmal schweife ich ab, das lässt sich nicht ändern. In meinem Kopf herrscht immer noch Chaos. Ständig betrachte ich die alten Clips. Oder Bilder. Durchforste beim Schreiben das Netz nach dem verbotenen Hashtag, während das schlechte Gewissen an mir nagt.
Das Gewitter hätte den perfekten finalen Cut abgegeben, doch danach hörte es noch lange nicht auf. Denn wir konnten den Hals einfach nicht vollkriegen, adrenalinberauscht, größenwahnsinnig, glücklich wie wir waren, hatten wir kein Gespür dafür, wann Schluss ist. Mal ehrlich: Wer hat das schon?
In jenem verrückten Sommer überkam mich plötzlich das Gefühl, ich hätte etwas zu sagen, etwas Dringendes, also tat ich es auch. Mit nie gekannter Hingabe widmete ich mich meinem ersten Videoblog: Marias letzter Tag. Auf einmal war ich so zielstrebig, wie ich es schon immer hatte sein wollen. Wie meine Eltern es von mir erwarteten – nur dass meine Ziele ihnen Rätsel aufgaben.
Es war auch der Sommer, als ich endlich aufhörte zu wachsen und begann, mich hübsch genug zu finden, um mit einem eigenen Video-Channel auf Sendung zu gehen, der Name ergab sich.
Juni, Juli, August, drei Monate ohne Angst, drei Monate, in denen die Dinge aus dem Ruder liefen. Zuerst Maria (auch wenn sie das bis heute leugnet), dann der Regen und bald darauf die Flüsse, woran natürlich der Regen schuld war – und zuletzt wir alle.
Es glich einem sanften Fieber, sanft deswegen, weil wir uns nicht matt fühlten, sondern gestärkt. Unsere Glieder schmerzten nicht. Wir waren voll da. Es ging nie um Mutproben, das haben die meisten leider nie kapiert. Wir kämpften nicht darum, unsere Ängste zu überwinden, über diesen Punkt waren wir hinweg. Wir hatten einfach keine mehr.
Bis wir begriffen, dass wir zu weit gegangen waren …
ERSTER TEIL
Eisberge
Niemand, niemand kennt mich wie du
Unbedingt ich geb alles zu
Keine Enttäuschung
Kein einziges Mal
Aber dir ist eh alles egal
Bald bin ich nichts
Und das, was dann bleibt
Ist deine Wenigkeit
(Walzer für Niemand, Sophie Hunger)
Schlaflos
Nacht über der Titanic. Das Schwarz ist vollkommen, kein Mond, keine Sterne. Die schlimmste Etappe der Nacht, die letzten Stunden vor der Dämmerung, die Dunkelheit drückt gegen die Fenster, will rein, denn kälter als jetzt wird es nicht mehr. Egal ob Sommer oder Winter, Plus- oder Minusgrade, immer und immer wieder, weit nach Mitternacht, gibt es diesen Tiefpunkt. Ein Eisberg, der gerammt werden will, jede Nacht.
Ich höre den Regen aufs Dach prasseln, Tropfen hart wie Kiesel, der Fernseher muss lauter, sonst kommt er gegen die Nacht nicht an. Die Fernbedienung ein Tropf mit überlebenswichtiger Medizin in meiner linken Hand. Die Gewissheit, dass die Welt da draußen noch pulsiert. Dass ich ein Teil von ihr bin – und am Leben.
Ich werde sterben.
Lautstärke zehn, elf, zwölf. Immer noch zu leise, aber mehr ist nicht drin. Im ersten Stock, direkt unter mir, brauchen meine Eltern ihren Schlaf. Ich schalte um. Ein dicklicher Engländer, der schnell redet, kocht ein schnelles Essen. Auf einem anderen Sender marschieren schlanke Soldaten in Schwarz-Weiß schweigend und langsam los, um einen Weltkrieg zu verlieren. Der NDR zeigt Amerika in HD, Grand Canyon von oben, die Stimme des Sprechers ist ein langer, ruhiger Fluss ohne Stromschnellen, anders als der Colorado, der am Grund der Schlucht fließt. Der sie überhaupt erst geformt hat. Der Colorado ist wild und wütend. Wie unbezwingbar Wasser sein kann, das weiß bei uns jedes Kind. Eine neue Erkenntnis: Colorado heißt roter Schlamm. Hier im Norden, im nassen Dreieck, ist Schlamm immer schlammfarben.
Wenn mich einer zum Einschlafen bringen kann, dann dieser Amerika-Märchenonkel mit seinem sonoren Bass. Er bekommt seine Chance, aber er nutzt sie nicht. Ich nutze sie nicht, denn ich bin wach. Wacher. Hellwach. So wach, wie ich tagsüber in der Schule sein müsste. Wach wie das Kaninchen vor der Schlange. Wie Frederick Fleet (der Matrose im Ausguck der berühmteren Titanic) im Angesicht des Eisbergs.
Der Regen wird lauter, die Dunkelheit drückt härter, mit aller Kraft. Nur die Nacht ist noch wacher als ich. Meine Beine und Arme kribbeln, ich setze mich auf, möchte schreien und lasse es bleiben, lege mich wieder hin.
Als die Türklinke sich bewegt, schließe ich die Augen, nehme eine für mich typische Schlafhaltung ein, Seitenlage, Beine angewinkelt, Kopf tief in der Armbeuge vergraben. Meine Mutter schleicht ins Zimmer, ich spüre einen schwachen Windhauch, dann ihren Blick, wie er mich von oben bis unten abtastet. Das Kribbeln ist kaum auszuhalten. Als würden die Muskeln für die Stimme das Schreien übernehmen. Jetzt bloß nicht blinzeln.
»Bist du wieder vorm Fernseher eingeschlafen?«
Nein, ich bin wieder vor dem Fernseher nicht eingeschlafen. Tröste mich!
Über meine Lippen kommt kein Wort, ich liege schlaff und reglos da wie eine Puppe, nur das Zittern meiner Lider bleibt unkontrollierbar und macht mich verdächtig.
Mama weiß Bescheid, weil sie meine Mutter ist, eine Rolle, die sie ganz gut beherrscht, wie ich finde, nicht perfekt, aber für eine unperfekte Tochter wie mich muss es reichen. Mehr Kinder hat sie nie gewollt und auch nicht gekriegt.
»Du kannst nicht die ganze Nacht fernsehen, Lou. Das geht nicht.«
Sie hat es so kommen sehen, war strikt dagegen, den Fernseher für mein Zimmer zu kaufen. Zu groß, zu ungesund, Geldverschwendung. Reicht denn nicht der Computer? Das lächerlich überteuerte iPhone? Das Getippe und Gebrabbel und Gedaddel tagein, tagaus? Nein, nein und nochmals nein! Am Ende stand es zwei zu eins gegen sie. Auf meinen Vater ist in solchen Dingen Verlass. Der Rubel muss rollen, ist seine Devise. Kaufen oder sich verkauft fühlen. Wofür geht er schließlich arbeiten!
Ein Schatten über meinem Gesicht, Mamas Duft, derselbe wie früher beim Gutenachtgeschichten-Vorlesen. Zimt und Honig. Meine Lieblingsgeschichte war Nils Holgersson (der mit den Wildgänsen davonfliegt). Nicht um ihre Hand auf meine Stirn zu legen, beugt sie sich über mich (das ist schon okay, ich bin schließlich kein Kleinkind mehr), sie hat es auf die Fernbedienung abgesehen. Ich umklammere das längliche Stück Plastik, so fest es geht.
»Der Fernseher bleibt an.«
»Lou!«
»Lass los. Der Fernseher bleibt an.«
»Du musst jetzt schlafen. Morgen ist Schule.«
»Ich kann aber besser schlafen, wenn der Fernseher an ist.«
Was keineswegs gelogen ist. Besser heißt ja nicht automatisch gut.
Mama gibt die Fernbedienung frei, verlegt sich aufs Reden. Thema Schule. Es geht um Leistungsfähigkeit, gesunden Schlaf, schädliches blaues Licht und wie es irgend so ein hochwichtiges Schlafhormon ausbremst. Dass meine Augen Schaden nehmen könnten. Dass Elektrogeräte nicht ans Bett gehören. Sie weiß, wovon sie spricht. Meine Mutter liest viel über Krankheiten und merkt sich alles genau, als könnte jederzeit jemand vorbeikommen und sie abfragen, an ihr ist eine Ärztin verloren gegangen.
Ich fühle mich angemessen kunstlichtverstrahlt und schlafhormonell unterversorgt und richte meine Konzentration auf die Stimme aus dem Fernseher, die so viel ruhiger und tiefer ist als ihre. Die Hoover-Talsperre staut den Colorado zu einem See und erzeugt jährlich vier Milliarden Kilowattstunden Strom. Die Flussmündung liegt in Mexiko, dort kommt nur noch ganz wenig Wasser an, und das auch nur unterirdisch. Bei uns gibt es keine Stauseen, sondern Sperrwerke. Wasser nie zu wenig, oft zu viel. Große und kleine Flüsse, meterhoch eingedeicht, Bäche, Fleete, Kanäle, Gräben, Fischteiche, Pfützen, Moore. Gespeist durch unterirdische Quellen, aufsteigendes Grundwasser, aber vor allem durch den Regen. Regen in allen erdenklichen Variationen. Keine Großwetterlage fühlt sich hier so zu Hause wie die atlantischen Tiefausläufer. Wind meistens stramm aus Nordwest.
»Hast du mir überhaupt zugehört?«
Sehe ich so aus?
»Ich schalte gleich ab, versprochen. Nur noch fünf Minuten, okay?«
Mama seufzt. »Dann stell wenigstens den Ton leiser. Papa muss ganz früh raus.«
Muss er immer. Und die Titanic, auf der ich zu Hause bin, ist leider sehr hellhörig. Von außen Backstein auf Backstein, von innen alles Pappe.
Ich reduziere die Lautstärke auf neun. »So?«
»Okay.« Sie tritt den Rückzug an. »Aber nur noch fünf Minuten. Sei vernünftig. Denk an die Schule.«
Unentwegt. Denkt überhaupt irgendjemand mal einen halben Tag lang nicht an die Schule? Niemand, den ich kenne.
Noten Klausur Abschlussarbeit Referat Druck Freunde Hausmeister
Lieblingslehrer Schulbus Handyverbot Turnhalle Mief
Hausaufgaben Mobbing Schule verliebt Lästern Quatsch
Klassenfahrt Clique Loser Beautyqueen Klassenclown Angst Selbstmord
Opfer Einsamkeit
#mariasletztertag, 3 Videos, 45 Sekunden insgesamt, gepostet auf Instagram von nobody_is_unperfect
Ein Klassenzimmer wie tausend andere. Stühle und Tische in U-Form, Plastik und Resopal. Handys verboten, Reden sowieso. Lachen unter Umständen erlaubt, aber nur bei bestimmten Witzen. Die Lehrerin: keine Stilikone (Überraschung!), Kurzhaarschnitt in Grau meliert, bequeme Schuhe, Nägel nicht gemacht. Wie der Raum und sein Mobiliar sieht sie aus, als würde sie den Job schon ein paar Jahre machen. Eher ein paar zu viel. Sonst würde sie nicht so schreien.
Wie kann sie so schreien? Nicht, dass man es hören würde – Nobody_is_unperfect hat gnädigerweise die Tonspur ausgetauscht –, das ist auch nicht nötig, wir alle wissen genau, wie es klingt, angeschrien zu werden, weil wir unser Handy benutzt, geredet oder uns untereinander angeschrien haben, was wir andauernd tun, zugegeben. Aber Lehrer sollten nicht schreien, oder? Sie stellen diese ganzen Regeln auf, also müssten sie die Ersten sein, die sie befolgen. Mit gutem Beispiel voran. Diese Lehrerin jedenfalls schreit sich den Frust aus dem Leib, in ihrem ungeschminkten Mausgesicht steht die Überzeugung, dass die Schüler früher besser waren. Besser erzogen. Besser angezogen. Besser gezeugt von besseren Eltern.
Lehrer – auch nur Menschen, schon klar. Manche haben etwas Heldenhaftes an sich. Aber wie viele von ihnen sind eigentlich nur deswegen Lehrer geworden, weil es für etwas anderes nicht gereicht hat? Zu viele, ganz sicher. Diese Lehrer mögen uns nicht, was wir spüren, daher mögen wir sie auch nicht. Ihre offensichtliche Hilflosigkeit. Ihre Arroganz. Eingeständnis der Niederlage, den Absprung in das Leben, von dem sie als Schüler träumten, nicht geschafft zu haben. Sie denken wahrscheinlich, ihre Wutausbrüche würden an uns abprallen, sind wir doch selbst meistens viel zu laut, aber leider irren sie sich. Etwas bleibt hängen. Etwas Verdorbenes.
Auf dem Video also Musik statt Geschrei, ein richtig cooler Stinkefinger-Song von der Art, we are young, ihr könnt uns alle mal, und zwar kreuzweise. Harte Beats. Die Bässe voll aufgedreht.
Irgendwann (2. Filmschnipsel) steht eine Schülerin auf, Kopftuch und Nägel in Flieder, die dunkel schimmernden Tausendundeine-Nacht-Augen geschminkt wie eine Hollywood-Diva bei der Oscarpreisverleihung. Die Handykamera schwenkt eilig von der Lehrerin rüber zu ihr. Fängt ein, wie sie nach vorn geht, nicht an, sondern neben die Tafel, wo eins von diesen fiesen Benehmt-euch-Plakaten pinnt: Wir gehen respektvoll miteinander um! Das Plakat hängt hoch, die Schülerin kommt gerade so ran. Streckt ihren Zeigefinger aus und lässt ihn unter dem Ausrufezeichen ruhen. Der fliederfarbene Nagel.
RESPEKT!
3. Filmschnipsel: langsamer Schwenk zurück auf die Lehrerin, schreit weiter, merkt nichts. Der Song peitscht seinem Höhepunkt entgegen. Erst als fast alle aus der Klasse aufgestanden und nach vorn gegangen sind, stumm, mit gesenkten Köpfen, auf ihre ganz eigene Art diszipliniert, und ihrerseits ebenfalls auf das Schild deuten, verschlägt es ihr endlich die Sprache.
Die Schule, die Schule, die Schule. Wir wissen, worauf es im Leben ankommt, das haben sie uns früh genug eingetrichtert. Es fällt einem nichts in den Schoß, man muss sich am Riemen reißen. Wir wollen niemanden enttäuschen, Erfolge einheimsen, allen Erwartungen gerecht werden. Besonders den eigenen. Gute Noten sind erste Tochterpflicht, Abi (der Durchschnitt am besten überdurchschnittlich), Studium mit Prädikatsexamen, später irgendwo arbeiten, wo sich Beruf wie Berufung anfühlt, bloß keinen Job, der sich einfach nur bezahlt macht. Papa hat so einen, muss immer früh raus. Seine Leistungsfähigkeit: vorbildlich, in seinem Schlafzimmer flimmert kein blaues Licht. Gegen sein Fenster drückt keine Dunkelheit.
Oder?
Mein Vater wird sterben.
Seit einer Weile misst er jeden Morgen seinen Blutdruck. Nicht seine Idee, Mama will es so: Kann ja nicht schaden. Geht schnell, macht keine Mühe. Sicher ist sicher. Die Männer in unserer Familie werden nicht alt. Außer Opa Friedhelm, der ist zäh.
Neulich in Geschichte, Thema: die Weiße Rose. Sophie Scholl, Studentin, Widerstandskämpferin im Dritten Reich, hat nachts in Teerfarbe Freiheit an Münchener Mauern geschrieben, »die Nacht ist des Freien Freund«, soll sie am Abend davor zu ihrer Schwester gesagt haben, so ist es überliefert. Der Satz geht mir nicht mehr aus dem Kopf.
Denn meine Freundin ist die Nacht nie und nimmer. Begründung: weil ich nicht frei bin. Die Erkenntnis hat mich umgehauen. Was nützt es, in einem freien Land zu leben, wenn man sein eigenes Gefängnis mit sich rumschleppt? Wenn man nicht mehr schlafen kann. Freiheit der Rede. Versammlungsfreiheit. Glaubensfreiheit. Die großen Themen in Gemeinschaftskunde. Aber was glauben? Worüber reden? Wen um mich versammeln? Bei mir hat sich genau die Sorte Nacht eingenistet, die es gerade mit den Freien nicht allzu gut meint.
Fünf Minuten sind sicher schon um. Versprochen, habe ich gesagt, und ich lege Wert darauf, meine Versprechen einzuhalten. So haben meine Eltern mich erzogen. Lüg nicht. Rede nicht schlecht über andere. Stehe zu deinem Wort.
Es kostet mich viel Überwindung, aber nach einer kurzen heftigen Rangelei mit meinem Gewissen schalte ich den Fernseher aus, adieu Colorado, die plötzliche Stille rauscht über mich hinweg wie ein Güterzug auf der Eisenbahnbrücke im Wald. Mutprobe Kindergarten: einfach nur darunter stehen bleiben, ohne sich die Ohren zuzuhalten. Mutprobe dritte Klasse: auf den Schienen darüber balancieren, ohne zu wissen, wann der nächste Zug kommt. Heute sind wir zu alt für Mutproben. So steinalt und abgeklärt, dass wir glatt durchfallen würden.
Meine Panik ebbt ab, mit Mühe beginne ich, meine neue, fernsehbildlose Umgebung wahrzunehmen. Der Regen hat nachgelassen. In das eben noch so ölige Schwarz am Himmel sickert bereits ein fahles Grau. Bald ist es geschafft, wieder eine Nacht besiegt, Gott sei Dank, der Funker im Großhirn kann aufhören, S. O. S. zu funken.
Das Gefährliche an der Dunkelheit ist, dass man trotz der Undurchdringlichkeit nicht zu wenig sieht, sondern zu viel. Alles, wovor ich tagsüber die Augen verschließe, einfach indem ich sie auf etwas anderes richte, tritt in den Vordergrund.
Ich werde sterben. Wahrscheinlich dauert es noch lange, ich bin nicht schwer krank oder so. Aber ich ängstige mich davor, dass genau das passieren könnte, dass irgendetwas Schreckliches mit mir passieren könnte, und diese Angst ist wie eine Krankheit an sich. Etwas Lebendiges, was sich in mir eingenistet und nicht nur meine Gedanken unterworfen hat, sondern auch meine Organe. Es lässt mein Blut abwechselnd kochen oder in den Adern gefrieren. Boxt mir in den Magen. Schnürt meine Kehle zusammen. Macht mich blind und taub für die Welt, sodass es Tage gibt, an denen ich anwesend bin und zugleich weit, weit weg. Angst. Intelligent wie ein Virus. Nimmersatt wie ein Parasit. Schmerzhaft und geduldig wie ein langsam wachsender Tumor.
Die Erkenntnis, sterben zu müssen, macht mich zu feige fürs Leben. Sophie Scholl wurde nur einundzwanzig Jahre alt. Aber die hat sie wenigstens genutzt.
Endlich Dämmerung: der Feigen Freund. Aschgrau zu Silber. Knapp eine Stunde kann ich noch schlafen, ich spüre, jetzt wird es gehen. Eine Stunde ist besser als nichts. Die Reihenhaus-Titanic schippert hellhörig durch ruhigere Gewässer. Das Klöppeln des nachlassenden Regens verbündet sich mit dem Plätschern der Dusche im ersten Stock, mein hart arbeitender Vater, gefangen im Hamsterrad seines Fleißes, macht sich wach, ganz unten in der Küche schaltet Mama das Radio ein. Der Jingle des Nachrichtensenders.
Gleich, wenn die Treppe knarrt, wenn meine Mutter aufkreuzt, um mich zu wecken, während unten an Papas Handgelenk das digitale Blutdruckmessgerät summt, um dann mit digitalem Gleichmut leicht oder mittelmäßig erhöhte Werte auszuspucken, wird sie es schon wieder schwer mit mir haben. Mein Schlaf eine Gruft, so tief. Sie muss bis auf den Grund hinabsteigen, um mich nach oben zu tragen, mehr tot als lebendig, dabei wird sie selbst in Eile sein, hübsch gemacht für die Arbeit. Weiße Seidenbluse, Bleistiftrock. Oder Hosenanzug in Taupe, goldener Haarreif. Ihre Kleider werden rascheln, die Haare knistern. Groß ist sie und elbsandblond, genau wie mein Vater, wie ich auch, wie alle in der Familie. Unsere Gesichter: länglich, mit hoher Stirn. Mama hat eine schöne Figur, schlank, aber nicht dürr, mit Rundungen an den richtigen Stellen. Gesund sieht sie aus.
Meine Mutter wird sterben.
Als ich aufs Gymnasium kam, fing sie wieder an zu arbeiten. Teilzeit. Als verwöhntes Einzelkind fühlte ich mich natürlich vernachlässigt, war aber auch stolz. Mit ihren Businessklamotten, Großeinkauf in der Hamburger Mönckebergstraße, kam Mama mir vor, als würde sie täglich für ein weltweit operierendes Hightechunternehmen Millionendeals an Land ziehen. Sie hätte auch Filmproduzentin sein können oder Moderedakteurin, jedenfalls gemessen an meinen Vorstellungen von Frauen in solcherlei Berufen. De facto ist sie bloß Mitarbeiterin einer PR-Agentur, deren größter Kunde Regenmaschinen für die Landwirtschaft produziert. Als ob es bei uns nicht schon genug regnen würde.
Wie immer wird sie sich nicht austricksen lassen. Unser Morgenritual ist ausgereift, wir mögen beide keine Experimente. Mama gibt gut darauf acht, dass ich auch wirklich aufstehe, ins Bad gehe, ohne zu sehr zu trödeln, und anschließend in der Küche haltmache, um einen Happen zu essen und meine Lunchbox (Käsebrot, Paprikastifte) in der Umhängetasche aus Lkw-Plane zu verstauen, die meinen Rucksack ersetzt hat.
Frühstück muss sein.
Unregelmäßige Mahlzeiten machen krank.
Reden werden wir bei Toast und Marmelade nur das Allernötigste, vielleicht nicht mal das. Zum Reden hat Mama ihre Kolleginnen.
Und ich? Wer rettet meinen Tag?
Maria.
Diashow: Maria
Musik: Keine.
Als Erstklässlerin mit geflochtenen Zöpfen, Cordrock, Strickjäckchen, Ringelstrumpfhose. Wir auf dem Jahrmarkt, wie wir uns eine riesige rosa Zuckerwatte teilen, auf den Armen abwaschbare Tattoos, Einhörner und Segelschiffe. Beim Ponyreiten. Kinderfasching: ich als Piratenbraut, Maria als Hexenmädchen, die hüftlangen Haare blau eingefärbt und toupiert. Beim Rodeln, der Schlitten zerschellte später an einem Findling – keine Verletzten, bloß eine aufgeplatzte Lippe. Maria beim Pferdestreicheln, an jedem Finger mindestens einen Ring. Mit ihren Geschwistern. Im Joggingdress (das verdammte Foto lösche ich sofort).
Die üblichen Feste rund ums Jahr. Erst Kindergeburtstage mit Spielemarathon und Kerzen auf der Marzipantorte, später Partys mit Lagerfeuer, Maria fast immer lachend. Immer die Erste, die es wagte, zu tanzen. Die andere mitreißen konnte. Geradlinige Maria. Ihr offenes Gesicht. Keine Abgründe, nirgendwo.
Woher kommt es, dass man beim Fotografieren immer die glücklichen Momente einfangen will, während beim Tagebuchschreiben die traurigen ganze Seiten füllen? Wo liegt die Wahrheit, irgendwo dazwischen? Existiert sie überhaupt?
Mein Foto-Ordner ist prallvoll mit Bildern von Maria und mir. Von den schönsten gibt es Abzüge, sie pinnen an meinem Schrank.
Manchmal glaube ich, ich habe mir Maria bloß ausgedacht.