Inhalt

  1. Cover
  2. Über das Buch
  3. Über den Autor
  4. Titel
  5. Impressum
  6. Hinweis
  7. Widmung
  8. Erklärung
  9. Prolog
  10. 1. Kapitel
  11. 2. Kapitel
  12. 3. Kapitel
  13. 4. Kapitel
  14. 5. Kapitel
  15. 6. Kapitel
  16. 7. Kapitel
  17. 8. Kapitel
  18. 9. Kapitel
  19. 10. Kapitel
  20. 11. Kapitel
  21. 12. Kapitel
  22. 13. Kapitel
  23. 14. Kapitel
  24. 15. Kapitel
  25. 16. Kapitel
  26. 17. Kapitel
  27. 18. Kapitel
  28. 19. Kapitel
  29. 20. Kapitel
  30. 21. Kapitel
  31. 22. Kapitel
  32. 23. Kapitel
  33. 24. Kapitel
  34. 25. Kapitel
  35. 26. Kapitel
  36. 27. Kapitel
  37. 28. Kapitel
  38. 29. Kapitel
  39. 30. Kapitel
  40. 31. Kapitel
  41. 32. Kapitel
  42. 33. Kapitel
  43. 34. Kapitel
  44. 35. Kapitel
  45. 36. Kapitel
  46. 37. Kapitel
  47. 38. Kapitel
  48. 39. Kapitel
  49. Epilog
  50. Glossar
  51. Dank

Über das Buch

Irland, Mitte des 9. Jahrhunderts: Im Kampf um die Abtei Glendalough hat Thorgrim Nachtwolf bis auf zehn Männer alles verloren. Ein vermeintlicher Freund hat ihn und seine treuen Wikinger schändlich verraten. Noch auf der Flucht schwört Thorgrim, neue Verbündete zu finden – und Rache zu üben. Tatsächlich gelingt es ihm, bei einem erneuten Überfall auf Glendalough Gold zu erbeuten. Genug, um siebzig Männer anzuwerben. Genug, um den Angriff auf den verräterischen Kevin zu wagen …

Über den Autor

Bevor er sich entschied, über das Segeln zu schreiben, lebte und arbeitete James L. Nelson sechs Jahre lang an Bord traditioneller Segelschiffe. Seine zahlreichen Sachbücher und Romane wurden mehrfach ausgezeichnet, unter anderem mit Preisen der American Library Association. Nelson liest in ganz Amerika aus seinen Büchern und tritt regelmäßig im Fernsehen auf. Er lebt mit seiner Frau Lisa und den gemeinsamen Kindern in Harpswell, Maine.

James L. Nelson

DIE WIKINGER

Tod dem Verräter!

HISTORISCHER ROMAN

Aus dem amerikanischen Englisch von
Alexander Lohmann

BASTEI ENTERTAINMENT

Der vorliegende Roman ist frei erfunden. Namen, Figuren, Orte und Ereignisse sind entweder vom Autor ausgedacht oder werden ausschließlich fiktional verwendet. Jede Übereinstimmung mit tatsächlichen Geschehnissen, Schauplätzen, Organisationen oder Personen, lebend oder bereits verstorben, ist rein zufällig und weder vom Autor noch vom Verlag beabsichtigt.

Steve Cromwell gewidmet,
in Dankbarkeit für die gute Arbeit,
mit der Du das Gesicht der Reihe
gestaltet hast, und für all deine
Freundlichkeit in diesen Jahren.

GESTALTWANDLER: Eng verbunden mit dem Berserker-Glauben hielt man jene, die man als Hamrammir (Gestaltwandler) bezeichnete, für fähig, des Nachts oder in Zeiten großer Anspannung ihre Körper zu verlassen (die dann scheinbar schlafend zurückblieben) und die körperliche Gestalt von Tieren anzunehmen, wie von Bären oder Wölfen.

AUS DEM GLOSSAR VON »DIE ISLÄNDISCHEN SAGAS«

Stets ging er früh am Abend schlafen und wachte früh am Morgen wieder auf. Die Leute meinten, dass er ein Gestaltwandler sei, und sie nannten ihn Kveldulf (Nachtwolf).

EGILS EAGA

Weitere Begriffe finden Sie im Glossar.

Prolog

DIE SAGA VON THORGRIM ULFSSON

Einst lebte ein Mann mit dem Namen Thorgrim Ulfsson, der Sohn von Ulf Ospaksson, der als Ulf der Listige bekannt geworden war. Thorgrim war ebenfalls schlau und ein geschickter Krieger dazu, sodass die Männer ihn bald als einen Anführer ansahen. Wenn er eine Schwäche hatte, so war es die üble Stimmung, die ihn nach Sonnenuntergang oft befiel. Er war dann so reizbar, dass niemand sich ihm zu nähern wagte. Manch einer glaubte, dass er ein Gestaltwandler sei, und dies trug ihm den Namen Thorgrim Kveldulf ein, was Nachtwolf bedeutet. In seinen jüngeren Jahren suchte der Wolfsgeist ihn häufig heim, doch als er älter wurde, fand er, dass es seltener geschah, und im Großen und Ganzen war er froh darüber.

Als junger Mann ging Thorgrim mit einem heimischen Jarl auf Wikingerfahrt, der als Ornolf der Rastlose bekannt war. Viele Sommer lang plünderten sie in der Gegend von England und mitunter an so weit entfernten Orten wie dem Frankenreich. Die Beute war gut in diesen Tagen, und Ornolf, der schon vorher wohlhabend gewesen war, wurde noch reicher, während die Männer, die mit ihm segelten, gleichfalls zu Wohlstand gelangten. Aber von all diesen Männern schätzte Ornolf Thorgrim am meisten, und so bot er ihm die Hand seiner Tochter Hallbera an. Das war eine Verbindung, die Thorgrim nur zu gerne einging. Er zahlte Ornolf fünfzig Silbermünzen als Brautgeld, und Ornolf überließ seiner Tochter einen ertragreichen Bauernhof als Mitgift.

Thorgrim und Hallbera führten eine gute Ehe, und sie waren glücklich. Thorgrim gab die Raubzüge auf und kümmerte sich um seinen Hof und um seine Familie, zu der bald auch zwei Söhne – Odd und Harald – sowie eine Tochter namens Hild gehörten. Odd, der Älteste, war ein ernsthafter Junge, der hart und gewissenhaft arbeitete. Harald war ebenfalls fleißig, doch er träumte davon, wie sein Vater und sein Großvater auf Wikingerfahrt zu gehen. Harald verwendete großen Eifer darauf, von Thorgrim alles über den Gebrauch von Waffen zu erlernen, und er suchte auch jeden anderen auf, der ihm etwas darüber beibringen konnte. Wenn er seine täglichen Pflichten erledigt hatte, zog sich Harald oft an eine verborgene Stelle im Wald zurück, wo er mit Schwert, Axt, Speer und Schild übte.

Viele Jahre vergingen, und Thorgrim mehrte seinen Wohlstand und seinen Ruf. Odd heiratete, und Thorgrim überließ ihm den Bauernhof, den Ornolf ihm als Mitgift gegeben hatte. Dann, nachdem Thorgrim schon vierzig Winter erlebt hatte, stellte Hallbera fest, dass sie wieder schwanger war. Sie war nicht mehr jung, und sie starb bei der Geburt, was Thorgrim das Herz brach.

Thorgrims Schwiegervater Ornolf wollte noch einmal auf Wikingerfahrt gehen, dieses Mal nach Irland, und weil Thorgrim feststellte, dass er ohne Hallbera auf seinem Hof nicht mehr glücklich war, schloss er sich ihm an. Thorgrim nahm den inzwischen fünfzehn Jahre alten Harald mit. Sein Sohn war nicht übermäßig groß, aber dafür sehr kräftig, und er erwarb sich bald den Spitznamen »Starkarm«. Nachdem er sich so lange und eifrig im Waffenhandwerk geübt hatte, war ein guter Krieger aus ihm geworden, auch wenn er nicht die Schläue seines Vaters besaß.

Ornolf und seine Mannschaft segelten an Bord von Ornolfs Schiff, dem Roten Drachen, nach Irland, und dort erlebten sie viele Abenteuer und gewannen und verloren mehrere Vermögen. Ornolf starb im Kampf gegen einen Dänen mit Namen Grimarr der Riese, Herr eines Vík-ló genannten Longphorts. Nachdem Harald Grimarr getötet hatte, wurde Thorgrim der Herr von Vík-ló. Er und seine Männer verbrachten genau wie Grimarrs frühere Gefolgsleute dort den Winter und bauten Schiffe, mit denen sie im Frühjahr wieder zu Raubzügen aufbrechen wollten.

Als der Frühling endlich kam, erschien in Vík-ló ein Ire namens Kevin mac Lugaed, mit dem die Nordmänner zuvor bereits Handel getrieben hatten. Er schlug vor, dass seine Krieger und Thorgrims Krieger sich vereinen sollten, um ein Kloster an einem Ort zu überfallen, der Glendalough genannt wurde. Thorgrim und seine Leute stimmten dem zu, und unterwegs stieß noch eine weitere Streitmacht von Nordmännern zu ihnen, die von einem Mann namens Ottar Thorolfson angeführt wurde, dessen Spitzname »Blutaxt« lautete.

Thorgrim und Ottar begaben sich nach Glendalough, indem sie ihre Schiffe so weit den Fluss hinaufruderten, wie sie nur konnten. Glendalough war tatsächlich ein reiches Kloster, doch bevor sie dorthin gelangten, stießen sie auf ein großes Heer der Iren, gegen das sie kämpften. Thorgrim wurde von Kevin verraten, der noch vor der Schlacht die Seiten gewechselt hatte, und dann auch noch von Ottar, der sich in der Nacht davonstahl. Ottar und seine Männer machten sich mit allen Schiffen davon, mit Ausnahme von Thorgrims Schiff Meereshammer, dem sie ein Leck geschlagen hatten. Ottar wollte nach Vík-ló und den Longphort und sämtliche der dortigen Reichtümer für sich beanspruchen. Thorgrim und dessen Krieger ließ er zurück, damit sie unter den Schwertern der Iren den Tod fänden.

Die irischen Krieger richteten unter Thorgrims Leuten ein großes Massaker an, während diese zu entkommen versuchten, und am Ende lebten nur noch der Nachtwolf und zehn seiner Männer. Die Iren versuchten, den Meereshammer zu verbrennen, aber durch einen schlauen Trick konnte Thorgrim sie in die Flucht schlagen, bevor sie das Schiff in Brand steckten. Dann ließ Thorgrim das Loch so gut wie möglich zustopfen, und er und seine verbliebenen Männer segelten mit dem Schiff flussabwärts bis zu einer Stelle, wo sie den Schaden richtig ausbessern konnten. Thorgrim gelobte, dass er an jenen Rache nehmen würde, die ihm all dieses Unrecht zugefügt hatten.

Und davon erzählt die folgende Geschichte …

1. Kapitel

Ich, der ich dem Schwert eine Stimme gebe,
hörte zwei Eistaucher streiten,
und wusste, bald wird Blut fließen.

GISLI SURSSONS SAGA

Sechs Meilen flussabwärts von Glendalough fand Thorgrim Nachtwolf die Stelle am Fluss, wo er den Meereshammer, sein Langschiff, an Land setzen wollte. Er hatte den Ort bereits bei ihrer Fahrt flussauf entdeckt und sich eingeprägt. Das war vor einer Woche gewesen.

Damals war ihm natürlich nicht die Idee gekommen, dass er und seine Männer bald einen Platz benötigen würden, an dem sie ihr Schiff verstecken und ausbessern konnten, um eine verzweifelte und so gut wie aussichtslose Flucht fortsetzen zu können. Aber auch wenn ihm dieser Gedanke völlig ferngelegen hatte, hatte er doch diese Stelle wahrgenommen und im Gedächtnis behalten. Vielleicht hatten die Götter ihm eine Eingebung geschickt. Thor, der ihm zur Seite stehen wollte. Oder Loki, der ihm einen Streich spielte, um sein Leiden zu verlängern.

Die Stelle lag am Südufer, was wenig genug zu bedeuten hatte auf einem Gewässer, das so viele Furten zur Überquerung aufwies. Dennoch brachte es das Wasser zwischen die Nordmänner und das Kloster sowie das Lager, von dem aus die Berittenen sie verfolgen würden. Der Fluss war zu beiden Seiten dicht bewaldet, sodass die Nordmänner von Weitem nicht zu sehen waren und nur entdeckt werden konnten, wenn jemand sich den Weg durchs Gehölz bis ans Ufer bahnte. Eine steinige Sandbank reichte bis in den Strom hinaus und eignete sich perfekt, um das Schiff auf Grund zu setzen. Der weite Bogen im Fluss, in dem sich der Kies hier abgesetzt hatte, verbarg das Schiff auch vor Blicken von stromauf- und -abwärts.

»Dort«, sagte Thorgrim so, dass man ihn vernahm, aber nicht übertrieben laut. Der Kiesstreifen erstreckte sich zweihundert Fuß vor ihnen, und er sprach zu der Handvoll Männer an den Rudern, damit sie wussten, dass ihre Mühen bald ein Ende hatten. Er selbst führte die Ruderpinne und hielt das Schiff so gut es ging in der Mitte des Stroms.

Vor sich sah er einige Köpfe herumschwingen und einen Blick riskieren; nicht viele Köpfe, denn es waren auch nicht mehr viele Männer an Bord. Harald, sein Sohn. Der baumlange Godi, der gegenüber von Harald am Ruder zog. Ein Krieger namens Olaf Thordarson, der mit ihnen aus Dubh-Linn gekommen war, und ein anderer namens Ulf. Insgesamt waren es zehn Männer, einschließlich Starri dem Unsterblichen, der beim ersten Kampf gegen die Iren verwundet worden und an Bord des Meereshammers zurückgeblieben war, als sie zum Angriff auf Glendalough aufgebrochen waren. Zehn Männer von mehr als zweihundert, die von Vík-ló aus zu diesem Raubzug losgesegelt waren.

»Harald, mach ein paar Taue bereit, damit wir sie zu den Bäumen am Ufer legen können«, rief Thorgrim. Harald nickte, holte sein langes Ruder ein und legte es auf den Seekisten ab, die die Ruderer als Bänke benutzten. Das fehlende Ruder verlangsamte die Fahrt der Meereshammer kaum, denn hauptsächlich trieb die Strömung das Schiff voran. Die Männer an den Riemen beschränkten sich im Wesentlichen darauf, das Schiff auf Kurs zu halten, den Rumpf in Fahrtrichtung zu halten und ein wenig zusätzlichen Vortrieb zu liefern, damit das Steuerruder greifen konnte.

Und das war auch gut so, denn zehn Männer – zehn verletzte, erschöpfte, entmutigte Männer – und dazu zwei Gefangene, einer davon eine Frau, hätten unmöglich ein fünfundsechzig Fuß langes Schiff aus Eichen- und Kiefernholz aus eigener Kraft bewegen können.

»Ein Zug noch! Dann holt die Ruder ein!«, rief Thorgrim danach, und die verbliebenen Männer – fünf an Backbord und vier an Steuerbord – hängten sich ein letztes Mal in die Riemen, zogen daraufhin die Ruder ein und legten sie ab, wie Harald es getan hatte. Thorgrim drehte die Ruderpinne, und der Meereshammer schwenkte zur Seite. So lief er nicht mit dem Bug voran auf den Kies, sondern glitt mit der gerundeten Flanke des Schiffsbodens ins seichtere Wasser, auf eine Weise, bei der die Sandbank das angeschlagene Schiff so wirksam wie möglich stützen würde.

Eine leichte Erschütterung lief durch den Rumpf, als dieser aufsetzte, und Harald sprang mit den Tauen in der Hand über die Bordwand und auf die Sandbank hinab. Das Wasser, das einen Zoll hoch auf dem Deck des Meereshammers stand, schwappte wie eine kleine Brandungswelle zur Backbordseite.

Noch zehn Minuten, und wir wären im Flussbett gestrandet, dachte Thorgrim. Sie hatten das zwei Fuß breite Loch im Schiffsboden mit den Tuniken der Toten ausgestopft, aber so ließ sich ein Leck kaum wirkungsvoll abdichten.

Der Meereshammer war als Einziges von neun Schiffen zurückgeblieben, nachdem Ottar der Verrückte und seine Männer Thorgrims Krieger in den Stunden vor dem Morgengrauen im Stich gelassen hatten, sodass sie allein den Iren in der Schlacht gegenüberstanden. Thorgrims Schiff war nur deswegen zurückgelassen worden, weil Ottars Bruder Kjartan sich gegen den Verrückten gestellt und ein Loch in den Rumpf geschlagen hatte, um zu verhindern, dass Ottar auch dieses Schiff stahl. Thorgrim und die Handvoll Männer, die dem Massaker durch die Iren entgangen waren, hatten es dann halb versunken am Flussufer gefunden.

Später waren auch die Iren auf das Schiff gestoßen. Es waren zwanzig Männer gewesen, berittene Krieger – zu viele, als dass die Wikinger es mit ihnen hätten aufnehmen können. Während Thorgrim und seine Leute vom Schutz der Bäume aus zusahen, hatten die Iren sich angeschickt, das Boot zu verbrennen. Das war für Thorgrim zu viel gewesen. Er wäre lieber gestorben, als auch noch diese letzte Demütigung hinzunehmen.

Am Ende war so ein Opfer nicht notwendig gewesen. Thorgrims Gefangener, sein männlicher Gefangener, war ein Ire namens Louis, und Thorgrim hatte ihn vorgeschickt, um die irischen Reiter zu vertreiben, indem er ihnen einredete, dass sechzig Wikinger den Fluss entlang auf sie zuhielten. Mit den paar Männern, die ihm geblieben waren, hatte Thorgrim dann die Ankunft einer viel größeren Truppe vorgetäuscht, und das hatte ausgereicht, um die Iren zum Abzug zu bewegen. Er wusste jedoch, dass sie nicht lange wegbleiben würden, und wenn sie zurückkamen, würden es nicht mehr nur zwanzig Mann sein.

Als der Hufschlag in der Ferne verklang, führte Thorgrim seine Männer zurück an Bord des Meereshammers. Das Schiff war zwar übel leckgeschlagen, aber sie mussten nicht weit damit kommen, nur ein Stück weiter, als die Iren voraussichtlich nach ihnen suchen würden.

»Wir brauchen etwas, um das Loch abzudichten«, sagte Thorgrim, nachdem er durch das klare Wasser, das den Schiffsrumpf geflutet hatte, einen Blick auf den Schaden geworfen hatte. Er richtete sich auf und blickte umher. Überall am Ufer lagen Tote. Die meisten davon waren seine eigenen Leute; jene Männer, die er zurückgelassen hatte, um die Schiffe zu schützen. Sie hatten ihr Leben dafür hingegeben, doch es waren nicht annähernd genug gewesen, um die beinahe dreihundert Mann unter Ottars Kommando aufzuhalten.

Aber nicht alle Toten gehörten zu Thorgrim. »Sucht euch ein paar von Ottars Gefallenen«, ordnete Thorgrim an. »Zieht ihnen die Tuniken aus und bringt sie mir. Schneidet sie ihnen einfach vom Leib.« Thorgrim quälte bereits der Gedanke an die Männer, die wegen seiner Fehleinschätzung gestorben waren. Es quälte ihn, dass keine Zeit blieb, um sie anständig zu bestatten. Der Gedanke, dass er ihre Leichen auch noch nackt und aufgedunsen zurücklassen musste, sodass Raben und Wölfe sich daran gütlich tun würden, war ihm gänzlich unerträglich.

Die anderen bestätigten seine Worte mit einem Nicken und gingen zurück an Land, um die Leichen zu finden, denen sie die Kleidung nehmen konnten. Sie schlurften, sie humpelten, sie bewegten sich unter offensichtlichen Schmerzen. Alle waren während des Kampfes in irgendeiner Form verwundet worden, hatten einen Schwertstreich abbekommen, einen Stich mit dem Speer oder einen Huftritt. Sie waren verletzt, aber sie konnten sich noch bewegen, und deswegen hatten sie überlebt. Jene, die zu schwer verwundet worden waren, um zu laufen, hatten die Iren auf dem Schlachtfeld niedergemacht.

Einer nach dem anderen kehrten die Männer wieder zurück, mit Bündeln von Kleidung, die am Morgen noch lebende Krieger umhüllt hatte, und Thorgrim wusste, dass er eine weitere Entscheidung treffen musste. Eine härtere Entscheidung. Er nahm die Tuniken entgegen und ließ den Blick noch einmal über das Ufer schweifen. Seine Männer waren im Kampf gefallen. Die Walküren waren schon bei ihnen gewesen – sie mussten es gewesen sein; es war bereits Stunden her. Welchen Nutzen hatten die Männer dann noch von ihren Waffen? Inzwischen tafelten sie in Odins Halle, oder sie würden nie dorthin gelangen.

»Vier von euch sollen nach Helmen suchen, um das Schiff auszuschöpfen.« Thorgrim wies auf das Wasser im Rumpf des Meereshammers, das an der tiefsten Stelle einen Fuß hoch stand. »Die Übrigen sammeln sämtliche Schwerter, Schilde, Kettenhemden und Waffen, die sie finden können, und bringen sie an Bord.«

»Von Ottars Männern, Herr?«, fragte Ulf. »Oder von allen Toten?«

»Von allen. Sie brauchen keine Waffen mehr«, erklärte Thorgrim, und sein Tonfall lud nicht zur Widerrede ein. »Und nenn mich nicht ›Herr‹«, fügte er hinzu. »Es gibt nichts mehr, worüber ich noch herrschen würde. Nicht einmal einen Misthaufen. Gar nichts mehr.«

Ich bin kein Herr, weil ich ein Dummkopf bin, dachte er.

Wieder kletterten die Männer über die Bordwand und schwärmten am Ufer aus. Starri der Unsterbliche humpelte hinterher, seine Wunde war schwerer als die der anderen, und die Ereignisse des Tages hatten das noch verschlimmert. Er war hier gewesen, als Ottars Männer eintrafen, hatte trotz seiner Schmerzen zu den Waffen gegriffen und gekämpft, bis er zusammengebrochen war. Aber die Qual, nichts zu tun, war für Starri schlimmer als jeder Schmerz, den die Bewegung auslösen mochte.

»Starri«, sagte Thorgrim, als Starri mühsam ein Bein über den Rand des Bootes schwang. »Bleib an Bord und lausche, ob du die Reiter zurückkommen hörst. Keiner der anderen würde sie so früh bemerken wie du.«

Starri nickte. Sein Gehör war legendär. Er zog sein Bein wieder zurück und stieg auf das Vorderdeck, lehnte sich dort gegen den hohen Bugsteven. Der elegant geschwungene Pfahl endete zehn Fuß über ihm in einem geschnitzten Haupt: das Haupt Thors, der rachsüchtig und bedrohlich über den Bug des Schiffes hinausblickte. Nun spähten Thor und Starri gemeinsam auf das Land jenseits des Flussufers und achteten wachsam auf jedes Anzeichen einer Bedrohung.

Thorgrim breitete die zerschnittenen Tuniken über der Bordwand aus und kniete sich ins Wasser am Boden des Schiffsrumpfs. Er nahm eine der Tuniken und stieß sie in das Loch, drückte den Stoff so fest in einen Winkel der Öffnung, wie er nur konnte, dann griff er nach einer weiteren.

Er hörte, wie jemand an Bord kam, und im nächsten Augenblick das Spritzen von Wasser. Er blickte über die Schulter. Harald schöpfte bereits mit einem Lederhelm Wasser zurück in den Fluss. Thorgrim hatte damit gerechnet, dass er sich für diese Aufgabe entscheiden würde. So gern Harald auch den erwachsenen Mann gab, Thorgrim konnte sich doch nicht vorstellen, dass ihm der Gedanke gefiel, Leichen Rüstungen auszuziehen.

»Harald«, sagte Thorgrim. »Warte wenigstens, bis ich das Loch verstopft habe, bevor du zu schöpfen anfängst.«

Harald lief rot an. »Oh … Ja … Natürlich.« Das war alles, was er hervorbrachte. Harald war stets gern der Erste bei allem, und manches Mal handelte er vorschnell.

Zwei weitere Tuniken, und das Loch war so gut abgedichtet, wie es auf diese Weise nur möglich war. Thorgrim wusste genau, dass das Wasser weiter hineinströmen würde, aber nicht schneller, als sie es herausschöpfen konnten. Jedenfalls für eine Weile.

»In Ordnung«, sagte er. »Du kannst jetzt anfangen.«

Harald machte sich gleich ans Werk, er füllte den Helm und schleuderte das Wasser über die Bordwand. Er war nun schon seit mehreren Jahren unterwegs. Wikingerboote waren die besten Schiffe der Welt – schnell, beweglich, wendig und hochseetauglich –, aber es blieben im Grunde einfache Langboote, groß und oben offen, und so hatte Harald wie alle anderen Seefahrer aus den nördlichen Ländern beträchtliche Erfahrung im Wasserschöpfen.

Thorodd Bollason schloss sich Harald in seinen Bemühungen an und schleuderte mit großem Eifer Wasser über die Bordwand, ungeachtet einer klaffenden Wunde am Oberarm, die von einem irischen Schwertstreich zurückgeblieben und mit einem blutdurchtränkten Verband umwickelt war. Zwei weitere Männer, Vali und Armod, kamen hinzu, und es dauerte nicht lange, bis Thorgrim sehen konnte, wie der Wasserstand im Schiff fiel.

Er spähte den Fluss entlang und beurteilte die Stärke der Strömung. Da hörte er, wie etwas aufs Deck polterte, spürte die Planken unter seinen Füßen erbeben und wandte sich um. Godi ließ eine beachtliche Menge von Kettenhemden, Schwertern und Äxten über den Bootsrand am Bug fallen. Hinter ihm standen weitere Männer an, die ähnlich beladen waren. Sie schauten grimmig drein. Genau wie Thorgrim wussten sie, dass es nötig war, was sie da taten, aber sie waren nicht froh darüber.

Thorgrim blickte auf den Uferstreifen. Seine Leute kehrten wieder zu den Toten zurück und plünderten sie, doch die zwei Gefangenen standen nur mit verschränkten Armen daneben und schauten zu. Sie waren ihm ein Rätsel, der Mann und die Frau, die beide Kettenhemden und Schwerter getragen hatten, wobei man ihnen Letzteres abgenommen hatte. Sie waren am Wasser entlang flussabwärts gewandert und dabei auf Thorgrim und seine Männer gestoßen. Soweit Thorgrim sagen konnte, waren es Iren, aber er hatte trotzdem das Gefühl, dass sie vor irgendwas oder irgendjemandem auf der Flucht waren.

Der Mann trug einen Sack über der Schulter, und Thorgrim hatte von Anfang an richtig vermutet, dass sich eine kleine Truhe mit Silber, Gold und Juwelen darin befand.

Diebe?, überlegte Thorgrim. Vielleicht, aber sie waren besser gekleidet und bewaffnet als jeder umherstreifende Räuber, den Thorgrim je gesehen hatte. Nicht, dass das im Augenblick von Bedeutung war. Wer auch immer sie waren, sie würden nicht müßig herumstehen.

»Harald!«, rief Thorgrim. »Sag unseren neuen Freunden dort, sie sollen sich ein paar Helme suchen und schöpfen.«

Harald nickte und rief den beiden an Land etwas zu, erklärte ihnen etwas auf Irisch. Er hatte während ihres Aufenthalts in diesem Land viel von der einheimischen Sprache aufgeschnappt, getrieben von dem Wunsch, mit den verschiedenen irischen Frauen zu sprechen, die er getroffen hatte, was auch immer ihm das eingebracht hatte.

Widerwillig hoben die Gefangenen Helme auf, kletterten an Bord und begannen zu arbeiten. Thorgrim spürte, wie sich das Schiff unter ihm bewegte. Der Kiel löste sich vom Boden. Mehr Wasser ging über den Rand, und der Meereshammer richtete sich weiter auf.

»Nachtwolf«, rief Starri vom Bug. »Reiter.«

Thorgrim nickte. »Das war’s«, rief er. Diese Reiter mochten die Iren sein, die mit zusätzlichen Männern zurückkehrten, oder auch nicht. Aber sie durften nicht abwarten, bis sie es genauer erfuhren. Thorgrim blickte über die Bordwand hinab. Das Schiff schien zu schwimmen und lag hoch genug im Wasser, um es vom Ufer zu lösen. »Schiebt es in den Fluss, verschwinden wir!«, sagte er. Die Männer, die am Ufer die Waffen einsammelten, hörten damit auf und stemmten ihre Schultern gegen den Rumpf. Harald sprang über Bord und tat dasselbe.

Mit einem Minimum an Grunzen und Fluchen löste sich der Bug des Meereshammers vom steinigen Ufer, und bevor die Männer, die das Schiff angeschoben hatten, an Bord kletterten, drehten sie es noch so, dass es flussabwärts zeigte. Die Strömung ergriff das Schiff und trug es davon. Thorgrim hielt Kurs, bis das Schiff Fahrt aufnahm. Sie ließen die Biegung hinter sich und waren außer Sicht, bevor die Reiter am Ufer auftauchten.

Zwei Stunden lang bewegten sie sich flussabwärts, ruderten und schöpften Wasser, bis der Meereshammer endlich auf der Sandbank zur Ruhe kam, die Thorgrim sich eingeprägt hatte.

Harald trat über den Kies auf die Bäume dahinter zu. Dabei entrollte er das Tau, und bald hatte er das Schiff an Bug und Heck festgemacht. Auf Thorgrims Befehl hin ließen die Männer die Rah auf Deck hinab, lösten die Halterung, mit der sie am Mast festgemacht war, und legten die schweren Spiere dann an der Backbordseite ab.

Nachdem das erledigt war, entfernten sie die Spanner, um die unteren Enden der Wanten freizubekommen, den Mast aus dem Mastfuß zu heben und ihn neben der Rah abzulegen. Mit so wenig Männern war das keine leichte Aufgabe, vor allem, wenn diese wenigen in so schlechter Verfassung waren, aber es würde ihnen sehr dabei helfen, das Schiff versteckt zu halten. Wichtiger noch, das Gewicht der Spieren auf der Backbordseite hob das Leck an Steuerbord höher aus dem Wasser, sodass das Schiff nicht weiter volllief.

Thorgrim zog die durchweichten Tuniken aus dem Riss in der Bordwand und konnte das Loch endlich genauer untersuchen. Er kniete auf dem Deck und beugte sich über den Schaden. Im Geiste malte er sich aus, wie die zertrümmerten Planken bis zu den Stellen zurückgeschnitten wurden, an denen sie noch unbeschädigt waren, wo die neuen Stücke angebohrt und die Nägel gesetzt werden mussten, um sie zu halten. Seine Gedanken wanderten zu der Stelle unter dem Deck, wo die Ersatzplanken verstaut lagen. Er ging sie im Kopf durch, wie er es mit den Augen getan hatte, als er sie an Bord genommen hatte.

Der Meereshammer war in jeder Hinsicht Thorgrims Schiff. Er hatte ihn selbst gebaut, gemeinsam mit Aghen Ormsson, dem alten, erfahrenen Schiffsbaumeister, der sich in Vík-ló niedergelassen hatte. All die Wintermonate über hatten Thorgrim und Aghen Seite an Seite gearbeitet und dem Meereshammer sowie den anderen Schiffen, Drache und Blutfalke, Form verliehen. Jeden einzelnen Schritt hatten sie miteinander erörtert, über manches gestritten, während sie bei anderem rasch einer Meinung waren. Sie hatten das Holz ausgesucht, die Planken zurechtgeschnitten, den Kiel, die Spanten und den Mastfuß geplant. Während jeder Mann im Longphort beim Bau mitgeholfen hatte, hatten Thorgrim und Aghen allein alles entworfen.

So hegte Thorgrim auch keinen Zweifel daran, dass er sein Schiff wieder instand setzen konnte. Nicht nur so weit, dass es auf dem irischen Fluss bestehen würde, sondern dass es erneut volle Seetüchtigkeit erlangte. Aber er wusste auch, dass dies keine einfache Aufgabe war.

Ebenso wusste er, dass er nicht schon heute damit beginnen würde. Die Sonne versank bereits im Westen, und während er noch die beschädigten Planken betrachtete, spürte Thorgrim, wie die Erschöpfung ihn einholte. Mit einiger Überraschung wurde ihm klar, dass er und seine Männer erst an diesem Morgen gegen die irischen Reiter um ihr Leben gekämpft hatten, dass es gerade nach der Morgendämmerung gewesen war, als er zugesehen hatte, wie seine Schiffskameraden rings um ihn niedergemetzelt wurden. Es kam ihm vor, als hätte dieses knappe Dutzend Stunden Tageslicht genug Grauen und Wut und Leid für ein halbes Leben gesehen.

Er versammelte die Männer und teilte Wachen ein, und trotz seiner Erschöpfung übernahm er selbst die erste Schicht. Die anderen schleppten sich zu ihren Schlafstellen, und Thorgrim nahm seinen Platz auf dem Achterdeck ein, die Augen auf das im Dunkel versinkende Ufer gerichtet und aufmerksam auf alles lauschend, was aus den nächtlichen Geräuschen hervorstach.

Die Einzelheiten am Ufer verblassten mit dem schwindenden Sonnenlicht, und im selben Maße erschienen die Geister, die Bilder jener Männer, die er an diesem Tag verloren hatte: Agnarr, Skidi Streitaxt, Bersi, Sutare Thorvaldsson, all jene, die sich seinem Befehl anvertraut hatten, die ihm gefolgt waren und die er in den Tod geführt hatte. In seinem Geist sah er sie alle noch lebendig vor sich, und manche standen ihm in dem Augenblick vor Augen, da sie gestorben waren, als irische Schwerter oder Speere sie niedergestreckt hatten.

Er hatte lange schon Männer geführt. Und er hatte Gemetzel erlebt. Aber noch nie war es ihm geschehen, dass seine eigenen Leute auf diese Weise niedergemacht wurden. Und niemals hatte er sich in diesem Maße für ihren Tod verantwortlich gefühlt.

In jüngeren Jahren und selbst bei der Rückkehr nach Irland waren es letztendlich Ornolfs Männer gewesen, die er befehligt hatte, nicht seine eigenen. Er mochte sie geführt haben, aber die Verantwortung hatte auf Ornolfs Schultern und nicht auf den eigenen gelegen.

Er erinnerte sich daran, dass die anderen Schiffsführer – Skidi und Bersi und Kjartan – alle für diesen Raubzug gestimmt hatten. Sie hatten daran teilnehmen wollen, genau wie die ihnen folgenden Männer. Doch dieser Gedanke minderte nicht im Geringsten die Last, die er trug.

»Nie wieder«, sagte er leise zu sich. Die Männer unter seinem Kommando mochten auch in Zukunft einen blutigen und gewaltsamen Tod finden, aber niemals mehr, weil er sich zum Narren halten ließ.

Die Stunden vergingen, und Thorgrim fühlte, wie irgendwo hinter den dichten Wolken die Sterne auf ihrer Bahn über den Himmel zogen. Schließlich weckte er Godi, damit dieser ihn ablöste. Ächzend kam der riesige Kämpfer auf die Beine und streckte sich. Thorgrim sah sich ein letztes Mal um. Alles war still. Ein paar der Männer schnarchten. Er legte sich auf einem Fell an Deck nieder und schloss die Augen. Er war nicht sicher, ob er einschlafen könnte oder welche Träume ihn heimsuchen würden, wenn er es tat. Am Ende jedoch gewann die Erschöpfung die Oberhand, und er schlief tief und traumlos.

Dann schreckte er hoch und wusste, dass etwas nicht stimmte. Er öffnete die Augen und erkannte das graue Dämmerlicht der Rismál, der Stunde des Tageserwachens. Alles war ruhig, niemand gab Alarm, doch er wusste, dass etwas nicht in Ordnung war. Er setzte sich auf, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie Godi auf ihn zutrat. Er bewegte sich seitwärts und ließ das Flussufer keinen Moment aus den Augen.

Thorgrim richtete sich auf. Männer kamen zwischen den Bäumen hervor, bewaffnete Männer. Mindestens zwanzig, wahrscheinlich mehr. Es waren Iren, aber sie sahen nicht wie Krieger aus. Es waren viel schlimmere Gesellen.