IWAN BUNIN
AM URSPRUNG DER TAGE
Frühe Erzählungen 1890–1909
Aus dem Russischen von Dorothea Trottenberg
Herausgegeben und mit einem Nachwort versehen
von Thomas Grob
DÖRLEMANN
Die vorliegende Ausgabe ist eine Originalausgabe, die in dieser Form erstmals auf deutsch erscheint.
Die genauen Quellenangaben finden sich
im Kapitel »Verwendete Ausgaben«
Iwan Bunin: Ausgewählte Werke in Einzelbänden
Weitere Informationen finden sich unter
www.iwanbunin.de
Die editorische Arbeit an dieser
Auswahlwerkausgabe in Einzelbänden wird
von der S. Fischer-Stiftung unterstützt.
Die Übersetzung des vorliegenden Bandes wurde gefördert
von Pro Helvetia.
Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten
Copyright © The Estate of Ivan Bunin
Copyright © 2010 by Dörlemann Verlag AG, Zürich
Porträt Iwan Bunin
The Estate of Ivan Bunin, Leeds
Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf
unter Verwendung eines Gemäldes von
Konstantin Korowin: Am Teetisch, 1888
Satz und E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN: 978-3-908778-51-6
www.doerlemann.com
Iwan Bunin, 1907
ERSTE LIEBE
Aus Kindheitserinnerungen
Das alles wäre lustig,
wenn es nicht so traurig wäre …
»Mitja!«
»Mitka!«
»Dmitri Alexejewitsch!«
»Bleichgesichtiger Hund!«
»So steh doch endlich auf!«
Ich war schon wach, gab mir aber alle Mühe zu beweisen, daß ich tief und fest schlief und nicht begriff, was los war. Während ich mir mit aller Kraft die Decke über den Kopf zog, die Petja und Ljowa mir zu entreißen suchten, gab ich nur unartikulierte Laute von mir und strampelte mit den Beinen. Aber sie gaben keine Ruhe, sprangen von dem Fensterbrett herunter, auf dem sie saßen (sie waren vom Garten her durch das Fenster hereingeklettert), und blieben an meinem Bett stehen.
»Du bist mir einer!« brummte Petja unschlüssig. »Was sollen wir mit ihm machen? Wir verpassen das Morgenrot …«
»Wir gehen«, sagte Ljowa in seinem üblichen barschen, abgehackten Tonfall. »Er ist kein Kamerad, er ist ein Weib, ein alter, krepierter Elch. Wir knallen ihm eine und gehen!«
»Ich knall dir eine, mein Lieber, und zwar so … daß du hinüber bist!« schrie ich plötzlich, richtete mich leicht auf und holte aus, als hätte ich etwas in der Faust. In dem Moment fand ich mich überaus bedrohlich und wild.
Petja und Ljowa aber brachen zum meinem Erstaunen in gutmütiges Gelächter aus und streckten mir die Hände hin.
Etwas verlegen ergriff ich sie, mürrisch und widerwillig, dann fiel ich wieder auf das Kissen zurück.
»Na kommt schon, gehen wir!« sagte Petja. »Sonst verpassen wir wirklich das Morgenrot.«
Das klang so aufrichtig und ernsthaft, daß ich bei dem Gedanken, das Morgenrot zu verpassen, selbst einen Schreck bekam. Was wir mit dem Morgenrot wollten, warum wir uns gegenseitig versprochen hatten, auf das Morgenrot zu warten, kann ich heute wirklich nicht mehr recht erklären. Damals aber dachte ich, daß es unbedingt sein müßte. Wir liebten es, vor Tagesanbruch aus dem Haus zu gehen, wenn das Dorf, die dunklen Felder und der ferne, dichte Wald noch in tiefstem Schlaf lagen und im Osten eben erst silbrige, helle Streifen am Himmel heraufzogen. Damals kam es uns vor, als seien wir vollkommen allein, als sei in dem kühlen, halbdunklen Wald wirklich alles geheimnisvoll und ursprünglich. Wie richtige Indianer schlichen wir uns ins dichteste Dickicht des Gartens, setzten uns in Erwartung des Sonnenaufgangs im Kreis und rauchten eine Friedenspfeife – oder vielmehr eine Pfeife, die wir meinem Vater stiebitzt hatten. Obwohl ich schon etwa zwölf Jahre alt war und sehr genau begriff, daß das Ganze ein Spiel war, ein richtiges Kinderspiel obendrein, gefiel es mir so sehr, daß ich gar nicht anders konnte, als mich begeistert darauf einzulassen.
Deshalb sprang ich sofort auf und zog meine Socken über.
»Die Sonne ist doch noch nicht aufgegangen?« fragte ich hastig.
»Du könntest schlafen bis zum Mittagessen«, antwortete Ljowa, »und selbst dann würdest du noch fragen.«
»Er will mich nur erschrecken! So spät ist es noch nicht«, dachte ich, als ich zum Waschbecken ging, fröstelnd in der Morgenkühle, die zum offenen Fenster hereinzog.
Der kalte Wasserstrahl ließ mich noch mehr erschauern und endgültig wach werden. Ich wusch mich hastig und war bereit zum Abmarsch. Wir hatten heute einen weiten Weg vor uns, bis ganz ans Ende der großen Wiese, die hinter unserem Garten lag. Dort begann der Wald, und die weitläufige Wiese ging über in enge, steinige und vom Frühjahrswasser ausgewaschene Schluchten. Heute wollten wir dort unsere letzte Friedenspfeife rauchen, um uns bis zum Sommer zu verabschieden. Es war der letzte Tag der Osterferien, und in zwei Tagen würde ich nach Orjol fahren müssen, ins Gymnasium.
»Nehmt die Bögen mit, schnell«, kommandierte Ljowa.
Wir packten unsere Bögen und kletterten durch das Fenster hinaus in das taufeuchte Gras des Gartens.
Die Sonne ging gerade eben auf. Auf dem Gras lag noch das kalte, matte Silber des Taus, auf den Gartenwegen jedoch war der Boden schon feucht und dunkel. Der klare, spiegelglatte Weiher dampfte leicht. Aber die Spiegelbilder der hohen, schlanken Espen waren noch reglos und deutlich; eine Nachtigall schlug besonders klangvoll im jungen Grün. Der Morgen begann gerade erst.
Wir gingen hinunter zum Weiher, über die breite Uferallee. Ljowa war unser Anführer. Er war immer gerne der erste, er kommandierte uns gerne, obwohl er zwei Jahre jünger war als Petja und ich. Er sah noch aus wie ein richtiger kleiner Junge; die kurzgeschnittenen, weißblonden Haare standen am Scheitel borstig ab, der Körper war noch ganz und gar kindlich. Ungeachtet dessen aber versuchte er immer, groß zu wirken, er schob stets die Brauen zusammen, seine Augen rollten wild hin und her wie bei einem kleinen Tier, und er brüstete sich – oder vielmehr er brüstete sich nicht, sondern bildete sich wirklich ein, außerordentlich stark zu sein. Die Augenbrauen schob er hauptsächlich deshalb zusammen, um bedrohlich zu wirken; wenn wir beim Indianerspielen bestimmten, wer wer oder was sein sollte, suchte Ljowa sich immer die Rolle einer besonders blutrünstigen Rothaut aus; er nannte sich »Schwarzer Panther«, neckte und foppte Petja, wenn der bei einem Geplänkel mit den anderen Jungen verletzt wurde und dann bitterlich weinte, und dergleichen mehr. Aber im Grunde seiner Seele war Ljowa trotzdem ein sehr gutmütiger, empfindsamer Junge, sehr aufgeweckt und flink. Petja hingegen war ein Junge, wie man ihm auf Schritt und Tritt begegnen konnte.
Wir gingen am Weiher vorbei. Ljowa war schon mehrmals zum Wasser hinuntergelaufen und hatte mit einem Stock ungestüm auf die Frösche eingeschlagen. Er schwitzte, hatte rote Backen und sich wie üblich Hände, Stiefel und Hose mit Dreck beschmiert. Petja hatte mehr Freude an der Natur.
»Und, kommst du im Sommer hierher zu deinem Onkel, oder fährst du zum Vater?« fragte er mich.
»Ich komme ganz bestimmt hierher«, erwiderte ich.
Ljowa drehte sich in dem Augenblick um und brach plötzlich in fröhliches Gelächter aus.
»Was hast du?« fragten wir einstimmig.
Ljowa lachte immer noch.
»Ich weiß alles, mein Lieber«, sagte er schließlich.
»Was weißt du?« wunderte ich mich.
»Na über Sascha!«
Ich spürte, daß ich augenblicklich bis zum Hals rot anlief. Ljowa hatte meine empfindlichste Stelle getroffen: Zu der Zeit war ich »fürchterlich«, wie mir damals schien, verliebt in Sascha, Ljowas Cousine. Sie verbrachte die Ferien gewöhnlich bei Ljowas Vater, und wenn ich davon träumte, für den Sommer hierherzukommen, dachte ich einzig an sie.
»Welche Sascha?« Ich wußte nicht, was ich sagen sollte, und merkte selbst, daß ich etwas furchtbar Dummes gesagt hatte.
»Warum lügst du wie ein altes Weib?« unterbrach Ljowa mich plötzlich streng. Er schob die Brauen zusammen, und seine Augen leuchteten auf wie bei einem kleinen Tier.
»Was heißt, ich lüge?« fragte ich ebenfalls streng.
»Es ist gelogen, daß du nicht weißt, welche Sascha ich meine«, sagte Ljowa laut und deutlich. »Dabei bist du in sie verliebt …«
Abrupt riß ich den Bogen von der Schulter und legte mit zitternden Händen einen Pfeil an.
»Nein, du lügst!« schrie ich, nun völlig aufgelöst. »Ich werde dich gleich …«
Aber Ljowa unterbrach mich:
»Ich weiß es schon lange. Ich wollte es Petja nicht sagen … Aber jetzt sage ich es … Bloß ist sie schon gestern abend abgereist … Pech gehabt! … Aber wenn du kämpfen willst – bitte sehr!«
Ljowa war nun auch wütend. Seine Augen rollten, seine Wangen waren gerötet.
»Ich will mich nicht mit dir prügeln«, sagte ich und versuchte mit aller Kraft, ruhig zu wirken. »Du bist einfach ein Idiot! Und ich will mit dir nicht mehr weitergehen.«
Mit diesen Worten drehte ich um und ging wieder in den Garten.
»Und warum ich?« fing Petja an zu jammern.
Mir aber schien, daß sie unter einer Decke steckten und mich beide ärgern wollten. »Kumpel!« dachte ich und rief, ohne mich noch einmal umzudrehen:
»Geht doch zum Teufel!«
Die Dinge entwickelten sich also denkbar ungünstig: Anstelle einer friedlichen Abschiedsexpedition gab es Streit, anstelle eines endgültigen Stelldicheins mit Sascha die Nachricht, daß sie schon abgereist war, oder mit anderen Worten, daß wir uns bis zum Sommer nicht mehr sehen würden. Ich sage »endgültig«, weil ich mir vorgenommen hatte, vor ihrer Abreise einen Moment abzupassen, um mich mit ihr auszusprechen. Ich hatte mich freilich schon einmal mit ihr ausgesprochen, aber das war irgendwie schiefgegangen. Wir begegneten uns bei ihnen im Flur; ich lief rot an und fühlte mich, als würde mir jemand mit einer eiskalten Bürste über den Kopf fahren und meine Haare zerzausen; ich sagte nicht einmal »Guten Tag«. Obwohl Sascha etwa zwei Jahre älter war als ich, war ich in ihrer Gegenwart immer ganz verlegen. Sie selbst streckte mir die Hand hin.
»Warum hat man Sie so lange nicht gesehen?« fragte sie.
»Ich war doch kürzlich noch hier«, sagte ich. »Sie haben mich nicht gesehen.«
»Dann waren Sie wahrscheinlich im Garten?«
»Nein, ich war auch im Haus.«
Sascha lachte plötzlich so laut und süß, daß ich auf der Stelle neuen Mut faßte, auch wenn ich nicht begriff, worüber sie lachte.
»Dann haben Sie wohl eine Tarnkappe getragen?«
»Nein, meine Schirmmütze«, witzelte ich und war nun völlig durcheinander.
»Aber wieso habe ich Sie dann nicht gesehen?« Sascha ließ nicht locker.
»Sie wollen mich ja immer nicht sehen.«
»Was soll das denn heißen?«
Aber ich hörte gar nicht mehr hin, und weil ich spürte, daß mir immer heißer wurde, fuhr ich fort:
»Ich weiß nicht, warum Sie eine solche Abneigung gegen mich hegen? Ich glaube …«
»Weiß Gott, was Sie glauben«, unterbrach Sascha mich plötzlich errötend und mit leiser, liebevoller Stimme. »Im Gegenteil, ich … ich träume sogar fast jeden Tag von Ihnen …«
In dem Moment aber fuhr ratternd eine Droschke vor, und Sascha berührte flüchtig meine Wange und verschwand hochrot hinter der Tür.
Ich war noch gar nicht richtig wieder zu mir gekommen (es hatte mir vor Freude den Atem verschlagen), als auch schon jemand auf der Treppe polterte. Ich stülpte meine Schirmmütze über, fing an zu pfeifen – was ich normalerweise tat, um eine Peinlichkeit zu vertuschen –, lief flink die Treppe hinunter, vorbei an einem entgegenkommenden Handlungsgehilfen, und rannte durch den Garten nach Hause.
Ich erinnerte mich an all das mit besonderer Trauer und Zärtlichkeit, als ich mutterseelenallein im Salon saß. In dem leeren Haus (der Onkel war am Morgen aufs Feld gefahren, das Hausmädchen war in der Küche) war es überall still und hell. Auf dem Balkon stand die Tür offen, und von Zeit zu Zeit kamen Bienen und Schmetterlinge aus dem Garten hereingeflogen. Ein leichter Wind bewegte sachte das junge Grün der Birken. Im Garten krähten die Hähne, und ihr Krähen klang an diesem sonnigen Apriltag besonders fröhlich und frühlingshaft.
Nachdenklich stand ich hin und wieder auf und ging zur geöffneten Balkontür. An den Türsturz gelehnt, blickte ich die Birkenallee hinunter, wo aus der frischen, lockeren Erde und unter dem vorjährigen Laub leuchtendgrünes Gras hervorsproß; ich roch den zarten Gartenduft, hörte das melodische Gesumm der Bienen, die dumpf hallenden Schläge des Wäschebleuels im Weiher – und meine Sehnsucht wurde immer zarter und poetischer. Mir schien, ich sei noch nie so jung und schön und gleichzeitig so einsam und traurig gewesen. Ich blickte auf die fernen Felder, die sich rechter Hand vom Garten erstreckten, und wiederholte unwillkürlich die Worte des Dichters:
Was klingt in der Ferne, was klingt und singt?
Warum ruft die Ferne unnachgiebig,
Warum tritt der Fluß weit über das Ufer,
Etwa deshalb, weil der Frühling begonnen hat?
»Was klingt in der Ferne, was klingt und singt?« fragte ich mich wehmütig. Als Antwort traten mir Tränen in die Augen, und um sie zu überspielen, nahm ich meinen Streifzug durch das von der Sonne hell erleuchtete, menschenleere Haus wieder auf.
»Was sitzt du da wie ein Ölgötze?« fragte der Onkel mich beim Essen.
Ich konnte kaum antworten: Meine Sanftheit und Poesie waren auf das gröbste beleidigt.
Gegen Abend wurde ich noch wehmütiger. Ich ging hinaus aufs Feld, ging bis zum Wald und legte mich am Waldrand nieder. Auf meinem Mantel liegend, träumte ich lange vor mich hin, bis über den dämmrigen Feldern ein silberner Stern erstrahlte – die Venus.
Auf dem Rückweg beschloß ich, am nächsten Tag in die Stadt zu fahren. Ljowa und Petja waren schon dort (sie waren gegen Abend abgefahren), und ich könnte behaupten, ich müßte einiger Bücher wegen zu ihnen, wegen der Lateingrammatik zum Beispiel. Unterdessen würde ich auch Sascha sehen, wenigstens noch einmal mit ihr sprechen können, sie bitten, mir zu schreiben und so weiter.
Bei diesem Gedanken wurde mir fast heiter zumute, und ich schlief ruhig ein. Doch das Schicksal wollte es anders, wie man so sagt.
Mein Onkel war ein richtiger Greis – beinahe sechzig Jahre alt. Er war ein sehr merkwürdiger Mann und in höchstem Maße ernsthaft, soldatisch pflichteifrig, ordentlich und streng. Der Grund dafür lag hauptsächlich in seinem langjährigen Militärdienst bei irgendeiner Garnison. Er hatte fast gar keine Ausbildung genossen und sich mit dem Ausscheiden aus dem Militärdienst für immer als einsamer Junggeselle auf dem Land niedergelassen. Sein Gut war nicht groß, aber er verfügte über schöne Mittel: Er führte ein spartanisches Leben und war ein unermüdlicher Landwirt; in früheren Zeiten hatte er sogar selbst gemäht. Ich war freilich einzig und allein deshalb gerne bei ihm zu Besuch, weil im selben Dorf auch Sascha immer ihre Ferien verbrachte.
Früh am Morgen (der Onkel stand stets vor Tagesanbruch auf) verkündete ich ihm mein Vorhaben.
»Na gut, fahr nur«, sagte er.
»Aber womit?« fragte ich.
»Das weiß ich auch nicht.«
Ich zögerte. Der Onkel liebte es, so zu reden.
»Ich nehme den Rotschimmel«, sagte ich schließlich.
»Den Rotschimmel nehme ich«, erwiderte der Onkel.
»Also nehme ich die kahle Stute?«
»Ich fahre mit dem Zweispänner, und du weißt ja, im Frühling habe ich immer nur zwei Reisepferde.«
»Und was dann?«
Der Onkel lächelte.
»Und was dann?« wiederholte er. »Dann mußt du mit mir fahren.«
Mit dem Onkel fahren! Allein das ärgerte mich. Aber es war nicht zu ändern. Ich machte mich eilig reisefertig, weil der Onkel keine Minute warten würde, und eine halbe Stunde später waren wir schon unterwegs in die Stadt, zu zweit auf dem hoch mit Stroh beladenen Fuhrwerk.
Ich werde unsere Fahrt nicht ausführlich beschreiben, den heißen, schwülen Morgen, die dichten Staubwolken auf der Landstraße und die unerträglich langsame Fahrt hinter einem Wagenzug her, den wir eingeholt hatten. Der Wagenzug war sehr lang, und der Onkel, der immer gerne langsam fuhr, machte keine Anstalten, ihn zu überholen. Die nach Teer riechenden Wagen waren mit Mehlsäcken schwer beladen und bespannt mit gewaltigen, trägen Wallachen mit sattelförmig eingedrücktem Rücken. Die Fuhrleute hockten auf den Seitenstangen der Wagen und dösten, und es schien ihnen völlig egal, wann sie in der Stadt ankamen. Nur auf einem Wagen saß ein Kleinbürger, der Ähnlichkeit mit einem Windhund hatte und den ganzen Weg über auf den Alten fluchte, der hinter ihm fuhr. Doch der Alte, ein buckliger, dicker Mann mit kleinen Äuglein und einem gewaltigen fuchsroten Bart, verstand offenbar nicht richtig zu fluchen, seine Schimpfworte waren saft- und kraftlos und konnten die Langeweile nicht vertreiben.
»Wir werden sehen, ob du lange durchhältst«, sagte der Kleinbürger, wobei er Sonnenblumenkerne ausspuckte und mit den Beinen baumelte. »Wir werden sehen!«
»Bestimmt!« krächzte der Alte gehässig. »Bestimmt! Wenn sie schon dich Gauner behalten …«
»Und ob sie mich behalten!« fiel ihm der Kleinbürger ins Wort.
»Immer werden solche Teufel behalten«, versetzte der Alte.
»Teufel!« äffte der Kleinbürger boshaft nach. »Teufel! Steig ab, du Satan, schneuz dich mal! Du nuschelst.«
»Schneuz dich selbst!« sagte der Alte.
»Waschbär, Satan!« Der Kleinbürger hörte einfach nicht auf.
Der Alte war furchtbar beleidigt, sprang auf und schrie:
»Ich bin kein Waschbär, ich bin ein getaufter Mann! Du bist selbst ein Waschbär!«
Doch der Kleinbürger fiel ihm wieder ins Wort …
Gegen zehn Uhr morgens (bis zur Stadt waren es etwa zwölf Werst) kamen wir endlich an und machten halt in einem Gasthaus mit Ausspann.
Die Fahrt war im übrigen nicht einmal besonders unangenehm. Da ich dachte, daß ich in zwei Stunden Sascha sehen würde, die anmutige, vergnügte Sascha, achtete ich kaum auf die Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten der Fahrt. Aber im Gasthaus wendeten die Dinge sich zum Schlechten. Noch während wir durchs Tor fuhren, bemerkte der Onkel, daß unter einer Plane auf einem Leiterwagen ein gut gemästetes Kalb lag, und rief dem Besitzer, der dabeisaß, zu:
»Onkel, was hast du denn da zu verkaufen – einen Jungbullen oder eine Färse?«
»Ja«, antwortete der Bauer phlegmatisch.
Der Onkel sagte daraufhin nichts mehr, und als wir von unserem Fuhrwerk herunterkletterten, verschwand er. Ich hatte schon meinen Hemdkragen angelegt (ich hatte mich herausgeputzt), und er war immer noch nicht wieder da. Schließlich machte ich mich auf die Suche. Ich lief durch die Gaststuben, wo ein Kanarienvogel unerträglich schmetterte, schaute woanders nach – er war nicht zu finden. Auf dem Weg zu unserem Fuhrwerk kam der Onkel mir entgegen, gefolgt von dem Bauern, der das Kalb mitschleifte.
»Ich habe das Kalb gekauft«, sagt der Onkel zu mir. »Bleib du hier bei ihm sitzen, und ich gehe noch etwas einkaufen.«
Mir wurde ganz heiß.
»Wie? Das Kalb bewachen?« Ich brach beinahe in Tränen aus. »Was soll das denn?«
»Was das soll?« sagte der Onkel streng. »Natürlich muß man das Kalb bewachen – es könnte gestohlen werden. Du schaffst es schon noch, deinen Besuch zu machen, ich bin gleich wieder da. Du kannst ja wohl eine Weile hier sitzen bleiben. Wenn dir das nicht paßt, hättest du nicht mitfahren brauchen. Und du rührst dich hier nicht fort, mein Lieber, du kannst zu Fuß nach Hause gehen, wenn du nicht hier sitzen bleibst. Verstanden?«
Was sollte man da machen? Mir kam der Onkel damals so streng vor, daß er leicht imstande gewesen wäre, ein solches Versprechen einzuhalten. Fast unter Tränen setzte ich mich neben das verwünschte Kalb. Ich warte … Eine Stunde vergeht – der Onkel kommt nicht. Mittlerweile kommt eine Unmenge von Wagen an. Unter der Plane riecht es nach Mist, Hitze und Schwüle. Es ist einfach mein Tod! Das Kalb liegt da wie eingegangen: Irre, glasige Augen, die zusammengebundenen Hinterbeine ausgestreckt, die Seiten angeschwollen.
»Würdest du doch eingehen, verdammt noch mal!« denke ich sehnsüchtig und boxe das Kalb mit den Fäusten in die Seite. Aber meine Kränkung, meine Schwermut werden nur noch größer.
Ich warte weiter. Eine weitere Stunde vergeht. Wütend, mit Tränen in den Augen, springe ich schließlich auf, fest entschlossen, wegzugehen und das Kalb im Stich zu lassen. In dem Moment taucht der Onkel auf. Hinter ihm ein Bauer, der ein neues Rad, einen Sack Kreidekalk, einige Eisenstangen für den Pflug und irgend etwas in einer Tüte mitschleppt.
Ich stürzte mich auf den Onkel.
»Wo warst du denn die ganze Zeit, Onkel?«
»Ich habe mit einem Bekannten geredet und die Zeit vergessen«, versetzte der Onkel gelassen. »Jetzt bin ich spät dran. Wir müßten eigentlich schon wieder unterwegs sein. Jetzt heißt es rasch anspannen.«
»Wie – anspannen?« Ich konnte kaum sprechen. »Und was ist mit mir?«
»Ich habe Wichtigeres zu tun als du«, versetzte der Onkel barsch. »Laß mich in Ruhe mit deinen Dummheiten. Ich breche jetzt sowieso auf, und wegen der Bücher können wir bei Petja vorbeifahren.«
Ich biß mir fast die Lippen blutig und wanderte zum Tor.
»Na gut!« schrie ich in einem Anfall von Wut und Verzweiflung. »Na gut! Ich gehe weg, ganz bestimmt gehe ich weg!« Ich lehnte mich an das Tor und brach in Tränen aus. Als ich eine Weile geweint hatte, beruhigte ich mich ein wenig! Ich blickte mit roten Augen über die staubige Straße und erkannte plötzlich, daß ich Sascha gar nicht mehr sehen wollte. Ein Wiedersehen mit ihr könnte jetzt kein Lichtblick mehr sein. In meiner Seele schien kein Quentchen Liebe mehr übrig.
Ich gab also nach und kletterte mit finsterer Miene auf das Fuhrwerk. Unterdessen überlegte ich aber, daß es trotz allem nicht schlecht wäre, Sascha für einen Moment zu sehen, dann könnte ich sie wenigstens bitten, mir zu schreiben …
Wir setzten uns in Bewegung.
»Dann gehe ich wenigstens kurz ins Mädchengymnasium«, begann ich, »und sage Sascha, daß sie Petja wegen der Grammatik Bescheid gibt. Er hat nämlich jetzt noch Unterricht.«
»Wir können doch zu ihm fahren«, sagte der Onkel.
»Aber nein, das Jungengymnasium ist am anderen Ende der Stadt, weit weg.«
»Von mir aus.« Der Onkel war einverstanden. Offenbar hatte er gute Laune.
Als wir an die Kreuzung kamen, hinter der das Mädchengymnasium lag, bat ich den Onkel anzuhalten und rannte mit klopfendem Herzen zum Gymnasium, wobei ich mein Hemd zurechtzupfte und den Kragen geraderückte.
In der Pförtnerloge blickte ich in den Spiegel und fand mich hübsch: Mein Gesicht war vor Tränen und Aufregung sanft gefärbt, die Wangen schimmerten rot, in den Augen lag ein dunkler Glanz.
»Kann ich Alexandra Brjanzewa sehen, Schülerin der dritten Klasse?« fragte ich den Pförtner verlegen.
»Warten Sie fünf Minuten«, sagte der Pförtner.
Ich wartete. Mir war wieder fröhlich und leicht ums Herz. Daran, daß der Onkel an der Kreuzung auf mich wartete, dachte ich nicht einmal mehr.
Ein schrilles Klingeln ließ mich auffahren, und gleich darauf hallten und lärmten die Korridore oben und unten von jungen Leuten. Sascha, in ihrem schlichten Kleidchen noch hübscher und feiner, kam zu mir heruntergelaufen.
Mit einem befangenen, freudigen Lächeln reichte ich ihr die Hand. Wir waren umringt von etwa fünfzehn ihrer Freundinnen und gingen daher ein Stück weiter bis zu der Glastür am Ausgang.
»Wann fahren Sie denn?« fragte Sascha.
»Morgen«, sagte ich, wobei ich die Schnalle an meinem Gürtel abwechselnd auf- und zuklappte. »Ich bin gekommen, um mich zu verabschieden … Finden Sie es wenigstens ein bißchen schade?«
Sascha wurde rot und wollte etwas sagen … Doch plötzlich öffnete sich die Glastür und herein kam … der Onkel! Ich erstarrte.
»Was ist denn, willst du hier übernachten?« fragte er aufgebracht und stand mit der Peitsche in der Hand vor mir. (»Wie ein Bauer!« schoß es mir durch den Kopf.) »Ich warte und warte! Dann habe ich beschlossen, selbst vorzufahren!«
»Wie vorzufahren?« ächzte ich und blickte durch die Glastür … Wie entsetzlich! Direkt vor der Freitreppe stand unser Fuhrwerk mit dem Rad hinten im Wagen und dem Kalb in der Mitte! Ich kann mich nicht erinnern, wie ich Sascha von irgendwelchen Büchern vorstammelte, wie ich das Gymnasium verließ und auf das Fuhrwerk kletterte. Ich schämte mich in Grund und Boden. Eine ganze Schar Gymnasiastinnen kam auf die Freitreppe hinausgelaufen.
Sascha lachte, während sie zusah, wie ich mit Mühe und Not das Kalb beiseite schob, mich hinten auf das Fuhrwerk setzte und die Beine herunterhängen ließ.
»Nächstes Mal leg ich dich übers Knie, wenn du mir wieder etwas vorlügst«, brummte der Onkel und setzte sich auf das Fuhrwerk.
Wie auf einem Schafottwagen fuhr er mich vom Hof des Gymnasiums herunter. Das Kalb schlug erschrocken um sich und blökte. Die Gymnasiastinnen lachten. Ich saß da wie im Traum, wie benommen …
Am Abend desselben Tages fuhr ich zum Bahnhof. In meiner gequälten Kinderseele war es leer. Kein Gedanke daran, daß ich jemals wieder beim Onkel sein und Sascha sehen würde … Schweigend lag ich auf dem Fuhrwerk. Das Abendrot war so poetisch und verträumt … Wir fuhren direkt in Richtung Westen. Weit vor mir in der Ferne erlosch langsam das Licht des Sonnenuntergangs. In der warmen, dämmrigen Luft spürte man schon die duftige Frische der taufeuchten Gräser und Blumen der Steppe. Hin und wieder drang von einer Nachtweide her Geläut von den Glöckchen der Fohlen, und dann wurde wieder alles still. Und je dunkler die Frühlingsnacht auf dem Felde wurde, desto mehr versanken auch das Korn am Wegesrand und die ganze schweigende Steppe in leise Gedanken …
AUF DEM VORWERK
Lange glühte das Abendlicht mit fahler Röte. Das diffuse Licht und die diffuse Dämmerung verschwammen über den Getreidefeldern. Auch im Dorf wurde es dunkel – nur die kleinen Fenster der Bauernkaten auf der Weide schimmerten noch in kupfernem Glanz. Der Abend war schweigend und ruhig. Das Vieh war zusammengetrieben, man war von der Arbeit zurückgekehrt, hatte auf den Steinen vor den Katen zu Abend gegessen und war still geworden … Keine Lieder wurden gesungen, kein Kind schrie …
Alles war in abendliche Gedanken versunken – auch Kapiton Iwanytsch hing seinen Gedanken nach, während er am offenen Fenster saß.
Sein Gehöft stand auf dem Hügel; der niedrig bewachsene Garten aus Akazien und Flieder, überwuchert von Kletten und Beifuß, neigte sich hinab zur Talsenke. Aus dem Fenster, über die Büsche hinweg hatte man einen weiten Blick.
Das Feld schwieg und lag in fahlem Dunkel. Die Luft war trocken und warm. Die Sterne am Himmel flimmerten bescheiden und geheimnisvoll. Nur die Grashüpfer zirpten unermüdlich unter den Fenstern im Beifuß, und in der Steppe rief eine Wachtel deutlich ihr »pick-werwick«.
Kapiton Iwanytsch war allein – wie immer.
Es war, als sei ihm vorherbestimmt, sein Leben allein zu verbringen. Seine Mutter und sein Vater, bitterarme Gutsbesitzer aus dem Kleinadel, die bei den Fürsten Nogajski gelebt hatten, waren gestorben, als er noch nicht einmal ein Jahr alt war. Seine Kinder- und Knabenjahre hatte er im Hause einer verrückten Tante verbracht, einer alten Jungfer, und in der Kantonistenschule. In seiner Jugend schrieb er Lieder im Stil von Delwig und Kolzow, in denen er sie Walentina nannte – in Wirklichkeit hieß sie Anjuta und war die Tochter eines Beamten, der im Kommissariat diente –, aber seine Gefühle wurden nicht erwidert.
Sein Name war »wie der eines Haushofmeisters«, sein Äußeres war unauffällig; dunkel, hager und hochgewachsen, glich er nach Aussagen von Bekannten selbst damals schon einem Seminaristen, als er durch Protektion des Fürsten (nicht umsonst hieß es, der Fürst sei Kapiton Iwanytschs Vater) den Offiziersrang erreichte. Da fiel ihm das kleine Landgut der Tante zu, und er ging in den Ruhestand. Von Zeit zu Zeit kam er sich zwar noch vor wie der Held eines Marlinski-Romans oder wie eine Art Petschorin, er frisierte sich nach der neuesten Mode – »à la polonaise« … Aber es kam nichts dabei heraus. »Walentina« reiste zu einer Freundin zu Besuch und verheiratete sich. Und er verschloß seine Gedichte »bis zum Grab« in einer Chiffonnière.
Er begann, sich um das Gut zu kümmern, und wollte beim neu eröffneten Semstwo mitarbeiten, doch auch da hatte er kein Glück: Der Adelsmarschall erklärte bei einem Imbiß der Adelsversammlung, Kapiton Iwanytsch sei »ein gutmütiger Kerl, aber ein Phantast, ein alter Phantast … ein aussterbender Typus …« Kapiton Iwanytsch schloß Bekanntschaft mit sämtlichen kleinen Gutsbesitzern aus der Nachbarschaft, begeisterte sich für die Jagd und gewann einen unersetzlichen Freund in dem Vorstehhund Dschalma. Ein Tag folgte auf den anderen, die Tage wurden zu Jahren … Er wurde ein echter kleiner Gutsbesitzer, trug eine Joppe und einen langen schwarzen Schnurrbart; er machte sich keine Gedanken über sein Äußeres und wußte vermutlich nicht einmal, daß sein dunkles, leicht fleckiges Gesicht in seiner ruhigen Güte sehr anziehend war …
Heute grämte er sich. Am Morgen hatte die Betschwester Agafja kurz hereingeschaut, Kapiton Iwanytschs ehemalige Magd, und unter anderem gefragt:
»Erinnern Sie sich noch an Anna Grigorjewna, gnädiger Herr?«
»Ja«, sagte Kapiton Iwanytsch.
»Tot ist sie. Zu den großen Fasten hat man sie begraben.«
Daraufhin hatte Kapiton Iwanytsch den ganzen Tag über nur vage gelächelt. Und am Abend … Der Abend brach so still und traurig herein!
Kapiton Iwanytsch aß nicht zu Abend und ging nicht früh schlafen, wie er das für gewöhnlich tat. Er drehte sich eine dicke Papirossa aus schwarzem, starkem Tabak und saß, ein Bein untergeschlagen, die ganze Zeit am Fenster.
Er wollte irgendwohin gehen. Als ein Mann, der gewohnt war, alles ruhig zu überdenken, fragte er sich: »Wohin?« Wachteln jagen vielleicht? Aber das Abendrot war schon vorbei, und es war keiner da, mit dem er hätte gehen können. Semjon war heute auf der Nachtweide … Und was sollte er mit Wachteln!
Er seufzte und kratzte sein lange nicht rasiertes Kinn.
Wie kurz und armselig war das menschliche Leben im Grunde genommen! War es lange her, daß er ein kleiner Junge, ein Jüngling war? Die Kantonistenschule – gut, daß es sie nicht mehr gab! –, die Kälte, der Hunger, die Fahrten zur Tante … Das war ein Mensch! Er konnte sich sehr gut an sie erinnern, eine alte, magere Jungfer mit wirren, trockenen schwarzen Haaren und irren Augen – es hieß, sie sei aus unglücklicher Liebe verrückt geworden –, er erinnerte sich, wie sie nach alter Institutsmanier ständig auswendig französische Fabeln herunterleierte, wobei sie mit den Augen rollte und eine verzückte, gewichtige Miene aufsetzte; er erinnerte sich auch an die Oginski-Polonaise … Leidenschaftlich und eigentümlich klang sie, weil die alte Junger sie mit verrückter Leidenschaft spielte … Ach, diese Polonaise! Auch sie hatte sie gespielt …
Die Sterne am Himmel leuchten so bescheiden und rätselhaft; trocken zirpen die Grashüpfer, und dieses Geflüster und Geknister ist einlullend und erregend zugleich … Im Saal steht ein altertümliches Klavier. Dort sind die Fenster offen … Wenn doch jetzt sie, zart wie eine Erscheinung, dort eintreten und spielen, die alten, klangvollen Tasten berühren würde! Danach würden sie hinausgehen und nebeneinander auf dem Weg durch die Roggenfelder spazieren, direkt dahin, wo weit in der Ferne das Licht des Westens schimmert …
Kapiton Iwanytsch ertappte sich und schmunzelte.
»Phan-tas-terei!« sagte er gedehnt.
Die Grashüpfer zirpten in der stillen Abendluft, und aus dem Garten roch es nach Klette, nach blassem, hohem Liebstöckel und Brennessel. Auch dieser Geruch rief ihm etwas in Erinnerung – die Abende, wenn er aus der Stadt nach Hause zurückkehrte und sich dem süßen Gedanken an sie und der trügerischen Hoffnung auf Glück hingab.
Kein Licht brannte im Dorf, wenn er den Hügel hinaufging. Unter dem klaren Sternenhimmel lag alles in tiefem Schlaf. Dunkel und warm waren die Aprilnächte; zart dufteten die Gärten nach Faulbeeren, in den Teichen veranstalteten die Frösche diese schläfrige, leise klingende Musik, die so gut zum beginnenden Frühling paßt … Lange konnte er damals nicht einschlafen auf dem Stroh, in der Hütte im Garten! Über Stunden hinweg beobachtete er jedes Licht, das in dem milchig trüben Dunst der fernen Niederungen aufleuchtete und wieder erlosch; wenn von dort, von einem abgeschiedenen Weiher manchmal der Ruf eines Reihers herüberdrang, schien dieser Ruf geheimnisvoll, und geheimnisvoll stand die Dunkelheit in den Alleen … Und wenn er vor dem Morgengrauen, von der kühlen Frische des Gartens erfaßt, die Augen aufschlug, blickten die keuschen Sterne der Vormorgenstunde durch das halboffene Dach der Hütte auf ihn herab …
Kapiton Iwanytsch erhob sich und ging ins Haus. Seine Schritte hallten durch die Räume, die Böden gaben hier und da nach und knarrten.
»Achtzig Jahre alt ist das Häuschen!« dachte Kapiton Iwanytsch. »Im Herbst muß ich die Zimmerleute holen, sonst wird es im Winter entsetzlich kalt!«
Während er durch den Saal ging, fühlte er sich irgendwie unbehaglich. Hochgewachsen, hager, ein wenig gebückt, in seinen hohen, alten Stiefeln und der offenen Weste, unter der das baumwollene Russenhemd hervorlugte, schlenderte er umher und sang kopfschüttelnd und mit hochgezogenen Brauen die Polonaise vor sich hin. Ihm war, als beobachtete er sich selbst, seinen Gang und seine Gestalt, als sähe er sich selbst als jemand anderen, der durch das Halbdunkel des altertümlichen Saals ging, als jemanden, der mutterseelenallein und traurig umherwanderte, der traurig war und der ihm schmerzlich leid tat … Er nahm die Schirmmütze und verließ das Haus.
Draußen war es heller. Das Abendrot, das hinter dem Dorf erlosch, floß noch schwach über den Hof.
»Michajla!« Kapiton Iwanytsch rief leise nach dem alten Hirten. Niemand antwortete. Michajla war »sich feinmachen, das Hemd wechseln« gegangen.
Er suchte etwas zu tun und ging über den Hof zum Futterplatz: Hatte Mitja das Gras für die Kühe gemäht? Aber Kapiton Iwanytsch dachte an ganz etwas anderes und stand nur eine Weile am Futterplatz.
»Mitka!« rief er.
Wieder antwortete niemand. Nur eine Kuh im Stall stieß einen schweren Seufzer aus, und die Hühner auf der Stange regten sich und flatterten mit den Flügeln.
»Wozu brauche ich sie eigentlich?« überlegte Kapiton Iwanytsch und schlenderte hinter die Remise, dahin, wo am Hang der Roggen begann. Raschelnd stapfte er durch die Taubnesseln zu einem Erdhügel, wo er sich hinsetzte und rauchte.
Die weite Ebene lag unter ihm in der blassen Dunkelheit. Vom Hang hatte man einen weiten Blick auf die schweigend in der Dämmerung versunkene Umgebung.
»Ich hocke hier wie ein Häufchen Unglück«, dachte Kapiton Iwanytsch. »Da sieht man’s, werden die Leute sagen, der Alte hat nichts zu tun!«
»Es stimmt, ich bin ein alter Mann«, grübelte er weiter. »Bald werde ich sterben … Anna Grigorjewna ist auch gestorben … Wo ist all das nur geblieben, all das, was früher war?«
Er blickte lange auf das weite Feld, lauschte lange auf die abendliche Stille …
»Wie kann das gehen?« fragte er laut. »Es wird alles sein wie immer, die Sonne geht unter, die Bauern kommen mit dem Hakenpflug vom Feld, … bei Tagesanbruch geht es zur Arbeit, aber ich werde das alles nicht mehr erleben, und nicht nur das – ich werde überhaupt nicht mehr da sein. Und wenn tausend Jahre vergehen, ich werde niemals mehr auf der Welt sein, niemals mehr kommen und mich auf diesen Erdhügel setzen! Wo aber werde ich sein?«
Gebeugt, mit geschlossenen Augen saß er da, strich mit der linken Hand über seinen graumelierten schwarzen Schnurrbart und wiegte sich hin und her …
So viele Jahre lang hatte er sich vorgestellt, etwas Wichtiges, Wesentliches läge noch vor ihm … Einst war er ein Knabe, war jung … Später … Einmal war er an einem heißen Tag in seiner Droschke über die große Landstraße zur Wahl gefahren! – Kapiton Iwanytsch mußte schmunzeln über seinen Gedankensprung …
Aber auch das war schon lange her. Und dann kommt die Zeit, in der, wie es heißt, alles zu Ende ist; siebzig, achtzig Jahre … weiter mag man gar nicht zählen! Ist das Leben eigentlich lang oder kurz?
»Es ist lang!« dachte Kapiton Iwanytsch. »Ja, trotzdem ist es lang!«
Am dunklen Himmel flammte ein Stern auf. Kapiton Iwanytsch hob seine traurigen Greisenaugen und blickte lange in den Himmel. Und von dieser Tiefe, dieser sanften Dunkelheit der sternenklaren Unendlichkeit wurde ihm leichter. »Und wenn schon! Ich habe still gelebt und werde still sterben, so wie ein Blatt von diesem Strauch hier zu seiner Zeit welk wird und abfällt …« Die Umrisse der Felder waren kaum mehr zu erkennen im nächtlichen Dämmerlicht. Die Dämmerung wurde dichter, und die Sterne, so schien es, strahlten höher. Der seltene Ruf der Wachteln war deutlicher zu hören. Das Gras roch frischer … Leicht und frei tat er einen tiefen Atemzug. Wie lebhaft spürte er seine Blutsverwandtschaft mit dieser schweigenden Natur!