Es gibt Menschen, ein paar glückliche Wenige, die schon früh zu wissen scheinen, wohin ihre Lebensreise gehen soll und die keine Schwierigkeiten haben, ihr Ziel zu erreichen.
Ich gehörte nicht zu ihnen. In Deutschland geboren, in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, spürte ich – wie viele Kinder dieser Generation – unmittelbar das Unwohlsein und Missbehagen der Älteren, wenn Gesprächsthemen die jüngste Geschichte des Landes berührten. Selbst als kleiner Junge, war ich mir der Tatsache bewusst, dass es einige äußerst unruhige Leichen im Keller der Nation gab, die uns alle betrafen, sogar diejenigen, die erst nach dem Ende der Nazi-Ära geboren worden waren. Auch sie hatten in gewisser Weise das Vermächtnis zu tragen, das ihnen allein durch den Umstand vermacht worden war, dass sie von seiner Existenz wussten.
Das Wissen um die Billigung, wenn nicht sogar aktive Unterstützung des Nazi-Regimes durch so viele unserer Bezugspersonen – seien es Lehrer, Onkel, Tanten oder am Ende sogar unsere Eltern – hatte eine ganze Generation ihrer moralischen Werte beraubt und ließ uns Kinder halt- und hilflos zurück.
Ich fühlte mich tief in meinem Inneren irgendwie heimatlos. Durch Zufall oder einen Wink des Schicksals hatte es mich auf diesen Planeten mit einem deutschen Pass und Deutsch als meiner Muttersprache verschlagen, aber wohin gehörte ich wirklich? Was sollte ich mit meinem Leben anfangen, wohin würde ich gehen?
In meiner Familie hatte es über Generationen hinweg Ärzte gegeben und von mir wurde fast automatisch erwartet, ebenfalls diese Laufbahn einzuschlagen. Und doch fühlte ich mich nicht allzu sehr zu diesem Beruf hingezogen. Als junger Mann war meine größte Leidenschaft die Musik, besonders der Jazz mit seinen anarchischen Improvisationen und rebellischen Rhythmen hatte es mir angetan. Und die Tatsache, dass er nur wenige Jahre zuvor von den Nazis verboten worden war, machte ihn nur noch anziehender. Ich wäre glücklich und zufrieden gewesen, mich in der Welt der Musik zu verlieren, doch schließlich holte mich die Medizin ein, wie eine alte Schuld, und ich gab mich der Laufbahn meiner Vorfahren hin.
Rückblickend bin ich froh, dass mich meine Mutter sanft aber bestimmt in diese Richtung steuerte. Während die Musik mich mein ganzes Leben hindurch erfreute und tröstete, war es die Medizin, die mich als Mensch definierte, mich anspornte, herausforderte und intellektuell nährte, auch wenn sie mich auf persönlicher Ebene gelegentlich allzu nahe an meine eigenen Grenzen brachte.
Natürlich konnte ich nicht ahnen, dass das Aufwerfen grundsätzlicher und notwendiger Fragen als Wissenschaftler derart erbitterte Kontroversen zur Folge haben würde und dass ich infolge meiner Forschung in ideologische Debatten und politische Intrigen auf höchsten Ebenen verwickelt würde.
Hätte ich diesen Weg trotz allem gewählt, wenn ich gewusst hätte, welche Schwierigkeiten, Konflikte und Machenschaften mich erwarteten? Ja, das hätte ich. Arzt zu werden und eine Karriere als Wissenschaftler zu verfolgen , verschaffte mir nicht nur die Möglichkeit, vor den Gefahren durch den wachsenden Einfluss von Pseudowissenschaften zu warnen, sondern gab mir paradoxerweise auch den Mut, mich gefestigt mit unserer untragbaren Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Dies ist die Geschichte, wie ich schließlich meinen Platz im Leben fand.
Kapitel 1
Wenn ich es mir recht überlege, war ich wohl schon immer von Alternativmedizin umgeben gewesen. Und ich hatte nicht die geringsten Probleme damit. Hydro-Therapie, Homöopathie, Naturheilkunde – diese Konzepte waren ein ebenso stillschweigend akzeptierter Bestandteil der deutschen Kultur, wie Lederhosen und das vielleicht besonders in Bayern, wo ich aufwuchs.
Aus diesem Grunde wunderte sich auch niemand darüber, dass meine Mutter, mein Bruder und ich bei Tagesanbruch verschlafen über das nasse Gras vor unserem Haus stapften, barfuß und bekleidet mit wenig mehr als unserer Unterwäsche. Meine Mutter – eine willensstarke und in vielen Dingen liebenswert exzentrische Frau – war zu diesem Zeitpunkt eine glühende Verehrerin der Alternativmedizin. Für eine Weile widmete sie sich der Kneipp-Therapie, einer frühen Form der Naturheilkunde, die unter anderem darin bestand, sich in den grauen und trostlosen Morgenstunden der Kälte auszusetzen. Benannt ist sie nach Sebastian Kneipp, einem bayrischen Priester, der sich angeblich selbst von Tuberkulose geheilt haben will, hauptsächlich indem er sich regelmäßig in kaltem Wasser erging. Kneipp – ebenso wie meine Mutter als seine begeisterte Anhängerin – war überzeugt, dass man die Kräfte der Natur dazu einsetzen könne, Krankheiten zu heilen. Eisbäder und Tautreten (oder sogar Schneetreten) waren die Grundpfeiler seiner therapeutischen Philosophie und – glaubte man meiner Mutter – der beste Weg für zwei Teenager, ihren Tag zu beginnen. Wenn sie ein Ziel vor Augen hatte, konnte man sich ihren Bekehrungsversuchen nur schwer widersetzen.
Abgesehen von dem zweifachen Schock, in der Dämmerung aus dem Bett geworfen zu werden und dazu noch nasse, kalte Füße zu bekommen, ging es uns erstaunlich gut damit. Um die Wahrheit zu sagen, diese merkwürdigen Übungen weckten uns auf und bereiteten uns auf den Tag vor. Tatsächlich, so würde ich viele Jahre später erfahren, sind viele alternativmedizinische Behandlungsmethoden alles andere als unangenehm. Aber wie die meisten engagierten Verfechter der Naturheilkunde hatte sich auch meine Mutter zu der Annahme hinreißen lassen, die Kneipp-Therapie würde uns für immer gesund erhalten. Eine Hypothese, die zum Glück nicht auf die Probe gestellt wurde. Nach ein paar Monaten ebbte das Interesse meiner Mutter an Kneippkuren soweit ab, dass wir wieder zu einer etwas gelasseneren Normalität übergehen konnten.
Normalität? Das mag vielleicht nicht ganz das richtige Wort sein. Unsere Familie war alles andere als normal. Das Leben in Deutschland nach den Verheerungen des Zweiten Weltkriegs war nicht leicht. Mein Vater war, wie sein Vater vor ihm, Arzt. Er hatte in Hitlers Armee als Arzt gedient, zuerst an der Westfront und später in Russland. Gegen Kriegsende geriet er in Kriegsgefangenschaft und hatte wohl großes Glück, diese Erfahrung zu überleben. Er war ein Mann, der es liebte, endlose Geschichten zu erzählen, aber über seine Zeit als Kriegsgefangener in Sibirien hüllte er sich beharrlich in Schweigen. Nicht ein einziges Mal gab er unseren Versuchen nach, mehr über die Geschehnisse dieser Zeit zu erfahren.
Vor dem Krieg hatten meine Eltern in Schlesien gelebt, das jetzt zu Polen gehört. Meine Mutter und Großmutter waren vor den vorrückenden Russen geflohen, zusammen mit einer alten Freundin der Familie, die Tante Lorchen genannt wurde und meinen beiden älteren Geschwistern – meinem Bruder, der kaum ein Jahr alt war, und meiner nur vierjährigen Schwester.
Das Wenige, das ich über die Flucht weiß, stammt aus den Memoiren, die meine Mutter uns hinterließ. Während ihres Lebens fand auch sie es schwer, über ihre Erlebnisse zu erzählen, aber sie erwähnte mehrmals, sie sei zu einem Zeitpunkt davon überzeugt gewesen, mein Bruder würde die Tortur nicht überleben.
Was sowohl in den Memoiren, als auch in den wenigen Gesprächen am deutlichsten wurde, war die unumstößliche Entschlossenheit, den herannahenden russischen Truppen zu entkommen, die, wie sie befürchtete, die drei Frauen vergewaltigt und dann vermutlich die gesamte Gruppe umgebracht hätten. Mit vereinten Kräften hatten sie einen Handkarren über hunderte von Kilometern hinweg gezogen, um endlich die relative Sicherheit der Stadt Wiesbaden zu erreichen, die zu der von den Amerikanern besetzten Zone gehörte und wo meine Großeltern väterlicherseits lebten. Zu diesem Zeitpunkt war alles von Wert bereits eingetauscht oder verkauft, nur um das Überleben zu sichern.
Mein Vater kam zwei Jahre nach Kriegsende aus der Gefangenschaft und als meine Eltern schließlich wieder vereint waren, müssen sie so überglücklich gewesen sein, dass sie mich in die Welt setzten.
Wie viele Familien im Nachkriegsdeutschland musste auch die meine um das nackte Überleben kämpfen. Ich war zu klein, mich deutlich an diese Zeit zu erinnern, aber die Erinnerungen meiner Mutter zeichnen das Bild sowohl unvorstellbarer Not, als auch eines großen Erfindungsreichtums, den diese Zeit hervorbrachte. Es gab wenig Kohle, um zu heizen, nichts zu essen und keine Kleidung für uns Kinder. Eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an eine kratzige Hose, die meine Mutter aus einer alten Hakenkreuzflagge genäht hatte, die sie irgendwo gefunden hatte. Es gab wenig Hoffnung. Die Moral war am Boden und nur der Überlebensinstinkt hielt uns aufrecht.
Nahrungsmittel waren so knapp, dass mein Vater seine spärlichen Kenntnisse der Pflanzenkunde, die er während des Medizinstudiums erworben hatte, dazu nutzte, eine Art Puder auf Pflanzenbasis herzustellen, das uns – wie er stolz versicherte – als Mehlersatz dienen sollte. Natürlich schmeckte es grauenvoll – so grauenvoll, dass niemand von uns den Kuchen essen wollte, den meine Mutter damit gebacken hatte. In der Zwischenzeit ging meine Großmutter als die Nikotinsüchtige der Familie dazu über, Rosenblätter und Teile von Tomatenpflanzen zu rauchen. Sie enthalten tatsächlich etwas Nikotin, wie ich später erfahren sollte.
Meine Mutter wollte sich nicht auf die botanischen Experimente meines Vaters verlassen und zog daher mit einem alten Handkarren über Land, um Nahrungsmittel für die Familie aufzutreiben. Eines Tages ergatterte sie Zwiebeln, die in einem verlassenen Garten gelegen hatten. Da sie nie eine gute Köchin gewesen war, überraschte uns der komische Geschmack der Zwiebelsuppe nicht weiter. Zwei Stunden später befanden wir uns alle im Krankenhaus und ließen uns die Mägen auspumpen – sie hatte uns mit den Zwiebeln von Hyazinthen und Narzissen vergiftet!
Mein Vater war erpicht darauf, unser Überleben zu sichern, indem er wieder als Arzt arbeitete. Und so reiste er herum, um einen Ort zu finden, an dem wir neu anfangen könnten. Schließlich gelang es ihm, allerdings unter der Voraussetzung, dass die gesamte Familie nach Bad Neuenahr umsiedelte, einem Kurort südlich von Bonn. Mein Vater hegte die Hoffnung, dass er dort Fuß fassen könnte, so dass wir nicht mehr Gefahr liefen, zu verhungern oder durch die »Zwiebelersatzsuppe« meiner Mutter vergiftet zu werden.
Vor dem Krieg hatten meine Eltern in Schlesien eine kleine Reha-Klinik aufgebaut, hauptsächlich für Diabetes-Patienten. Mein Vater war ihr einziger Arzt gewesen, und meine Mutter war nach und nach in die Rolle der Geschäftsführerin hineingewachsen. Nun, da sie ein Haus in Bad Neuenahr gemietet hatten, kamen ihnen die vor dem Krieg gesammelten Erfahrungen zugute, um sich einer solchen Aufgabe noch einmal zu stellen. Schon bald waren sie wieder im Geschäft und leiteten eine kleine, aber wohlgeordnete Einrichtung.
Die Dinge standen nicht schlecht, denn es herrschte alles andere als Patienten-Mangel. Die meisten Männer, die aus dem Krieg heimkehrten, waren krank – leider war mein Vater da keine Ausnahme. Er erholte sich nie vollständig von der Zeit in Sibirien und mehr als einmal war er dem Tode nahe. Meine Erinnerungen sind vage und verschwommen, doch ich erinnere mich noch dunkel, wie zutiefst verunsichert und ängstlich ich war, wenn ich an sein Bett gerufen wurde, um Abschied zu nehmen. Zum Glück lebte er bis in seine frühen Achtziger hinein, doch wir nahmen viele tränenreiche Abschiede, jedes Mal der Überzeugung, es sei der letzte. In mir formte sich der naive Wunsch eines kleinen Jungen, wie schön es wäre, Arzt zu werden und ihn von seinen Erkrankungen heilen zu können!
Aber der Krieg hatte nicht nur Gesundheit und Häuser zerstört. Familien brachen in Rekordgeschwindigkeit auseinander, leider auch die meine. In den frühen Fünfzigern, als ich ungefähr vier Jahre alt war, trennten sich meine Eltern. Meine Mutter war der Meinung, mein Vater habe es verlernt, treu zu sein, mein Vater machte Hitlers Krieg für das das Scheitern der Ehe verantwortlich. Als sich meine Eltern scheiden ließen, wurde die Familie erneut auseinandergerissen. Meine Mutter musste uns drei Kinder zurücklassen.
Ohne sie fühlten wir uns verloren, traurig, verlassen und ängstlich. Aber wir hatten keine Wahl; niemand fragte uns danach, was diese dramatische Veränderung in unserem Leben für uns bedeutete. Wir schlossen uns noch enger zusammen als zuvor und versuchten, so gut wie möglich zurechtzukommen. Mein Vater stellte ein Kindermädchen an, das sich um uns kümmern sollte. Wir hassten sie von ganzem Herzen, aber auch das nützte uns nichts. Die Zeiten war schwer für uns alle und man erwartete von uns, dass wir unser Bestes taten, sie nicht noch schwerer zu machen. Dieser Abschnitt unseres Lebens war geprägt durch eiserne Entschlossenheit und die Weigerung, unser Schicksal zu beweinen. Selbstmitleid war verpönt.
Meine Mutter hatte alles daran gesetzt, die Klinik in Schlesien zum Erfolg zu bringen und nach dem Krieg diese Aufgabe noch einmal zu bewältigen. Nun brach sie zum dritten und glücklicherweise letzten Mal auf, um ihr Schicksal zu meistern. Fast gänzlich mittellos zog sie nach Bad Tölz, einem Kurort im Süden Bayerns, wo sie das Einzige tat, was sie gut kannte: Sie mietete ein angemessenes Haus, stellte Personal auf Kredit an und gründete eine Reha-Klinik, ähnlich der, die sie zuvor geleitet hatte.
Meine Großmutter hielt ihr ganzes Leben hindurch zu meiner Mutter, sie war damit eine der Wenigen, die ihr halfen, diesen dritten Start ins Berufsleben zu meistern. Eine weitere Ausnahme war der Onkel meiner Mutter, Hans Jüttner. Er schien noch etwas Geld zu haben; meine Mutter hatte das erforderliche Fachwissen, und so wurden die beiden Geschäftspartner. Als sich Hans, der seine erste Frau durch eine Krebserkrankung verloren hatte, neu verheiratete, kam es zu Spannungen. Am Ende zahlte meine Mutter Hans aus und er zog mit seiner neuen Familie weg.
Es gab noch einen anderen Grund für das Zerwürfnis, auch wenn darüber kaum gesprochen wurde. Hans Jüttner war ein General der Waffen-SS gewesen, ein Umstand, der auf viele potenzielle Patienten und Krankenkassen hätte abschreckend wirken können. Sicher war es ein kluger Schachzug meiner Mutter gewesen, das damals noch kleine Unternehmen so vom Makel des Nationalsozialismus zu befreien; er rettete ihren Ruf und den der Klinik und machte sie zur alleinigen Besitzerin eines bald erfolgreichen Betriebs.
Wir Kinder waren natürlich neugierig, was Hans’ Vergangenheit anbelangte, nicht zuletzt weil jede Diskussion über das Dritte Reich so offensichtliches Unwohlsein in den Erwachsenen um uns herum auslöste. Aber wann auch immer wir danach fragten, sagte man uns im Brustton der Überzeugung, Hans sei ein einfacher Soldat gewesen, der keine Schuld auf sich geladen hatte. Diese Einschätzung erhielt deutlich mehr Gewicht, als Hans Jüttner im Rahmen des Prozesses gegen Adolf Eichmann eine eidesstattliche Erklärung für die Anklage – also gegen Eichmann – abgab.
Offensichtlich hatte Hans einmal einen Transport mit ungarischen Juden aufgelöst und Eichmann, der im Rang unter ihm stand, zu Rede gestellt wegen solch schändlicher Taten.
In meinen Erinnerungen ist »Onkel Huscha«, wie wir ihn nannten, ein älterer Herr mit Brille und einer sanften Stimme. Seine Unscheinbarkeit machte es so gut wie unmöglich, sich ihn als ehemaligen General und Nazi mit, wie wir heute wissen, ganz erheblichem Einfluss vorzustellen. Dieses Paradoxon war ich nie im Stande, völlig aufzulösen. Die prinzipielle Unvereinbarkeit dieser zwei Persönlichkeitsanteile – der nach außen hin freundliche, liebenswerte Onkel Huscha, in dessen Vergangenheit eine enge Verbundenheit mit dem Nazi-Regime lauerte – symbolisiert für mich den Kern des Rätsels um die Nazi-Ära. Wie war es möglich gewesen, dass sich Millionen von scheinbar anständigen, zivilisierten Menschen mit solcher Begeisterung dem Bösen in die Arme warfen? Ich habe mich oft gefragt, ob mein späteres Interesse an der Aufarbeitung der Medizingeschichte des Nationalsozialismus nicht dem Wunsch entsprang, dieses Rätsel im Nachhinein lösen zu wollen.
***
Es kostete meine Mutter mehrere Jahre unerschütterlicher Entschlossenheit, ihre Kinder zurückzubekommen. Zuerst kam meine Schwester Elga als älteste von uns dreien. Meine Mutter verlor dann angesichts der Verzögerungstaktiken meines Vaters die Geduld und entführte meinen Bruder Endrik kurzerhand. Sie wartete, bis er in ein Ferienlager in Norddeutschland geschickt wurde, fuhr heimlich hinterher und schnappte ihn einfach von der Straße weg, allen Protesten meines Vaters zum Trotz. Als ich acht Jahre alt war, durfte ich endlich folgen. Mein Großvater war zu der Meinung gekommen, ich gehöre zu meiner Mutter und drängte seinen Sohn, mich zu ihr und meinen Geschwistern zu schicken.
Nun endlich waren wir wieder vereint. Für mich war es die Erfüllung eines Traumes. Wir waren nur für ungefähr vier Jahre getrennt gewesen, aber für mich war das die Hälfte meines bisherigen Lebens gewesen und damit lang genug, um fast jede Erinnerung an sie zu verlieren. Ich hatte gebettelt und gefleht, mit ihnen leben zu dürfen, doch als wir uns dann endlich wiedersahen, erkannte ich sie nicht einmal.
In den Jahren der Trennung war ich so etwas wie ein Sonderling geworden, schüchtern, introvertiert und zutiefst unsicher. Es fiel mir nicht leicht, Freunde zu finden. Schon am ersten Schultag in Tölz wurde ich von meinen Klassenkameraden als etwas wunderlich erkannt und in der Folge verprügelt. Mein einziger Fehler war es gewesen, ihren breiten bayrischen Dialekt nicht zu teilen. Diese Bayern waren, das lernte ich rasch, nicht gerade der Inbegriff der Toleranz.
Wenn ich dann Freunde fand, waren es meist die falschen. Mit einem Jungen beispielsweise, experimentierte ich sogar in Pyromanie. Es begann ganz harmlos, mit kleinen Feuern im Wald, doch dann ging es mit uns durch und wir wurden erwischt, als wir im Begriff waren, unser Haus anzuzünden. Das war die Situation, in der meine Mutter wirklich einmal kurz davor war, mich zu ohrfeigen. Meinen armen Freund hatte die Pyromanie wesentlich stärker erwischt, als mich: Er schaffte es später, ein paar Häuser in der Stadt niederzubrennen und landete schließlich zur Behandlung in einer psychiatrischen Anstalt.
Das Schicksal wollte es, dass sein Vater mich in Mathematik unterrichtete. Obwohl es mein Lieblingsfach gewesen war, schaffte ich es in dieser Zeit irgendwie nie, gute Noten zu bekommen.
Als es für mich Zeit wurde, aufs Gymnasium zu gehen, schickte man mich in ein Internat. Ich hatte eine enge Bindung sowohl zu meiner Schwester als auch zu meinem Bruder entwickelt und beide waren bereits in Internaten untergebracht. Ich hatte gehofft, zu ihnen zu kommen, aber mein Hang zu rebellischem Verhalten und Unangepasstheit sorgte dafür, dass ich in ein anderes Internat kam, eines, das für seine Strenge und seine hohen akademischen Ansprüche bekannt war.
Ich fand es furchtbar, wieder mein Zuhause verlassen zu müssen, aber trotz meines Protests ließ man mir keine andere Wahl. Ich verabscheute jede Minute, die ich dort verbrachte; es kam mir so vor, als säße ich im Gefängnis – was möglicherweise auch die Absicht der Gründer war – und die Lehrer, mit ihrem unermüdlichen Streben, den Gehorsam der Schüler zu erzwingen und ihrem Beharren auf obskure und oft absurde Verhaltensregeln, erschienen mir wie die Wachen in einem Konzentrationslager.
Ich muss wohl den unerschütterlichen Willen meiner Mutter geerbt haben, denn schon bald war ich ebenso entschlossen, nach Hause zurückzukehren, wie sie es war, mich dort zu belassen. Als mein Bitten auf taube Ohren stieß, wurde mir klar, dass nur die aller dramatischsten Maßnahmen den gewünschten Effekt haben würden.
Zielstrebig arbeitete ich also an meinem Plan, und nach anderthalb Jahren brachte ich es fertig, dass man mich wegen ungebührlichen Verhaltens des Internats verwies. Ja, ich war ein seltsamer Junge, daran besteht kein Zweifel. Ich passte in keine Schublade und die Bemühungen meiner Erzieher, mich in ein starres Korsett zu zwingen, schienen das Bedürfnis, meinen eigenen Weg zu gehen, nur zu verdoppeln, egal wie viele Probleme es mir einbrachte.
***
Die Unternehmen meiner Eltern wurden zur Zeit des Wirtschaftswunders, in den frühen Sechzigern, recht erfolgreich. Die meisten Deutschen arbeiteten sehr hart, wir Kinder jedoch nicht. Keiner von uns tat sich in der Schule besonders hervor. Meine Schwester am allerwenigsten. Ihre Lösung, sowohl dem Druck der schulischen Laufbahn, als auch den Spannungen zu Hause zu entfliehen, war drastisch, aber wirkungsvoll: Sie wurde im Alter von achtzehn Jahren schwanger und heiratete. Mein Bruder mochte die Lehrer ebenso wenig wie ich und fand das Lernen öde und sinnlos, doch am Ende machte er sein Abitur und ging nach München, um Jura zu studieren.
Ich hingegen konnte mich nicht dazu überwinden, irgendetwas davon, was mir in der Schule so geboten wurde, ernst zu nehmen. Mit wenigen Ausnahmen waren die Lehrer für mich engstirnige und spießige Versager mit einer ungesunden Leidenschaft für die Autorität. Sie schienen ihre Erziehungsaufgabe vornehmlich darin zu sehen, zu maßregeln, was ihrer Meinung nach wohl am besten durch regelmäßiges und großzügiges Verteilen von Strafen zu erreichen war. Sie standen den fundamentalen Prinzipien der Erziehung gleichgültig gegenüber – den Wissensdurst zu schüren, uns die Wertschätzung von Kunst und Ästhetik zu lehren und uns zu kritischem, selbstständigem Denken zu ermutigen.
Tatsächlich betrachteten viele von ihnen solche Ideen als geradezu aufrührerisch – als ein Infragestellen ihrer Überlegenheit und einer Unterwanderung des ganzen Systems, das ihnen ihre Autorität gab. Mit einem solchen System stand ich von Beginn an auf Kriegsfuß.
Ich hatte große Probleme damit, Autorität anzuerkennen und je mehr ich begann, selbständig zu denken, desto stärker lehnte ich mich auf. Natürlich verhalten sich viele Jugendliche so, meine Auflehnung war jedoch mehr als nur ein Symptom der Pubertät, sie hatte sich schon weit vorher verfestigt und begleitete mich mein ganzes Leben hindurch.
Wie hätte es anders sein können? Ich hatte mich schon als Junge ein wenig dafür geschämt, als Deutscher geboren worden zu sein. Bei mehreren Gelegenheiten, beispielsweise wenn ich während meiner Reisen nach Übersee mit Nicht-Deutschen über unsere Nazi-Vergangenheit sprach, wurde diese Scham deutlich spürbar. Nicht alle meine deutschen Freunde konnten solche Gefühle nachvollziehen. Sie waren der Meinung, dass die Vergangenheit nichts mit uns zu tun habe, denn wir seien ja die Nachkriegsgeneration. Vielleicht hatten sie sogar Recht: nicht wir, sondern unsere Eltern waren es gewesen, die Rosenblätter vor Hitlers Wagenkolonne geworfen hatten. Und dennoch erschien es mir, als könne der Makel der Vergangenheit nicht durch bloßes Verstreichen der Zeit getilgt werden, und das Erscheinen einer neuen Generation nicht aus sich selbst heraus die Absolution erteilen. Es war unsere Pflicht und unsere Verantwortung, uns mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, Fragen zu stellen und Antworten zu finden. Als Nachkriegsdeutscher hielt ich die Taten der Generation meiner Eltern für unbegreiflich und unverzeihlich. Als Kinder sahen wir uns oft im Fernsehen Dokumentationen über den Krieg an. Als selbst aus den langen und beschämend unbefriedigenden Diskussionen mit der älteren Generation kein tieferes Verständnis erwuchs, fühlte ich mich vollkommen verloren; letztlich war ich heimatlos.
In der Schule erfuhren wir so gut wie nichts Relevantes über die Nazi-Zeit. Natürlich gab es den Geschichtsunterricht, dessen Gegenstand ein zeitlicher Ablauf der Ereignisse war – besonders den Krieg selbst betreffend – aber diese Details trafen eben nicht den Kern des Themas; im Gegenteil, ich empfand sie als eine Strategie, den wirklich wichtigen Problemen auszuweichen. Die eigentlichen Fragen war für mich andere. Wie konnte all das überhaupt passieren? Warum hatte kaum jemand Widerstand geleistet? Wie sollte ich die Gräueltaten dieser Zeit mit dem Gedanken an eine zivilisierte Gesellschaft in Einklang bringen? Die schändliche Vergangenheit, die fast alle meine Bezugspersonen auf die eine oder andere Art teilten, beraubte sie jeder Berechtigung, mich zu erziehen.
Ich denke, meine Mutter verstand intuitiv, warum ich so häufig und oft vehement gegen Bevormundung kämpfte. Sie ermutigte mich sogar in gewisser Weise zum Protest und schien stolz darauf zu sein, dass sich ihre Kinder nicht zu Konformisten entwickelten. Als »normal« zu gelten, hatte bei uns einen negativen Beigeschmack, normal zu sein bedeutete mittelmäßig, langweilig und durchschnittlich zu sein. Wir Kinder waren alle auf die eine oder andere Weise ungewöhnlich und wir waren entschlossen, auf gar keinen Fall die Fehler der vorangegangenen Generation zu wiederholen.
Meine Mutter war die sanfteste und liebevollste Frau, die man sich vorstellen kann, und es gab nur sehr selten Anlässe für Streit zwischen uns – zumindest, bis zu ihrer Hochzeit mit »Onkel« Klaus, wie wir ihn nennen sollten. Klaus war das gefühlskälteste Wesen in der Haut eines Menschen, das mir je begegnet war. Regelmäßig war er das Zentrum erbittertster und verzweifeltster Auseinandersetzungen. Er war diese Art Deutscher, die ich gerne gefragt hätte: Was hast du während des Krieges getrieben? Vielleicht war das nicht besonders fair, aber wir drei konnten ihn einfach nicht ausstehen. Und ganz sicher hatte er nicht das Recht, sich in mein Leben einzumischen. Nicht ein einziges Mal trug er etwas Positives dazu; im Gegenteil, er machte uns viel eher das Leben zur Hölle. Dieser Mann machte nie auch nur den geringsten Versuch, seine Stiefkinder zu verstehen. Er schien die oft fast spürbare Spannung, die zu Hause herrschte, regelrecht zu genießen.
Klaus liebte es darüber zu dozieren, wie nutzlos unsere Generation doch war. Alles, was wir seiner Meinung nach tun konnten, war zu kritisieren und von dem Geld derjenigen zu leben, die wir nicht einmal respektierten. Es kam ihm gar nicht in den Sinn, dass wir uns entwurzelt fühlten und Schwierigkeiten hatten, unseren Weg durch das unfassbare Chaos zu finden, das uns die vorangegangene Generation hinterlassen hatte. Er redete endlos und hatte es daher nicht besser verdient, als dass ich eines Abends während des Essens meinen Wut nicht länger für mich behalten konnte. Es platzte förmlich aus mir heraus: »Ist es nicht prima, dass wir nicht so wohl-organisiert und effektiv sind, wie ihr es wart? So werden wir wenigstens nie die logistische Meisterleistung vollbringen, sechs Millionen Juden zu vergasen.« Er wurde leichenblass. Noch bevor er etwas erwidern konnte, stand ich auf und verließ das Zimmer.
Kinder haben natürlich oft Probleme damit, nach einer Scheidung mit dem neuen Partner eines Elternteils zurechtzukommen, und es wäre ein Leichtes, meine Abneigung gegen Klaus schlicht auf Eifersucht und die Voreingenommenheit eines Sohnes zurückzuführen, der seine Mutter verehrt. Ich will nicht sagen, dass diese Faktoren keine Rolle spielten, aber die Intensität meines Abscheus ging doch weit darüber hinaus, besonders weil ich im Gegensatz zu Klaus, die neue Frau meines Vaters sehr wohl akzeptieren, ja sogar lieben konnte.
Mein Vater hatte wieder geheiratet, während ich noch bei ihm lebte, und natürlich wehrte ich mich in dieser Phase der Verletzlichkeit zunächst gegen jede Veränderung und Einflussnahme von außen. Aber meine Stiefmutter Ingeborg erwies sich als eine liebenswerte Person, also das genaue Gegenteil von Klaus. Sie brachte fast jedes Jahr ein Kind zur Welt, im Ganzen schenkte sie mir neun Halbgeschwister. Und nie machte sie auch nur den geringsten Unterschied zwischen mir und ihren eigenen Kindern.
Meine Halbgeschwister waren, gelinde gesagt, lebhaft und in der Folge erschien das Haus meines Vaters oft als eine Mischung aus Jugendherberge und Irrenhaus – geleitet jedoch von einer liebenden und liebenswürdigen Wirtin. Auch später noch besuchte ich sie regelmäßig in ihrem riesigen Haus. Und jedes Mal war ich aufs Neue von dem Chaos, das dort herrschte, überwältigt. Dieser Eindruck rief in mir eine seltsam zwiegespaltene Reaktion hervor. Auf der einen Seite war da ein tiefes Gefühl von Vertrautheit und Geborgenheit, auf der anderen war ich mir der gravierenden Unterschiede zwischen uns im Klaren.
***
Während ich in meiner Kindheit offen und aggressiv gegen Autorität angekämpft hatte, wurde dieser Charakterzug als ich ein junger Erwachsener war, zu der Fähigkeit, vorausahnen und geschickt vermeiden zu können, was andere mir aufzwingen wollten.
In der Mitte der Siebziger Jahre hatte meine Mutter ein schnell wachsendes Imperium von Reha-Kliniken aufgebaut. Vielleicht war es nicht wirklich ein Imperium, aber mir erschien es als solches, mit über fünfhundert stationären Patienten, die von etwa zweihundert Ärzten und nicht-ärztlichem Personal betreut wurden.
Ursprünglich hatte meine Mutter eine Ausbildung als Laborassistentin gemacht – und vor diesem Hintergrund in Schlesien meinen Vater kennengelernt – nun war sie als Nicht-Medizinerin Vorgesetzte von rund fünfundzwanzig Ärzten, Geschäftsführerin und Hauptverantwortliche für die Geschicke der Kliniken. Und für sie war es klar, dass ich eines Tages der medizinische Leiter des Unternehmens sein würde.
Ich jedoch hatte keine Eile, mir diese Ketten anlegen zu lassen und brav auf dem mir vorgezeichneten Weg voranzuschreiten. Mit zwölf Jahren hatte ich meine Liebe zur Musik, genauer gesagt zum Jazz entdeckt. In den Sechziger Jahren waren die meisten Teenager Beatles-Fans, mein Bruder und ich dagegen hörten mit wachsender Begeisterung Jelly Roll Morton und Bix Beiderbecke. Wir liebten Jazz, er war anders, machte Spaß und repräsentierte eine Musikrichtung, die nur wenige Jahrzehnte zuvor in Deutschland verboten gewesen war.
Mein Bruder und ich teilten alles – und eben auch unsere Leidenschaft für Jazz. Wir waren die besten Freunde. Er war es, der mich über die Geheimnisse des Lebens aufklärte – das bedeutete in diesem Alter im Wesentlichen über Sex und Alkohol. Ich bewunderte ihn und schaute zu ihm auf, doch gleichzeitig hatte ich immer das Gefühl, er sei in gewisser Weise verletzlich. Es schien mir, als würde er meine Unterstützung brauchen, meinen Rat und sogar meinen Schutz – ein Eindruck, der sich durch unser ganzes Leben hindurch fortsetzte.
Nachdem wir für einige Monate unser Glück am Banjo versucht hatten, wurde uns klar, dass eine Zweimann-Banjo-Band vielleicht nicht der schnellste Weg zu musikalischem Ruhm war. Wir losten, mein Bruder gewann und durfte das Banjo behalten, und ich verlegte mich auf die Klarinette. Später dann wechselte ich zum Schlagzeug. Zusammen mit ein paar Gleichgesinnten gründeten wir eine kleine Band. Wir waren vielleicht nicht die besten, aber sicher die Enthusiastischsten und verwendeten einen großen Teil unserer Freizeit darauf, unser Können zu perfektionieren.
Mit siebzehn Jahren flog ich nach Seattle, um dort zur Schule zu gehen. Ein amerikanischer Lehrer hatte dieses Auslandssemester im Pazifischen Nordwesten organisiert, nachdem er meine Schule in Bayern besucht hatte, um geeignete Kandidaten ausfindig zu machen. Ich meldete mich freiwillig, weil ich das Ganze für ein aufregendes Abenteuer hielt. Ich sehnte mich danach, der beengten Atmosphäre einer bayrischen Kleinstadt zu entkommen und war erpicht darauf, so viele Kilometer wie möglich zwischen mich und Klaus zu bringen. Am Morgen meiner Abreise bekam ich dann aber ziemlich kalte Füße – viel kältere als durch alle frühmorgendlichen Kneippkuren Jahre zuvor. Manche Dinge sehen aus sicherer Distanz viel verlockender aus – auf der anderen Seite des Globus bei wildfremden Menschen zu leben, erschien mir plötzlich doch verwegener, als ich gedacht hatte.
Dennoch sprang ich über meinen Schatten und flog nach Seattle, wo ich am Flughafen von einer Abordnung von Schülern der White River High School in Buckley, Washington, erwartet wurde. Sie waren äußerst freundlich und manche der Mädchen sogar sexy. Für mich war das ein nicht unerheblicher Punkt, denn ich war wild entschlossen, in den USA meine Unschuld zu verlieren. Aber zu einem großen Entsetzen brachten diese reizenden Menschen mich in ein kleines, ländliches Dorf, das etwa achtzig Kilometer von Seattle entfernt lag. Ich fühlte mich, wenn möglich, noch isolierter als in Bayern. Was um Himmels Willen sollte ich in diesem Kaff anfangen?
Zu Beginn hatte ich noch Spaß am Leben in einer amerikanischen Kleinstadt. Ich fand ein paar ungewöhnliche Freunde, hatte ein abenteuerliches Erlebnis, als wir verbotenerweise im White River Lache angelten, ging zu Schulbällen, trank Bier obwohl es nicht erlaubt war, fuhr ein Auto, was ebenfalls verboten war, probierte exotische Speisen und schrieb lange Briefe – die meisten an meinen Bruder, den ich schrecklich vermisste.
Aber genau wie ich es befürchtet hatte, wurde das Leben in Buckley schnell langweilig. Der Unterricht war so anspruchslos, dass ich – sogar im Fach Englisch – bald Klassenbester wurde. Zu meinem Erstaunen hatte ich Heimweh. Am meisten vermisste ich meine Mutter und meinen Bruder. Und obwohl ich der einzige männliche Klarinettist unter lauter Mädchen war, fand ich selbst die täglichen Bandproben bald öde. Im Heimatland des Jazz fühlte ich also das Bedürfnis, zu Hause in Bayern mit meinen Freunden zu jazzen. Als es Zeit wurde, dorthin zurückzukehren, war ich mehr als glücklich.
***
Als ich achtzehn Jahre alt war – es war das Jahr 1966 – entflohen mein Bruder und ich gemeinsam aus der Enge Bayerns und fuhren nach St. Tropez. Zu dieser Zeit studierte er Jura und ich ging noch zur Schule. Während der Sommerferien scharten wir eine kleine Gruppe unerschrockener Musiker um uns – mein Bruder am Banjo, zwei Mitglieder einer anderen Band aus der Umgebung an der Posaune und am Schlagzeug und ich an der Klarinette. Wir nannten uns »The Red Hot Bootleggers«, hauptsächlich, weil Jelly Roll Mortons Band in den Zwanziger Jahren »The Red Hot Peppers« geheißen hatte, aber auch weil wir zu diesem Zeitpunkt ein reges Interesse an der Schnapsbrennerei entwickelt hatten – bis meine Mutter es herausfand zumindest.
Wie Jelly Roll Morton, Bix Beiderbecke und so viele andere Jazzmusiker vor uns, gaben auch wir uns gelegentlich ausgiebig dem Alkoholgenuss hin. Jazz funktioniert auf diese Weise so viel besser, dachten wir uns. Wir gewannen einige Preise, ergatterten einen kleinen Radiovertrag und machten sogar eine Schallplatte. Und es machte einfach richtig Spaß! Es störte uns nicht, dass traditioneller Jazz nicht jedermanns Sache war, und dass die Mädchen eher den Jungs mit einer Gitarre hinterherliefen, nicht einmal, dass die meisten Bayern keine Ahnung hatten, wer Jelly Roll oder Bix überhaupt waren. Ich liebte es, Musik zu machen und hatte nicht die geringste Lust, das Metier zu wechseln.
Für ungefähr vier Wochen in diesem Sommer schliefen wir am Strand von St. Tropez. Und sobald in den Nachmittagsstunden die Hitze des Tages nachließ, begaben wir uns an den pittoresken Hafen von St. Tropez. Bald hatten wir einen Fünften im Bunde; dessen einzige, aber essenzielle Aufgabe darin bestand, bei den Leuten, die in den Cafés und auf den Terrassen saßen, Geld zu sammeln. Obwohl uns die für Jazz eigentlich unabdingbare Trompete und der Bass fehlte, waren wir ziemlich erfolgreich, wenn auch vielleicht nicht musikalisch, so doch ganz sicher finanziell.
Nach zwei bis drei Stunden Straßenmusik zählten wir unser Geld – ein kleines Vermögen, so kam es uns vor – und setzten das meiste davon in Bier und gutes Essen um. Später waren wir oft eingeladen, auf einer Yacht oder in einem schicken Hotel zu spielen. Und um Mitternacht begannen wir unseren eigentlichen Job – als Band in einem Strip Club. Der dauerte meist bis drei Uhr morgens und wäre eigentlich eher langweilig gewesen, wenn wir uns nicht mit einem der Mädchen angefreundet hätten, das regelmäßig eine Sondervorstellung nur für uns gab – ein wahrer Traum für einen Teenager! Nach einem Tag voller harter Arbeit hatten wir dann wieder Hunger und begaben uns zu einer kleinen Frittenbude, dem einzigen Laden, der um die Zeit noch offen hatte. Die junge Dame am Tresen sah Brigitte Bardot zum Verwechseln ähnlich, so dachten wir zumindest, denn als wir sie dann einmal trafen als wir noch nüchtern waren, wollte sich dieser Eindruck nicht mehr so recht einstellen.
Wir waren der festen Überzeugung, dass unser Aufenthalt in St. Tropez ein solcher Erfolg gewesen war und waren wild entschlossen, ihn im darauffolgenden Sommer zu wiederholen. Diesmal waren wir zu sechst und klangen dementsprechend beeindruckender, doch merkwürdigerweise war unsere Begeisterung nicht mehr dieselbe. Auf der Hinreise machten in Norditalien Halt, zwecks Band- und ausgiebiger Weinproben. Vielleicht waren Letztere rückblickend auch ein wenig zu ausgiebig. Die beiden neuen Bandmitglieder beschlossen, sich gegenseitig die Schädel zu rasieren, stellten dann fest, dass sie weder einander, noch den neuen Haarschnitt mochten und jagten sich schließlich – wilde Morddrohungen ausstoßend – über einen Parkplatz. Es gibt Situationen im Leben, die so absurd sind, dass jeder Versuch sie zu verstehen von vornherein zum Scheitern verurteilt ist.
Die Entschlossenheit, mit der mein Bruder und ich zu dieser Zeit Musik machten, musste meine Mutter wohl beunruhigt haben. Denn ich sollte ja eigentlich Arzt werden und ins Familienunternehmen einsteigen und nicht in irgendwelchen dubiosen Clubs für wenig Geld Jazz spielen. Endrik versuchte nebenbei immer noch, das Jurastudium zu meistern, aber ich wollte am liebsten nur noch Musik machen. Meine Mutter kannte mich natürlich gut und wusste, dass jeder Zwang das Gegenteil der gewünschten Wirkung gehabt hätte. Also gab sie mir zu verstehen, dass sie meine musikalischen Ambitionen vollkommen akzeptiert wurden. »Aber warum nicht beides tun?«, schlug sie vor. »Du könntest das Konservatorium besuchen und zugleich Medizin studieren. Auf diese Weise hättest du, für den Fall, dass dir die Musik irgendwann zum Hals raushängt, einen ordentlichen Beruf in der Hinterhand.«
Der Vorschlag war gut, aber es galt, einige Hindernisse zu beseitigen. Schon bald nachdem ich nach dem Abitur nach München gezogen war, hatte ich mich am Konservatorium für das Fach Schlagzeug eingeschrieben, da dieses Instrument inzwischen zu meinen Lieblingsinstrument geworden war. Eine berufliche Karriere als Mediziner zu beginnen, erwies sich dagegen als wesentlich schwieriger. Zu dieser Zeit war es alles andere als leicht, einen Studienplatz in Medizin zu ergattern. Aus ganz Deutschland wurden nur die besten Schulabgänger angenommen, diejenigen, die immer in der ersten Reihe gesessen, mit großem Elan gelernt hatten und die die Lieblinge der Lehrer gewesen waren. Zu dieser Elite gehörte ich ganz sicher nicht. Da ich nie in der Lage gewesen war, die Lehrer, den Unterrichtsstoff und das ganze Schulsystem ernst zu nehmen, waren meine Noten immer alles andere als überragend gewesen. Und das bedeutete, dass ich mich in die lange Schlange von frustrierten Möchtegern-Medizinern einreihen musste, die auf einen Studienplatz warteten.
Meine Mutter empfand diesen Umstand als vollkommen inakzeptabel. Ihr Stolz hatte sie immer glauben lassen, ihre Kinder seien zu außergewöhnlich und begabt für so profane Dinge wie Wartelisten; für sie waren wir geboren für die Überholspur. Doch sie ließ sich durch die Hemmnisse der Realität nicht entmutigen und erdachte einen genialen Plan. Wenn es ihr nur gelingen könnte, einen Leumund zu finden, der bezeugen würde, dass es – vielleicht abgesehen von Albert Schweitzer – niemanden gäbe, der so dafür prädestiniert wäre, Arzt zu werden, dann könne die Universität gar nicht anders, als eine Ausnahme zu machen und mir im Handumdrehen sämtliche Türen zu öffnen.
Und so schickte mich meine Mutter zu einem Psychologen, dessen Spezialgebiet es war, jungen und unentschlossenen Menschen wie mir den ihrem Talent optimal angepassten Weg zu weisen. Zwei Tage lang ließ er mich Fragebögen ausfüllen, merkwürdige Tests absolvieren und bohrende Fragen beantworten. Danach maß er den Papierstapel vor ihm mit ernstem Blick und versprach, die gesammelten Daten zu evaluieren und meiner Mutter sowohl Rechnung als auch Bericht zukommen zu lassen. Wir warteten mit zunehmender Ungeduld. Und dann, endlich, kamen die mit Spannung erwarteten Unterlagen. Der Psychologe war zu dem unumstößlichen Urteil gelangt, ich sei geboren, um Kranführer zu werden. Meine Mutter war nach der Lektüre dieses Berichts außer sich vor Wut. Ich bin nicht einmal sicher, ob der arme Psychologe jemals sein Geld erhielt.
Psychologen waren für meine Mutter fortan das Allerletzte. Ich jedoch, war fasziniert. Ich war ziemlich unkoordiniert, hatte zwei linke Hände und noch dazu ein wenig Höhenangst, wie jeder der mich kannte, auch hätte bezeugen können. Und dennoch hatte mich dieser Mann zwei ganze Tage lang untersucht und war dann zu dem Schluss gelangt, meine Bestimmung sei es, von einem hohen Kran aus schwere Lasten zu bewegen und die am Boden Arbeitenden einem nicht unerheblichen Risiko auszusetzen. Es wäre kaum möglich gewesen, weiter daneben zu liegen, dachte ich mir und verspürte den Wunsch, mehr über dieses verwirrende Fachgebiet zu erfahren. Ich zog die Konsequenz und schrieb mich an der Universität in München für das Fach Psychologie ein.