Herstellung und Verlag:
BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt
Copyright: 2017 Karl Heinz Landenberger
ISBN 978-3-7460-8623-1
Es ist eine Stadt, in der Geschichte gegenwärtig ist, wie in keiner anderen.
Gleich am ersten Tag meines Aufenthalts ging ich im Hydepark spazieren. Ich begann meinen Spaziergang am Lancaster Gate. Dort in der Nähe hatte ich mir eine Wohnung gemietet. Die Londoner Parks sind ein Highlight. Das satte Grün des Rasens – wegen des feuchten Klimas – das kenne ich so nur von der Voralpenlandschaft. Im Park wimmelte es von Joggern und sportlichen Läuferinnen, fast alle mit nackten Beinen obwohl es schon Spätherbst war, aber bei sehr milden Temperaturen.
Die Londoner sind Hundeliebhaber: Bis zu sechs Hunden führen sie aus, an jeder Hand drei. Doch kein einziges Häufchen war zu finden. So diszipliniert sind Engländer. Ganz im Gegensatz zu den Franzosen, im südlichen Frankreich an der Côte d`azur, wo man in den renommiertesten Ferienorten von einem Häufchen in das andere tritt.
Das Laub hing noch an den Bäumen, viele Sträucher blühten und wilde Alpenveilchen wuchsen an ihren Rändern. Vorbei an den herrlichen italienischen Anlagen und reizvoll angelegten Seen landete ich schließlich an Speaker´s Corner. Ich hätte Fotograf sein wollen, um all diese Schönheiten aufzunehmen und als „Impressionen aus London“ zu veröffentlichen. Alles, was ich im Fernsehen bisher gesehen habe, schien mir nicht an die Großartigkeit ranzukommen, die ich hier – in natura – erlebte.
Speaker´s Corner
Er fiel mir sofort auf. Er stand bei einer kleinen Gruppe von Personen, die einem am ganzen Körper Tätowierten zuhörten und zuschauten, wie er sich allmählich auszog, um alle Tattoos zu zeigen und zu erklären, wobei er immer wieder schrie: “ I´m a human being“ obwohl das niemand in Frage stellte.
Auch ich muss die Aufmerksamkeit dieses mir auffallenden Zuhörers erregt haben, denn er kam auf mich zu und sprach mich direkt an. Nicht mit „Where are you from“ oder mit „What´s your name“, sondern er wollte wissen, wie ich die Darbietung des Redenden beurteilte. Nun ehrlich gesagt, ich bin kein Freund von Tattoos. Ich kann nicht verstehen, wie jemand seinen Körper so verunstalten kann. Zu den Ausführungen selbst konnte ich nicht viel sagen. Der Tätowierte sprach von den vier Freiheiten, die der Mensch nach Meinung des amerikanischen Präsidenten Franklin Delano Roosevelt haben sollte, und für die der amerikanische Soldat in den 2. Weltkrieg zog.
Bohemians of Bigger London
Der mir noch Unbekannte, der mich angesprochen hatte, kannte sich besser aus als ich, und er konnte mir sagen, dass die Tattoos nach der Vorlage des amerikanischen Malers Norman Rockwell in die Haut geätzt wurden. Er erzählte mir auch, dass der Tätowierte seit Jahren immer wieder diese Show abziehe, und dass er ihn persönlich kenne. Beide gehörten zu einer lose zusammengeschlossenen Gruppe von „Bohemians of Bigger London“, die gelegentlich auch zusammenarbeiten und Auftritte und Events in Kaffees und Kneipen veranstalteten.
Die Rolle meines neuen Bekannten bestand dabei vor allem darin, dass er Geschichten erzählte, Anekdoten, Witze und besonders auch schräge Geschichten. Er war sehr sprachbegabt, polyglott, und konnte in fast allen Sprachen erzählen. Deshalb war sein Spitzname „Tusitala – Tausend – Geschichten – Erzähler“. Ein Name, den Samoaner dem Autor der Schatzinsel einst gegeben haben, der auf Samoa seinen Lebensabend verbrachte.
Hyde-Park
Im Gespräch pilgerten wir am Serpentine-See entlang, gelangten zum Albert Memorial und weiter zu dem herrlichen Kensington Palace, wo einst Queen Victoria residierte, die einem ganzen Zeitalter ihren Namen gegeben hat, und wir kamen vorbei am Princess Diana Memorial. Wir sahen uns auch das fantasievolle Peter – Pan – Denkmal an und landeten schließlich wieder an meinem Ausgangspunkt, dem Lancaster Gate. Wir waren so ins Gespräch vertieft, dass wir weitergingen und uns schließlich wieder am Speaker´s Corner befanden.
Freedom from fear
Unser Gespräch drehte sich um die vier Freiheiten. Freedom of speech, freedom of worship, freedom from want, und die vierte Freiheit, freedom from fear. Diese vierte Freiheit war ein Versprechen des amerikanischen Präsidenten an die Menschheit, eine Welt ohne Furcht zu schaffen, sobald der Friede nach dem zweiten Weltkrieg wiederhergestellt sein würde. Diese Pax Americana hat er der Welt verheißen zu einem Zeitpunkt, als die USA noch gar nicht in den Krieg eingetreten war. Es war ein Versprechen, dass es nie wieder Krieg geben würde, ewiger Frieden sollte herrschen, sowie Hitler beseitigt wäre, ein Weltfriede unter amerikanischer Führung. Dazu musste die USA aber erst einmal in den Krieg eintreten.
Kriegsantritt
Churchill konnte diesen Zeitpunkt kaum erwarten, weil England nach der Niederlage bei Dünkirchen und der Kapitulation Frankreichs den Krieg ohne amerikanische Hilfe nicht mehr fortführen konnte. Das amerikanische Volk aber hatte gar keine Lust wieder in einen Weltkrieg hineingezogen zu werden, wie im ersten Weltkrieg. Churchill allerdings war klar, England kann einen europäischen Krieg nicht gewinnen, sondern nur einen Weltkrieg an der Seite der Vereinigten Staaten. Roosevelt hatte ihm 1932 schon versprochen, wir werden Deutschland vernichten und zwar diesmal endgültig.
Norman Rockwell
Der amerikanische Maler hat zur Veranschaulichung dieser vierten Freiheit ein rätselhaftes Bild gemalt. Der Tätowierte trug es auf der Brust, sozusagen an der auffälligsten Stelle. Ein kleiner Junge und sein Schwesterchen liegen krank nebeneinander im Bettchen. Der Vater und die Mutter stehen daneben und sorgen sich um die schlafenden Kinder.
Deutung
Die sorgenden Eltern sind die beiden Weltmächte Uncle Sam und Britannia. Aber so wie die Kinder volles Vertrauen haben können, so braucht auch die globale Gesellschaft keine Angst vor diesen beiden Weltmächten. Sie werden alle Völker beschützen, protegieren. Dazu müssen diese allerdings erst entwaffnet werden, damit sie sich nicht gegenseitig bekriegen können. Eine waffenlose Welt könnte keine Kriege mehr beginnen und das Heil und Wohlergehen würde ausschließlich von den USA und dem UK gewährleistet. Die Entwaffnung würde zuerst Deutschland betreffen „Nie mehr wird ein Deutscher eine Waffe in der Hand halten“. Und dann müsste auch Japan bedingungslos kapitulieren und auf jede militärische Bewaffnung verzichten.
Schrittweise müssen dann auch alle anderen Mächte demilitarisiert werden.
UN – Charta
Dieser Gedanke ist auch in der UN – Charta ausgedrückt, die 1941 von Churchill und Roosevelt konzipiert wurde. Unter größter Geheimhaltung trafen sich Churchill und Roosevelt auf dem britischen Schlachtschiff HMS Prince of Wales in der Placenta Bay vor Neufundland vom 09.-12. August 1941. Kurz davor hatte Hitler die Sowjetunion überfallen, und die beiden Politiker gingen davon aus, Hitler würde siegen, und dann könnten sie die geschwächte deutsche Armee mit Leichtigkeit vernichten, zumal die gewaltigste Rüstung, die ein Staat je aufgebaut hat, von Roosevelt 1932 begonnen nach der „Regel von 10 Jahren“ im Jahr 1942 einsatzbereit wäre.
Der Abschnitt 8 besagt: Wir sind von der Notwendigkeit überzeugt, dass aus praktischen wie aus sittlichen Gründen alle Völker der Welt auf den Gebrauch von Waffengewalt verzichten müssen. Da kein Friede in Zukunft aufrechterhalten werden kann, solange Angriffswaffen zu Angriffszwecken benutzt werden können, halten wir für die Schaffung eines dauerhaften Systems allgemeiner Sicherheit die Entwaffnung aller Nationen für notwendig. Wir unterstützen damit alle Maßnahmen, die erdrückende Rüstungslast der friedliebenden Völker zu erleichtern.
Unpolitisch
Ich konnte Houston nur zuhören. Er erzählte mir so viel Neues. Ich selbst war völlig unpolitisch erzogen worden, wie meine ganze Generation. Ich wusste nur, dass es nie wieder Krieg geben würde nachdem Hitler besiegt war. Davon war ich überzeugt. Es war unvorstellbar, dass es ein zweites Mal einen so Wahnsinnigen geben könnte, der die Welt in einen solchen Vernichtungskrieg stürzen könnte, wie Hitler das getan hat. Hitler war ein absolut einmaliger Fall, das war einleuchtend. Alle meine Klassenkameraden dachten so wie ich, und auch meine Lehrer sagten das.
Dass die Amerikaner uns nun selbstlos beschützen und die ganze Last der Rüstung auf sich nehmen wollten, das fand ich sehr selbstlos. Ich teilte diese Gedanken meinem neuen Freund mit. Der war allerdings nicht ganz meiner Meinung. Ich heute auch nicht mehr. „Nie wieder Krieg“, das war ein leeres Versprechen der Siegermächte. Sie kaschierten dabei nur ihren Anspruch auf alleinige Weltherrschaft.
Traum und Realität
Zudem verlief der Krieg völlig anders als Churchill und Roosevelt ihn sich vorgestellt hatten. Der Bolschewismus wurde nicht zerschlagen, sondern Stalin ging gestärkt, ja als Sieger aus diesem Krieg hervor. Er ist in Berlin einmarschiert, nicht die Amerikaner oder Engländer. Er besetzte das Zentrum der Hauptstadt und überließ ihnen freiwillig nur ein paar Sektoren im Westen der Stadt.
Im Pazifik besiegte Tschiang Kai check die Japaner nicht, sondern die USA mussten selbst eingreifen, um die Japaner zu besiegen. Der Generalissimus verlor sogar das chinesische Festland, das der neue Verbündete Stalins, Mao tse tung in einem „langen Marsch“ eroberte. Also auch im Osten setzte sich der Bolschewismus durch. Nationalchina blieb am Ende nur die kleine Insel Taiwan, das frühere Formosa übrig.
Zwei neue Weltmächte gingen aus dem Krieg hervor. US und UK mussten die Weltherrschaft mit diesen teilen. Sie mussten beiden das gleiche Vetorecht in der UN einräumen. Nicht mehr nur zwei, sondern vier hatten das Sagen. Das bedeutet, der Krieg um die Vorherrschaft ging weiter, von wegen ewiger Frieden.
Einziges Resultat des Krieges war die totale Zerstörung Deutschlands und Japans.
Operation Unthinkable
Churchill erkannte „Ich habe das falsche Schwein geschlachtet“, er wollte den Krieg schon einen Tag nach dem Friedenschluss im Mai 1945 fortsetzen. Er ließ die Waffen der mehr als 5 Millionen. deutschen gefangenen Soldaten einsammeln. Sie sollten diesen wieder ausgehändigt werden, damit sie zusammen mit Amerikanern und Engländern den Krieg gegen die Russen fortsetzen. Die amerikanischen Generäle machten aber einfach nicht mit. Die Landung in der Normandie und die Kämpfe im Westen waren trotz der enormen Materialüberlegenheit schwerer und verlustreicher als angenommen. Der Krieg konnte so ganz ohne Pause nicht fortgeführt werden. Es kam lediglich zum kalten Krieg. Anders im fernen Osten.
Ein Krieg nach dem andern
Wo der Krieg im pazifischen Raum begonnen hatte, in Korea, wo die USA Tschiang Kai check 1936 mit Geld- und Rüstungsgüter zum Kampf gegen Japan ausgestattet hatten, dort ging der Krieg sofort weiter. Als die USA diese reiche Kolonien besetzen wollten, nachdem die Japaner vertrieben waren, widersetzten sich die Koreaner. 3 Millionen Tote, alles Koreaner, kosteten die militärischen Unternehmungen der Amerikaner das koreanische Volk. Bis heute ist der Norden Koreas noch nicht erobert. Es gibt dort nur einen Waffenstillstand, der jederzeit gebrochen werden kann. Momentan sieht es besonders brenzlig aus.
Danach kam Vietnam, das der Kolonialmacht Frankreichs nicht gestatten wollten, wieder die Herrschaft zu übernehmen. Die USA wollte das nutzen, um selbst ihre Herrschaft dort aufzurichten. Aber trotz extremer Grausamkeiten, etwa dem Abwurf von Napalm-Bomben, hat es nicht zu einem Sieg für USA gereicht.
Die Intervention im Iran, der Krieg gegen Sadam Hussein im Irak, Serbien, Gadafi in Libyen, die Bewaffnung Oppositioneller in Syrien, damit es dort zum Bürgerkrieg kommt, und in mehr als 1.200 militärische Interventionen sind die USA verwickelt. Das war das Ergebnis vom Versprechen einer Welt ohne Furcht und von der Verwirklichung des Traums vom ewigen Frieden.
Man könnte mit Brecht sagen „Der Traum vom Frieden ist nun kein Traum mehr, sondern raue Wirklichkeit“.
Erinnerung
Wir wurden durch diese Gespräche erstaunlich rasch vertraut miteinander. Ich erfuhr auch viel aus seiner Familie, über seine Kindheit und Jugend. Dass er früh gegen den Willen der Eltern und gegen die Tradition der Familie einen Weg einschlug, nicht mit Studium in Oxford und anschließender Karriereleiter, sondern zunächst als Vagabund und als Globetrotter und danach als freischaffender Schriftsteller. Als Jugendlicher kampierte er gern mit Freunden an der französischen Mittelmeerküste. Erinnerungen kamen bei uns beiden hoch.
So erinnerten wir uns, dass wir wenige Jahre nach dem 2. Weltkrieg uns schon einmal begegnet waren am Strand vor dem Negresco in Nizza.
Damals war der Strand noch voller pebbels, grober Kies. Erst später wurde Sand hergekarrt. Heute gehören alle Hotels und Restaurants reichen Ölscheichs. Er war mit seinen Freunden zusammen, der schönen Cynthia, Douglas und Charles. Sein Vorname war Houston. Ich wurde damals als Henry in dieses vierblättrige Kleeblatt aufgenommen. Ich war 16 Jahre alt, 2 Jahre jünger als meine neuen Freunde, und überlegte mir ernsthaft, ob ich nicht aus meinem bürgerlichen Zuhause ausbüxen sollte, um mit diesen vier Londonern um die Welt zu vagabundieren.
Bildungsbürgertum
Meine Eltern besuchten bildungsbeflissen, das Haus des berühmten Impressionisten Auguste Renoir und den Grimaldi Palast in Antibes, wo Picasso sein berühmtes Bild „La Joie de vivre“ gemalt hat, und all die anderen Orte, wo so viele berühmte Maler gearbeitet hatten. Sie wollten auch nicht eines der berühmten Museen und Ateliers großer Maler auslassen. Südfrankreich war besonders nach 1945 ein Paradies vieler Maler, aber schon lange vorher lebten van Gogh und Gauguin in Arles in der Provence.
Straßenkünstler
Meine vier Freunde interessierten sich nicht für Werke die andere geschaffen hatten. Sie waren selbst Künstler. Charles entwarf wunderbare Pflasterbilder auf dem Bürgersteig. Meist Karikaturen von noch lebenden politischen Größen. General de Gaulle mit gewaltiger Nase, oder Churchill, den Little Fat Man mit Zigarre. Anerkennend warfen die auf der Uferpromenade Flanierenden Geldstücke in die danebenliegende Mütze.
Cynthia konnte mit wenigen Strichen erstaunlich gut porträtieren. Sie stellte ihre kleine wacklige Staffelei auf und kaum einer der Vorbeigehenden konnte widerstehen, die Zeichnung zu kaufen, weil er sein Konterfei echt getroffen fand.
Douglas hatte eine sehr schöne Stimme und spielte ausgezeichnet Gitarre. Er setzte sich auf die Kaimauer und intonierte die neuesten Schlager. Er sang auch die Schlager der Edith Piaf, z.B. Allez-venez-Milord. Er sang auch englische Shanties:
My Bonny is over the ocean.
She drank gin. He drank rum.
I´ll tell you they had lots of fun.
Auch seine Mütze blieb nie leer.
Houston war sehr sprachbegabt, er erzählte die neuesten Witze in Italienisch, Französisch, Englisch und sogar Deutsch, je nach dem, wer sich um ihn geschart hatte. Das Gelächter um ihn war immer am lautesten. Wie er es schaffte Trinkgelder zu bekommen, weiß ich nicht. Ich glaube, er gab sich aus als politisch Verfolgter, was er aber so spaßig vortrug, dass es ihm Keiner glaubte.
Ungezwungene Ferien
Meine vier Londoner Freunde hatten ihr Zelt irgendwo in einem Garten einer gerade nicht bewohnten Ferienvilla eines Millionärs aufgeschlagen. Sie verbrachten den ganzen Tag am Strand, und wenn sie Hunger hatten, zählten sie ihre Francs und entschieden, ob es zu einer Flasche Vin du Postillion, einer Baguette, Tomaten, Trauben und evtl. Schinken reicht. Wenn nicht, nahmen sie ihre „Tätigkeit“ an der Promenade des Anglais auf.
Es dauerte nie länger als 20 Minuten, bis die vier Künstler das Geld für eine Mahlzeit zusammen hatten. Sie waren auch, ehrlich gesagt, hochbegabt. Ich wäre so gern mit ihnen als Globetrotter rund um die Welt gezogen. Meine Teilnahme an ihren Lebensstil scheiterte daran, dass ich nicht mithalten konnte. Ich hatte sehr gute Noten in der Schule. Aber das war’s dann auch schon.
Herkunft
Bald schon bekam ich auch Einblicke in ihre Familie. Sie kamen alle aus einflussreichen Familien. Cynthia war sogar Adlige. Ihre Mutter war Hofdame im englischen Königshaus. Verwandt war sie über die Mitfords mit Churchills Ehefrau Clementine Hozier, ebenfalls einer Adligen.
Douglas war verwandt mit dem großen Staatsmann Hamilton, der in Dungavel Castle in Schottland einen großen Grundbesitz mit eigenem Flugplatz besaß. Dort sollte übrigens Rudolf Heß 1941 landen.
Charles war verwandt mit Lord Halifax dem englischen Außenminister, der zur Jagd ins protzige Carinhall eingeladen war und von Goering den Namen Halalifax erhielt.
Houston war sogar verwandt mit der bedeutenden Familie Chamberlain, die viele große Politiker hervorgebracht hat und mit Nevillle Chamberlain sogar den Prime Minister stellte. Kein Wunder, dass auch diese vier Vagabunden eher Ausnahme- als Normalmenschen waren.
Künstler im Alter
Houston hatte noch immer eine Beziehung zu diesen Freunden, sie lebten wie er in London. Cynthia und Charles hatten vor nicht allzu langer Zeit mit einem Pflasterbild auf dem Trafalgar Square von sich reden gemacht, was ihnen sogar einen Prozess einbrachte. Sonst hatten sie aber inzwischen als Illustratoren von Büchern feste Einnahmen.
Douglas hatte weniger finanziellen Erfolg mit seinem Konzert für Oboe und zwölf Schreibmaschinen. Er machte immer noch Straßenmusik oder war Alleinunterhalter in Kaffees und Kneipen.
Houston fühlte sich als Schriftsteller, ohne je etwas verlegt zu haben. Er plante ein großes Werk: Tausend Jahre Weltgeschichte in Tausend Kurzgeschichten. Zusammengefasst, es ging den vieren nicht schlecht, aber ohne den Rückhalt und das Erbe ihrer reichen Familien hätten sie ihren Lebensstil nicht bis ins Alter aufrechterhalten können. Sie hätten arbeiten müssen, wie ich.
Dass unsere Wege sich kreuzten, damals in Nizza, und heute wieder mit Houston an Speaker´s Corner, war Zufall. Dass daraus eine dauerhafte Bekanntschaft und Zusammenarbeit geworden ist, war Bestimmung.
The Swan
Es war Zeit, ein Bier zu trinken. Ein ansprechender und traditionsreicher Pub lag gerade auf der gegenüberliegenden Straßenseite „The Swan“. Ein Stammlokal von Houston. Da gingen wir hin. Der Vorgarten voller Holzbänke und Holztischen war leer. Es war zu kühl, um draußen zu sitzen. Aber drinnen war es ziemlich voll. Wir fanden einen leeren Tisch, gleich rechts hinter der Eingangstür. Ein großer Tisch war voll besetzt mit Arbeitskollegen, die zusammen ihre Mittagspause machten. Sie ließen sich allerlei Schabernack einfallen. Wenn der Sitznachbar nicht aufpasste, wurde sein volles Glas mit einem leeren vertauscht oder wenn einer kurz seinen Platz verließ knoteten sie die Ärmel von der über den Stuhl hängenden Jacke zusammen, was diesem beim Anziehen dann Schwierigkeiten machte. Ich dachte was für ein lustiger Arbeitstag für Engländer. Der Innenraum war verwinkelt und verschachtelt. Immer wieder um- und angebaut mit Balkonen versehen. Ein Tisch mit Frauen war auf halber Höhe über eine Treppe zu erreichen. Zehn bis zwölf Frauen saßen dort und machten Spiele. Sie wirkten sehr emanzipiert und sie mussten offensichtlich nicht für ihre Männer kochen.
How to get a beer
Ich ärgerte mich etwas über den Kellner, der mehrmals an uns vorbei lief, ohne zu bemerken, dass wir kein Bier hatten, bis mein neuer Freund mich aufklärte, dass man in Pubs das Bier selber holen muss. Ich ging also zur Theke, wo acht Zapfsäulen mit verschiedenen Biersorten aus dem Fass gezapft wurden. Houston sagte mir:“ Bring mir auch ein Bier mit vom vierten Fass“. Das Bier musste gleich bezahlt werden, man macht in London keine Striche auf den Bierdeckel. Eigentlich ganz praktisch. Da gibt es keine Schwierigkeiten beim Abrechnen.
Fish and Chips
Trinken macht hungrig, und so schlug Houston vor, wir sollten Fish and Chips essen. Auch das musste an der Theke bestellt und gleich bezahlt werden. Ich hatte vor, Houston einzuladen, aber dass er mich nun so einfach sein Essen bezahlen ließ, ärgerte mich ein wenig. Der Fish war allerdings sehr sehr gut, ein frisches Filet vom Kabeljau, die Chips sind etwas breitere Pommes Frites und geschmacklich fast noch besser, da das Verhältnis zwischen knusprig und weich ausgewogener ist. Meine Bestellung hatte eine Nummer, die man mir auf einem Fähnchen mitgegeben hatte und das auf den Tisch gestellt wurde. Der Kellner schwenkte bald sein Tablett mit einem Fähnchen von derselben Nummer. Es lief reibungslos. Auch hier dachte ich, wie praktisch sind doch die Engländer. Eine Zechprellerei ist von vornherein gar nicht möglich.
Fouquet´s
In London hätte mir nicht passieren können, was mir im Fouquets in Paris widerfahren ist. Ein honoriger, seriös wirkender älterer Herr hatte mich vor dem Lokal angesprochen - ich war damals „armer Student“ - ob er mich einladen dürfe. Ich war überrascht aber hoch erfreut und wir aßen beide sehr gut und ausgiebig im Nobelrestaurant, bis der großzügige Spender kurz auf die Toilette musste und von dort nicht mehr zurückkam, sodass mir nichts anderes übrig blieb, als die ganze Zeche zu bezahlen.
Galgen
Bevor wir, Houston und ich, den Swan verließen, fragte Houston mich noch: „Weißt du übrigens, dass in diesem Lokal vor vierhundert Jahren die zum Galgen Verurteilten ihre Henkersmahlzeit bekamen?“. Die Galgen standen auf der Straßenseite gegenüber, genau da wo heute Speaker´s Corner ist.
Seltsam, wie so ein Platz seine Funktion verändern kann. Wo früher die Leute herbeiströmten, um sich am unfreiwilligen Gezappel der Beine der Gehängten zu ergötzen, lachen sie heute über die wirren Reden und die freiwillige Zurschaustellung der meist psychopatischen Persönlichkeiten. Seltsam, der Genius loci bleibt sich doch irgendwie treu.
Da Houston so bewandert ist in englischer Geschichte und seine Geburtsstadt so gut kennt, bat ich ihn, mir alle alten, traditionsreichen Pubs zu zeigen. Ein volles Programm. Wir hatten beide Zeit, ich hatte mein Berufsleben hinter mir, meine Kinder waren aus dem Haus und Houston war sein Leben lang Junggeselle geblieben.
Paddington Station
Für den nächsten Tag sahen wir vor, dass ich ihn in seinem Haus im East End besuche. Als ich mich am nächsten Morgen auf den Weg machte, beachtete ich natürlich nicht die Rush Hour. Von Paddington Station wollte ich losfahren. Der Bahnsteig war aber schon so voll, dass ein Mitkommen beim Zug von vornherein aussichtslos war. So setzte ich mich zunächst hinten auf eine der Bänke und schaute dem Treiben zu.
Im 2-Minuten Takt kamen die Züge an. Von hinten schoben die Menschen, die vor ihnen Stehenden in die Wagons, bis sie so voll waren, dass auch nicht einer mehr hineingepfercht werden konnte. Beim nächsten Zug dasselbe Schauspiel. Faszinierend. Für mich! Nur die armen Leute, die das täglich mitmachen mussten.
Endlich unterzog ich mich derselben Prozedur. Trotz der vielen Stehenden in den Waggons, die den Blick versperrten, sah ich oben an den Seitenwänden Fotos der Shelters, und wie hilfreiche Frauen den dort Zuflucht Suchenden Kaffee und Kuchen brachten. Es sind Erinnerungen an die ersten Luftangriffe der Deutschen auf London. Auch hier wieder das lebendige Geschichtsbewusstsein. In keiner deutschen Stadt habe ich Erinnerungen an Bombenangriffe gesehen, obwohl diese in viel stärkerem Masse darunter gelitten haben.
Endlich kam ich in East End an und fand schnell nach seiner Beschreibung das Haus von Houston. East End ist heute ein schickes Künstlerviertel, früher war es aber der ärmlichste Stadtteil von London. Houstons Haus stammt noch aus einer Zeit, in der dort vor allem arme Hafenarbeiter lebten.
Archive, Zettel, Manuskripte
Er war noch damit beschäftigt, etwas Ordnung in das Chaos seines Bücherzimmers zu bringen. Ein typisches Verhalten, wenn „Besuch“ kommt. „Ordnung ist mir schon immer etwas schwer gefallen“ kommentiere er seine Aufräumarbeiten. Das war wahrscheinlich auch der Grund, weswegen mein Vorsatz, alle meine gesammelten Geschichten in eine ordentliche Form zu bringen, bisher gescheitert ist. Eine gigantische Fleißarbeit. Einer eurer großen Dichter hat gesagt „Genie ist 5 % Talent und 90 % Fleiß“. Die 5 % Talent habe ich vielleicht aber die 90 % Fleiß fehlen offensichtlich.
Begrüßung
Zunächst wollten wir unsere erneuerte Bekanntschaft mit einem Glas Wein begießen. Houston hatte in seinem Weinkeller außer dem bei Engländern beliebten Portwein und Sherry, auch trockene Weißweine. Aus Kalifornien, Chile und Australien. Er war Weltenbummler und kannte sich auch hier aus. Ich fühlte mich richtig wohl und auch er genoss es offensichtlich, dass er seine schriftstellerischen Probleme mit jemandem besprechen konnte.
Schicksalsjahr 1932
An den Anfang meiner Geschichtensammlung werde ich das Schicksalsjahr 1932 stellen und die Ereignisse nach vorne und hinten abrollen lassen. Inwiefern er dieses Jahr als Schnittpunkt gewählt hatte, wollte ich wissen. Für mich hatte dieses Jahr keine besondere Symbolkraft. Er sieht es als Wende in der amerikanischen Politik. 1932 gelang es dem amerikanischen Establishment eine Wiederwahl des besten Präsidenten, den die USA je hatte, zu verhindern:
Herbert Hoover – und einen der ihren an die Macht zu bringen: Franklin Delano Roosevelt. Dieser hatte zwar auch dem amerikanischen Volk Frieden versprochen, aber nur um seinem Mitbewerber friedenswillige Wähler abzujagen. Seine wahre Absicht aber war: „I need a big war“. Er dachte da an den Krieg im Pazifik, einen Krieg den Hoover unter allen Umständen verhindern wollte und auch an den Krieg gegen Deutschland, das er aber diesmal endgültig vernichten wollte.
Hoover
Er war der Meinung, wir brauchen keine Eroberungskriege und müssen keine Beute machen. Die Vereinigten Staaten sind so reich, wenn wir unser Land entwickeln, Straßen bauen und Eisenbahnen, unsere reichen Bergwerke auf den neuesten Stand bringen und unsere Industrie, dann haben wir die reale Chance, die Armut zu besiegen. Die moderne Technik erlaubt es, dass jeder Amerikaner sein eigenes Haus besitzen kann und Herr im eigenen Haus ist. Eine Vorstellung, die dem Establishment zuwider war, denn Arme und Notleidende sind viel leichter zu unterdrücken als selbstbewusste, unabhängige und wohlhabende Bürger.
Wahlergebnis 37 %
Das selbe Jahr 1932, das F.D. Roosevelt an die Macht, brachte bescherte dem Führer der NSDAP den ersten großen Wahlsieg mit 37 % der Stimmen. Trotz größter Widerstände aller Parteien wurde er schließlich doch zur Bildung einer von seiner Partei geführten Regierung beauftragt und zum Reichskanzler ernannt.
Hitler und Roosevelt waren von 1932 an die beiden großen Kontrahenten und blieben es bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Roosevelt wurde 1936 zum zweiten Mal gewählt und 1940 zum dritten Mal, obwohl nur zwei Amtszeiten vorgesehen sind, und 1944 sogar zum vierten Mal. Einmalig in der Geschichte in der USA. Er war damals allerdings gesundheitlich schon so angeschlagen, dass er das Ende des Krieges nicht mehr erlebte, weder das Ende Hitlers noch des Kriegs gegen Japan.
Der Diktator