Von Andreas Steinhöfel sind im Carlsen Verlag erschienen:
Die Mitte der Welt
Beschützer der Diebe
David Tage Mona Nächte
Der mechanische Prinz
Defender
Paul Vier und die Schröders
Dirk und ich
Es ist ein Elch entsprungen
Froschmaul Geschichten
Trügerische Stille
O Patria Mia!
Rico, Oskar und die Tieferschatten
Rico, Oskar und das Herzgebreche


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Veröffentlicht im Carlsen Verlag
Oktober 2004
Copyright © 2001, 2004 Carlsen Verlag GmbH, Hamburg
Umschlagbild: Nina Rothfos
Umschlaggestaltung: Doris K. Künster / Britta Lembke
Corporate Design Taschenbuch: Dörte Dosse
E-Book-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde
ISBN 3-978-3-646-92041-3

Alle Bücher im Internet unter
www.carlsen.de

  

SANDMANN   7

HERBSTASTERN   12

WINTERLANDSCHAFT   39

DANIEL ZU LIEBEN   56

DIE KATZE   72

INTERVIEW   101

MERLE   129

DEFENDER   149

  

SANDMANN

Du glaubst nicht an Träume, oder?
Hey, Defender, glaubst du an Träume?

 

Mann, was für eine Frage. Natürlich glaube ich an Träume. Aber wer gibt so etwas schon gerne zu? Hosianna, ganz der Vernunft verpflichteter Professor, würde sich an den Kopf fassen, wenn ich ihm damit käme. Oder sogar noch einen Schritt weiter ginge: Wenn ich behauptete, dass ich vom Sandmann nicht nur geträumt habe, sondern dass er existiert.

Als ich fünf Jahre alt war, sah ich ihn zum ersten Mal. Er stand am Fußende meines Bettes, ein Schatten im Schatten, vielleicht stand er dort schon seit Stunden. Er wäre als Spielzeug zwischen anderen Spielzeugen durchgegangen, hätte ich welche besessen.

Ich war aus einem wirklich fiesen Traum erwacht. In diesem Traum hatte ich mich an Bord eines Schiffes befunden, das unter düsterem Himmel über ein endloses, schäumendes Meer trieb. Ein Sturm tobte. Eine haushohe Woge hatte meine Mutter und deren ständige Vertretung, Mimi Kaminski, über Bord gefegt.

Ich war allein.

Aus den Fluten stiegen Ungeheuer. Sie hakten sich an der Schiffswand hinauf, sie schlitterten über das Deck auf mich zu. Spitze Zähne glimmten, irgendwo mussten Sterne leuchten oder ein verschwommener Mond.

Ich schrie und riss die Augen auf.

Und sah den Sandmann.

Groß war er nicht. Kann ich nicht behaupten. Er stand leicht gekrümmt, wie unter einer schweren Last. Sein Gesicht war zerfurcht, Falten und Runzeln, vielleicht waren es auch Narben. Nase und Mund waren kaum zu erkennen, und Augen so winzig, die lagen so tief, dass ich mir eine Farbe für sie ausdenken musste.

Ich entschied mich für Meerwasserblau.

Verschrumpelte Hände hatte er, der Sandmann, die waren auch nicht hübsch. Und an jeder Hand befanden sich, das schwöre ich, sechs Finger.

Sechs Finger.

Er winkte mir zu.

Ich wusste, was er von mir wollte. Und weil ich ihm vertraute, schloss ich trotz meiner Angst die Augen, sank zurück in den Traum, war im nächsten Moment wieder auf dem Schiff.

Der Sturm tobte noch immer. Und die verdammten Ungeheuer waren nicht etwa verschwunden, o nein. Wenn überhaupt, waren es noch mehr geworden. Von ihren Zähnen tropfte zäher Schleim. Wo er zu Boden fiel, ätzte er Löcher in die Planken. Ich war fünf Jahre alt. Ich machte mir in die Hosen vor Angst.

Aber neben mir stand der Sandmann. Er schrie: Da habt ihr, und da, und da …! Mit jedem Schrei schleuderte er feinen Sand auf die Ungeheuer. Da war nichts, worin er den Sand transportierte. Er trug keinen Beutel, er hatte keine Manteltaschen. Der Sand war einfach vorhanden. Er griff ihn sich aus der Luft.

Da, und da, und da …!

Und aus der Nacht wurde Tag. Die Ungeheuer zerflossen, lösten sich auf. Wurden zu Sonnenlicht und Meerwasser und Regenbogenfarben. Pure Magie, würde ich sagen.

Ich öffnete die Augen und sah mein Zimmer, schloss die Augen und schlief weiter, tief und fest. Als ich am Morgen erwachte, war der Sandmann verschwunden. Logisch. Aber meine Mutter war da, und am selben Vormittag, als ich in Mimi Kaminskis Laden auflief, stellte ich beruhigt fest, dass es meine dicke Ersatzmutter auch noch gab. Jedes einzelne ihrer mindestens einhundert Kilo.

Abends fand ich vor dem Fußende meines Bettes ein paar winzige Sandkörnchen. Mit fünf Jahren wundert dich so etwas kein bisschen. Mit fünf Jahren erwartest du förmlich so einen übernatürlichen Scheiß. Ich hob die Sandkörnchen auf und schnupperte daran. Sie rochen nach Zimt und Orangen.

Und das war alles.

Oder beinahe alles.

Denn ich sah den Sandmann noch einmal wieder, viele Jahre später.

Ich träumte. In diesem Traum befand ich mich … überall. Es war verrückt. Da war eine Winterlandschaft und darin ein blasshäutiges Mädchen, wie in Eis gegossen, mit einer Axt in den Händen, und es verwandelte sich und wurde zu einem anderen Mädchen, rote Haare und ein wilder Blick, der mir ganz und gar nicht gefiel, genauso wenig wie die Axt, die jetzt in ihren Händen lag. Und dann war da ein Junge, der stand in einem Garten, hinter einem grauen Vorhang aus Regen, vor einer Art Fischteich oder so was – ich sah die Tropfen aufplatschen und hochfliegen und wieder aufplatschen. Und aus dem Teich wurde ein gewaltiger See, Schiffe darauf und so weiter, und dieser Junge wurde kleiner, jünger, verletzlicher. Ein Kind.

Szenenwechsel, zwei Typen jetzt in einem Auto auf schwarzer Straße, Scheinwerfer stachen in ein dichtes Schneegestöber. Irgendwas stimmte mit den beiden nicht, stimmte ganz und gar nicht. Aber da verwandelten sich Fahrer und Beifahrer auch schon in zwei andere Jungen, und nun wurde die Sache vollends absurd, denn diese beiden neuen Jungen standen vor der Chinesischen Mauer und die endete, was weiß ich, irgendwo in der Wüste, jedenfalls nicht da, wo sie hingehörte, denn plötzlich erhoben sich Pyramiden aus orangerotem Wüstensand und davor stand ein blondes Mädchen mit blutenden Füßen, und es lag ein Rhythmus über all diesen Bildern wie Trommelklang, als klatschten, außerhalb der Szenerie, ein Haufen Leute anfeuernd in die Hände.

Ich weiß nicht, warum ich schrie.

Aber ich erwachte.

Und ich sah meinen alten Freund, den Sandmann.

Er stand am Fußende meines Bettes. Die vielen Jahre hatten ihn nicht verändert. Gekrümmt stand er, das Gesicht so runzlig, wie ich es in Erinnerung hatte … und dieser meerwasserblaue Blick. Langsam, als bereitete es ihm große Mühe, hob er eine Hand und winkte mir zu. Und ich folgte ihm, wie ich ihm schon einmal gefolgt war vor langer Zeit.

Sonne. Wasser. Ein Strand. Gemeinsam gingen wir am Rand des unendlichen Meeres spazieren, der Sandmann und ich. Wellenschwappen, der Himmel so blau, ein leuchtender Tag. Dieser gedrungene Mann an meiner Seite zeigte auf den Boden zu unseren Füßen. Ob ihr es wisst oder nicht, früher oder später kommt jeder von euch hierher, sagte er. Ihr lauft über diesen Sand, mit dem ich seit Jahrhunderten eure Ungeheuer verjage. Eine Hand voll für jedes der Biester, mehr brauche ich nicht. Er sammelt sich hier, dieser Sand. Wie beiläufig fügte er hinzu: Du weißt, dass die anderen dich auch gesehen haben?

Er verabschiedete sich von mir. Ich sah ihm nach. Seine Füße hinterließen keine Abdrücke im Sand.

Es war seltsam.

Pure Magie.

Ich weiß nicht, warum, aber ich wünschte, ich könnte mich an seine Stimme erinnern.

Na ja, wie auch immer: Der Sandmann existiert. Mag sein, ihr werdet ihn nie zu Gesicht bekommen. Oder ihr denkt, ihr seid zu alt für solchen Kinderkram. Doch lasst euch nicht täuschen. Der Sandmann existiert. Legt euch hin, schließt die Augen, schlaft ein. Lauscht euren Ängsten. Dann ist er da. Er steht vor eurem Bett, und dort wacht er. Wacht und wartet, wartet und wacht, voller Geduld, Stunde um Stunde, Traum um Traum. Die ganze Nacht über hält er die Hände zu Fäusten geballt, und zwischen den sechs Fingern jeder Hand rieselt Sand zu Boden.

Feiner Sand.

Manchmal kann man ihn sehen und fühlen, diesen Sand.

Manchmal ist da nicht mehr als ein entfernter Duft von Zimt und Orangen.

Und manchmal hat man weniger Angst.