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Alle Namen, Personen und Handlungen sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit real existierenden Personen oder tatsächlichen Begebenheiten sind nicht beabsichtigt oder wären reiner Zufall.

Titelfoto: Monty - Juli 2017 (© Udo Gremler)

© 2017 Holger Effnert

Herstellung und Verlag:

BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

ISBN: 978-3-7460-5090-4

Entsteht ein dauernder Schaden,

so sollst du geben:

Leben um Leben

Auge um Auge

Zahn um Zahn

Teil eines Rechtssatzes aus dem Alten Testament:

(Exodus 21, 23-25)

Inhaltsverzeichnis

  1. Sechs Monate zuvor
  2. Der Hundeverkäufer
  3. Die Einfahrt
  4. Die rothaarige Frau
  5. Verfolgt
  6. Angriff
  7. Mopsrennen
  8. Vitali und Igor
  9. Maxxims Flucht
  10. Abrechnung
  11. Helenas Bruder
  12. Fahrerflucht
  13. Vergeltung
  14. Die Zeit heilt alle Wunden

Prolog

In den Katakomben einer Fabrikruine kniete der Mann vor daumendicken Metallstangen. Sein Blick war auf den Schlüssel gerichtet, der eine Armlänge hinter den Gitterstäben lag. Schweiß lief von seiner Stirn in die Augen. Der Schlüssel würde ihn von der Fußfessel befreien, die über eine robuste Kette mit einem Metallstift verbunden war. Dieser Stift war die Lebensversicherung des Mannes, denn sie verriegelte den Zwinger, in dem zwei Schäferhunde darauf warteten, ihn zu töten.

Vorsichtig robbte er auf seinen Knien noch näher an die Gitterstäbe. Den metallischen Geschmack vom Blut in seinem Mund nahm er gar nicht mehr wahr. Vorsichtig schob er seinen Arm zwischen die Stäbe. Aber bevor er seinen Arm komplett austrecken konnte, um den Schlüssel zu erreichen, sprangen beide Hunde bellend nach vorne. Ihm wurde klar, dass er niemals an den Schlüssel kommen würde.

Die beiden Schäferhunde zogen sich wieder in den hinteren Teil des Zwingers zurück. Es schien fast so, als wollten sie den Mann in Sicherheit wiegen, damit er den Stift zieht. Ohne einen Laut von sich zu geben, starrten sie ihn auf der anderen Seite der Stäbe an.

Seine einzige Chance war der Metallstift. Aber war das überhaupt eine Chance? Würden die beiden Hunde wieder angesprungen kommen? Er musste das Risiko eingehen. Langsam erhob er sich und führte seine Hand zum Metallstift. Die Schäferhunde standen immer noch starr an der hinteren Käfigwand. Der Mann wagte nicht zu atmen. Das leise Knurren der Tiere klang in seinen Ohren wie „Mach doch, zieh den Stift!“ Vorsichtig bewegte er den Stift aus der Halterung und versuchte, dabei möglichst kein Geräusch zu machen. Seinen Blick richtete er weiterhin auf die Hunde. Beide blieben hinten im Zwinger stehen und fixierten ihrerseits das jämmerliche Elend. Der fing nun an, ihre Ohren mit netten Worten zu beleidigen. Beide zogen ihre Lefzen hoch, ohne ihr Knurren zu steigern. Der Blick des Mannes fiel auf die mächtigen Reißzähne.

Nachdem der Metallstift entfernt war und nun in seiner Hand lag, rechnete er mit einem Angriff seiner Kontrahenten. Aber diese blieben knurrend an ihrem Platz stehen.

Langsam ging der Mann in Richtung Ausgang. Er versuchte, so leise wie möglich zu gehen, allerdings quittierte die Kette jeden Schritt mit einem Rasseln. Als er seines Erachtens genug Vorsprung hatte, rannte der Mann los.

Wie Pfeile schossen die Hunde nach vorne und sprangen vor die unverriegelte Käfigtür. Scheppernd schlug sie vor die Wand. Dann machten sie sich auf, ihre Beute zu erlegen.

1. Sechs Monate zuvor

Luna Bremer saß vor ihrem Laptop und ließ ihrem Frust freien Lauf. Als Gründungsmitglied des Tierschutzforum „Hunde und Menschen in Freundschaft“, kurz HuMiFs, hatte sie viele verständnisvolle Leser, wenn sie mal wieder über ihren Mann Ben und dessen fragwürdige Freunde klagte.

Ben und auch Luna waren vor mehreren Jahren Mitglieder der Tierschutzgruppe Frydoks. Deren Anführer, Torben Braun, war damals im Hause Bremer ein gern gesehener Gast. Bis zu dem Tag, als sie mit ihren Aktionen einen Schritt zu weit gingen und die Tiermafia einen von ihnen brutal umbrachte. Der umstrittene Tierarzt Dr. Frank Zodec wurde in seiner Praxis von den Schlägern zu Tode geprügelt. Seitdem hatte Luna ihrem Mann ein Kontaktverbot mit Torben auferlegt. Ebenso wollte sie den Begriff „Frydoks“ nie wieder hören. Bei dem ungewollten Zuhören eines Telefonats ihres Mannes musste sie allerdings erfahren, dass er sich regelmäßig mit Torben traf. Dieses Wissen behielt sie jedoch erst einmal für sich.

Eine weitere Person, über die Luna durchgängig klagte, war Lily Graber. Seitdem die einen schwarzen Mops aus einer Tötungsstation aufgenommen hatte, wurde ein Aufsehen um diese Frau und den Hund gemacht, das sie so nicht nachvollziehen konnte und auch nicht wollte.

Luna selbst hatte schon viele Nothunde aufgenommen, ohne dies an die große Glocke zu hängen. Da war ihr dieses Getue um Lily Graber regelrecht ein Dorn im Auge. Sie und mehrere Mitstreiterinnen hatten nach nicht einmal einem Jahr erreicht, dass Lily aus dem elitären Kreis der HuMiFs entfernt wurde.

Trotz alledem sickerten immer wieder neue Meldungen von Nothundtransporten und irgendwelchen obskuren Tierrettungen dieser Frau ins Forum der HuMiFs. Und jedes Mal schäumte Luna vor Wut. Dementsprechend kommentierte sie auch alle neuen Beiträge mit Ironie.

Ein viel größeres Problem hatten Lily und auch Torben Braun mit einem Spitzel der Tiermafia, der auch den HuMiFs angehörte. Die Mitgründerin Mandy Ruditsz hatte Olga Petrova in den kleinen Kreis der HuMiFs zugefügt. Der eigentliche Aspekt dieser ausgewählten Menschen war, dem Tierschutz zu dienen. Davon war Olga Petrova allerdings weit entfernt. Sie wohnte mit Mandy Ruditsz in dem gleichen Wohnblock in einem Dresdner Vorort und verschaffte sich unter Vorspielung falscher Tatsachen Zugang zu eben diesem Forum. Ihr Ziel und Auftrag war die Enttarnung der Frydoks-Mitglieder. Zudem hatte sich Olga vorgenommen, Lily Graber das Leben zur Hölle zur machen. Warum, das wusste nur sie.

In dem gleichen Mehrfamilienhaus, in dem Olga und Mandy lebten, wohnte auch Maxxim Schmidt. Er war der deutsche Außenposten der Tiermafia unter Leitung von Igor Toschenko, der seine Geschäfte aus der ukrainischen Hauptstadt Kiew lenkte. Alles was Olga Petrova über die störenden Tierfreunde herausbekam, musste sie an Maxxim weitergeben. Der veranlasste die entsprechenden Schritte, um „das Problem“ aus der Welt zu schaffen. In der Regel benutzte er dafür seinen vierköpfigen Schlägertrupp, der durch das Land fuhr und die Drecksarbeit erledigte. Wie zum Beispiel die Eliminierung des Tierarztes Dr. Frank Zodec.

Um Lily aus dem Weg zu räumen, dachte sich Olga immer wüstere Geschichten aus, damit Maxxim die Wichtigkeit des Handelns erkannte. Allerdings schätze er die Situation um Lily Graber anders ein als Olga und schenkte dem Thema nicht viel Aufmerksamkeit.

2. Der Hundeverkäufer

Die Anfrage kam von Rene Sandrow etwas verschlüsselt. „Kennst du jemand, der für ein paar Wochen einen blinden Mops als Pflegestelle aufnehmen könnte?“

Lilys erster Gedanke waren die bekannten Pflegestellen, aber die kannte Rene ja nun auch, also ging es wohl um irgendetwas Besonderes. Trotzdem hakte Lily nach. „Was ist denn mit den üblichen Pflegestellen?“ „Die sind alle voll, außerdem ist hier die Situation etwas anders. Der Typ, Züchter nennt er sich selbst, geht davon aus, dass sein Mops zu einer bekannten Pflegestelle kommt, damit er immer Zugriff darauf hat. Er meint natürlich, dass er seine ehemalige Mopshündin einfach nur mal besuchen möchte, aber das ist Quatsch. Der Typ ist ziemlich skrupellos und wir wollen nicht, dass unsere Pflegestellen dann von dem Kerl gestalkt werden. Darum muss der Mops mit einer neuen Identität untergebracht werden.

Für einen kurzen Augenblick war Lily gewillt zu fragen, warum er nicht selbst die Mopsdame nehme. Immerhin kannte Rene sich ja auch ein wenig mit blinden Hunden aus. War er doch die Pflegestelle, zu der Monty gebracht wurde, nachdem man ihn aus einer tschechischen Tötungsstation gerettet hatte. Sie verwarf den Gedanken, da sie wusste, dass Rene im Moment sehr viel Arbeit um die Ohren hatte.

Lily überlegte, aber wirklich kennen tat sie niemanden. „Warum muss die denn da weg?“, fragte sie nach. Man konnte Renes Wut aus den gesprochenen Worten heraushören. „Der Kerl benutzt sie als Gebärmaschine. Bei jeder Läufigkeit lässt er einen Rüden ran und produziert.“ So ganz war das Feuer in Lily noch nicht entfacht. Sie fand es schlimm, was mit der Hündin passierte, aber der Funke wollte noch nicht überspringen. „Und wie ist sie blind geworden und warum soll sie jetzt weg?“ Renes Stimme zitterte nun. „Der Kerl hat sie im Garten oder Hinterhof in einen Holzverschlag gesperrt und durch den Zugwind hat sie ihr Augenlicht verloren. Ja, und da die potenziellen Kunden die Elterntiere bzw. die Zuchthündin auch sehen wollen, macht es kaum Sinn, wenn da ein blinder Hund angestolpert kommt.“ Lily stellte sich die Situation der Hündin in dem Verschlag vor, überlegte kurz und sagte dann mit fester Stimme: „Ich nehme sie für die Zeit.“

*

Lily musste nach Quedlinburg fahren. Adresse und Telefonnummer hatte sie. Die Geschichte, die sie dem Kerl auftischen würde, war ziemlich einfach und glaubwürdig. Sie ist auf dem Heimweg von Berlin und nimmt auf Anfrage der vermeintlichen Pflegestelle, deren PKW leider defekt ist, die Hündin für die 100 km grade mit. Nicht mehr und nicht weniger.

In Quedlinburg angekommen, stand Lily am Ende der ihr genannten Straße und schaute auf die Hausnummer des Wohnblocks. Nummer 64. Na Klasse, Nummer 114 sollte es eigentlich sein. Lily stellte sich mittig auf die Straße, die in einer verkehrsberuhigten Zone lag, in der Hoffnung, dass der Typ sie vielleicht sah und sich bemerkbar machte. Sie verglich noch mal die notierte Adresse in ihrem Handy und rief anschließend Rene an. „Die Adresse gibt es nicht, hier hören die Nummern bei 64 auf. War 114 die richtige Hausnummer?“ Einen Augenblick war Stille in der Leitung, dann meldete sich Rene: „Ich habe hier auch 114 stehen.“ „Verdammt, ich ruf den Vogel mal an, das muss hier ja irgendwo sein.“ Beide verabschiedeten sich und Lily wählte die Nummer des Hundebesitzers. Es klingelt keine drei Mal und am anderen Ende meldete sich jemand mit „Hallo?“

Lily verzog das Gesicht. Das war einer dieser Punkte, der ihr bei der Handygeneration ziemlich quer im Magen lag. Es wird sich nicht, wie damals am guten alten Kabeltelefon, mit seinem Namen gemeldet, sondern nur mit „Hallo“. „Auch Hallo, hier ist Lily Graber, spreche ich mit Herrn Deuz? Ich rufe wegen der Mopshündin an und…“ „Frau Graber, gut dass sie sich melden. Ich habe es mir anders überlegt. Ich möchte meine Hündin doch nicht abgeben. Sie brauchen sich nicht die Mühe zu machen, um sie hier abzuholen.“ „Stopp. Was glauben Sie eigentlich. Meinen Sie, dass drei Minuten vor Termin der richtige Zeitpunkt für einen Rückzieher ist.“ Lily war sauer, und konnte ihren Zorn gerade noch zurückhalten. Allerdings rutschte ein winzig kleiner Teil ihrer Wut in die Stimme. „Ich fahre hier doch nicht zig Kilometer durch Ostdeutschland und Sie wechseln mal spontan Ihre Meinung. Ich stehe bereits bei Ihnen in der Straße und Ihre angegebene Adresse gibt es nicht.“ „Ich weiß.“ Jetzt war Lily platt. Hatte der das jetzt grade wirklich bestätigt? „Was soll das genau heißen?“ Lilys Stimme war jetzt beängstigend ruhig, aber stechend. „Wenn Sie Eier in der Hose haben, kommen Sie jetzt hier vorbei und sagen mir das direkt und dann schauen wir mal, ob ich mich damit zufriedengebe.“ Auf der anderen Seite hörte Lily den Mann schlucken. „Ok, gehen Sie zum anderen Ende der Straße. Da ist eine Eisdiele, dort treffen wir uns.“

*

Lily parkte direkt vor dem Eiscafé. Da sie fest davon ausging, dass der Typ sie warten ließ, setzte sie sich an einen der freien Tische, der nicht im Schatten lag und bestellte sich einen Kaffee. Der Kerl war ihr in allen Punkten unsympathisch. Sein Umgang mit der Hündin war schon Grund genug, ihn so dermaßen abstoßend zu finden. Dann das Verhalten am Telefon mit der plötzlichen Absage. Objektiv konnte sie ihm jetzt eh nicht mehr gegenüber treten. Auch die Stimme fand Lily widerlich. Ihr Spruch mit „keine Eier in der Hose“ hatte vielleicht ja einen wahren Hintergrund. Der Mann hatte eine helle Stimme wie ein Knabe vor der Pubertät. Er versuchte sie aber dunkel und männlich klingen zu lassen, was Lily zum Schmunzeln brachte. So stellte sich Lily einen Möchte-Gern-Macho vor.

Sie hoffte nicht, dass ihr Vorurteil dem Typen gegenüber ins Wanken geriet und gleich ein gutaussehender eleganter Mann um die Ecke kam. Aber Lily sollte nicht enttäuscht werden. Sie hatte diesen Gedanken noch nicht ganz beendet, als ein Mann in Richtung Café kam, für dessen Modeverständnis noch kein Name erfunden wurde.

Lily fasste sich an die Stirn und bedeckte mit der Hand ihre Augen. Mit einem Mal war ihr die Bedeutung des Wortes „Fremdschämen“ klar. Der Mann trug eine bollerige Jeanshose, an deren Seiten jeweils von oben bis unten ein weißer Blitz aufgenäht war. Lily hatte so etwas schon mal in den 80ern gesehen. Seine Tennissocken waren über die Hose gezogen, und die schwarzen abgelaufenen Slipper unterstrichenen noch diese außergewöhnliche Zusammenstellung. Das gelbe Sweat-Shirt, auf dem irgendein alberner Aufdruck war, hatte er sich in die Hose gestopft. Selbstverständlich fehlte ein Gürtel. Der Mann erfüllte jedes Klischee. Aber eins musste man ihm lassen, sein Outfit hatte so etwas wie einen roten Faden. Es sah von oben bis unten unmöglich aus. Da bildete auch sein Kopf keine Ausnahme. Ok, seine verlebte Gesichtshaut könnte mit einem Cowboy-Hut an John Wayne erinnern, aber er bevorzugte eine klassische Vokuhila-Frisur. Vorne kurz und hinten lang, dazu natürlich passend Strähnchen.

Lily bedeckte ihre Augen weiterhin mit der Hand. Ihr Blick war lediglich in Richtung Erdboden freigegeben und genau da bauten sich jetzt ein paar Slipper auf, in denen weiße Tennissocken steckten. „Naaa, warten Sie schon lange?“ Diese Stimme, Lily hatte sie fast vergessen. Sie sah im geistigen Auge einen halbwüchsigen, der das erste Mal Zigaretten am Kiosk kaufen wollte und dementsprechend die Stimme verstellte, um erwachsener zu klingen. Dann nahm sie ihre Hand runter und blickte dem Mann selbstbewusst in die Augen. Lilys Mundwinkel gingen gekünstelt hoch und sie ignorierte den Spruch, indem sie den Mann begrüßte. „Herr Deuz, schön Sie kennen zu lernen, und danke, dass Sie sich doch noch Zeit für mich genommen haben.“ Sie wollte ja was von ihm, und da wäre es wohl besser freundlich zu bleiben.

Der Mann blieb noch einen Augenblick vor Lily stehen, zog sich dann das Shirt aus der Hose und die Hose aus den Socken. Lily beobachtete diese Aktion verwundert aber auch erleichtert. Sie musste sich zumindest keine Sorgen mehr um ihre Augen machen, aber was das jetzt sollte, wusste sie immer noch nicht.

Herr Deuz lächelte nun Lily an und strich sich selbstverliebt durch die Haare. Die Zähne, die beim Lächeln zum Vorschein kamen, ließen zwei Vermutungen zu: starker Raucher oder Angst vor dem Zahnarzt.

„Entschuldigen Sie diesen spektakulären Auftritt, meine Liebe“, begann er, und Lily machte sich gedanklich gleich den nächsten Minuspunkt. „Meine Liebe“, auf so etwas stand sie ja und dann noch von so einem August. „Ich wollte mich nur vergewissern, dass Sie keine Vorurteile gegen mich hegen.“ Wenn du wüsstest, dachte sich Lily. Er setzte sich unaufgefordert ihr gegenüber und kam sofort zur Sache. „Ich habe mir überlegt, den Mops doch nicht abzugeben.“ Lilys Blick wurde eiskalt und sie bemerkte sofort eine gewisse Unsicherheit bei ihrem Tischnachbarn, die aber schnell wieder verflog. Will er mich jetzt herausfordern oder ist er einfach nur ein Arsch? Lily neigte ihren Kopf unbewusst etwas zur Seite. Sie musterte den Kerl jetzt offensichtlich. Deuz rutschte etwas nervös auf dem Stuhl hin und her und Lily legte sich ihre Worte schon mal zurecht. In den Telefonaten mit Rene hatte sie ja schon erfahren, mit was für einem Schlag Mensch sie es hier zu tun bekäme. Du darfst ihm nur nicht zeigen, dass er dich in der Hand hat, dann spielt er mit dir Ping-Pong. „Dann behalten Sie doch Ihren Hund, mir ist das doch egal.“ Die Augen ihres Gegenübers wurden groß. Er hoffte jetzt eigentlich auf Bitten und Betteln. „Aber dass Sie mich hier extra diesen Umweg fahren lassen, kotzt mich an. Woher kommt denn dieser plötzliche Sinneswandel?“ Es schwappte etwas Zorn in Lilys Stimme mit, aber grade mal so viel, dass es nicht unfreundlich klang. Nun fing Deuz an. Wie sehr er diesen Hund vermissen würde und er hätte ja auch schon andere Hunde abgeben müssen und sein Herz hinge doch so sehr an seiner Mopshündin, bla bla bla.

Lily malte sich noch einmal aus, wie dieser arme „ach so doll geliebte“ Hund in seinem zugigen Verschlag saß und nur drauf wartete, dass der nächste Rüde zum Decken kam. Aber sie wollte nicht ohne die Mopshündin hier wegfahren, also versuchte sie die Situation zu entspannen. Als Deuz mal eine Pause in seinen Redefluss machte, um Luft zu holen, ergriff Lily die Chance und begann mit belanglosem Gerede. Wie er zu dem Hobby Hundezucht gekommen sei, ob er schon immer hier in diesem tollen Städtchen wohnte, ob er sich nicht mal eine andere Frisur zulegen wolle. Den letzten Satz dachte sie nur, obwohl sie ihm das gerne unter die Nase gerieben hätte. Die Antworten auf jede Frage wurden so dermaßen ausgeschmückt, dass man am Ende gar nicht mehr wusste, was überhaupt die Frage war. Lily schaute auf die Uhr, es war halb zwölf. Deuz war immer noch am Antworten und Lily orderte noch einen Kaffee, dann fiel sie ihrem Gesprächspartner ruppig ins Wort. „Bis zwölf Uhr gebe ich ihnen jetzt noch Zeit, sich zu entscheiden, danach fahre ich. Ob mit oder ohne Hund.“

Es verging bestimmt eine Minute, in der nicht ein Wort gesprochen wurde, und Lily dem Mann ohne zu zwinkern direkt in die Augen schaute. Erst als die Bedienung mit dem bestellten Kaffee kam, wurde die Situation unterbrochen. Deuz fand wieder zu Worten und zog den Hundeausweis aus der Tasche. „Ich hole dann mal den Hund“, gab er kleinlaut von sich, stand auf und ging in die Richtung, aus der er gekommen war. Lily blickte hinter ihm her und sah, dass er zwei Häuser weiter in eine Einfahrt ging. Als er wiederkam, stand Lily auf und ging zu ihrem Wagen. Hauptsache, sie hatte die Kleine erst einmal in ihrem Auto, danach würde sie dem Deuz am liebsten ihre Meinung sagen. Aber eine innere Stimme warnte sie vor solch einem unüberlegten Handeln.

Deuz und die Mopshündin waren noch ein gutes Stück entfernt, aber Lily konnte die offensichtlich viel zu schwergewichtige Hündin schon schnaufen und krächzen hören. Dieser Mops hatte mit Sicherheit fünf Kilo zu viel auf den Rippen. Lily ließ die Mopsdame auf den Rücksitz Platz nehmen und machte den Karabinerhaken, der auf der anderen Seite in der Gurtpeitsche steckte, am Geschirr der Hündin fest. Während sie den Mops streichelte und leicht den Kopf schüttelte, dachte sie „armes Mädchen“, dann blickte sie Deuz mit Eiseskälte in die Augen, „du arme Wurst.“ Diese Worte blieben aber auch unausgesprochen und Lily setzte ein gekünstelt freundliches Lächeln auf. „Es war nett Sie kennengelernt zu haben.“ Deuz lächelte hämisch zurück. Ihm war klar, dass die Worte dieser Frau nicht annähernd ernst gemeint waren. Aber das machte nichts, die entsetzten Augen von Lily Graber beim Anblick der viel zu dicken Mopshündin reichten ihm als Entschädigung.

*

Während der Fahrt blätterte Lily den Hundepass durch. Berta hieß die Mopshündin und war gerade mal fünf Jahre alt. Sie stellte sich als äußerst fahrerprobt heraus. Die vielen Handtücher, die Lily für den Fall eines Malheurs ausgelegt hatte, wurden nicht beansprucht. Die dicke Berta legte sich direkt nach der Abfahrt hin und schlief. Etwa auf halber Strecke rief Rene an und fragte, wie es gelaufen sei. Lily umschrieb mit knappen Worten den Ablauf der Übergabe. Über die Hündin selbst wollte sie erst von zu Hause genauer berichten.

In Ostwestfalen angekommen, fuhr Lily direkt zu ihrer Tierärztin. Die sollte Berta erst einmal durchchecken. Vor allem ansteckende Krankheiten und Ungeziefer sollten ausgeschlossen werden, bevor die Mopsdame zu Rockster, Gismo und Monty ins Rudel kam. Die Angst war allerdings unbegründet. Auch war der Allgemeinzustand von Berta gar nicht so verheerend wie angenommen. Bis auf das Übergewicht, das bei ihrer Statur mit über zwölf Kilogramm weit über der Norm lag, und natürlich die Augen. Allerdings war es um die nicht so schlecht bestellt wie befürchtet. Berta konnte zwar schlecht sehen, aber nicht so schlecht wie Monty. Die Tierärztin versicherte, dass sich der Patient ohne Weiteres alleine orientieren könne, solange es hell genug war. Mit dieser Diagnose fuhr Lily mit Berta nach Hause.

Zu Hause angekommen, ließ die Mopsbesitzerin den Neuankömmling in den Garten und holte anschließend ihre drei Jungs dazu. Die Hunde sollten sich auf „neutralem“ Gebiet erst einmal beschnuppern. Und das taten sie. Rockster und Monty wollten der Hundedame nicht vom Hinterteil weichen. Gismo interessierte sich für die Mopshündin gar nicht.

Da Berta pausenlos kreuz und quer durch den Garten lief, war sie anscheinend froh, endlich die Freiheit zu genießen. Lily holte die Leinen und Geschirre ihrer drei Jungs und machte sich mit dem Quartett auf eine Gassirunde. Dabei wählte Lily eine Strecke, die sie im Grunde zu jeder Zeit auf den kürzesten Weg nach Hause führte. Falls Berta schlappmachen würde, wollte sie den Brocken nicht wer weiß wie lange tragen.

Die Angst war jedoch unbegründet. Berta bewies eine außerordentlich gute Kondition. Zwar schnaufte und grunzte sie, dass man Angst bekommen konnte, aber sie lief eine Stunde tapfer an der Seite der drei Rüden. Allerdings brauchte die füllige Mopsdame gute zwei Stunden, bis sich ihre Atmung wieder normal anhörte. „Vier Kilo müssen runter, meine Dame! Ab jetzt wird das Essen rationiert, und wir werden täglich zwei große Runden laufen.“

Am nächsten Tag fand Lily drei Blutstropfen auf den Fliesen im Badezimmer. Sie kontrollierte die Pfoten aller vier Hunde. Da diese keine Verletzungen aufwiesen, wischte sie das Blut weg und machte sich keine weiteren Gedanken. Im Laufe des Tages fand Lily weitere Blutstropfen und konnte auch diese nicht zuordnen. Erst ein zufälliges Telefonat mit Rene brachte die Auflösung. „Ist das Mädchen vielleicht läufig?“ Nun war alles klar. Lily hatte immer nur Rüden gehabt und war daher mit der Problematik nicht vertraut. Da ihre drei Jungs allesamt kastriert waren, sollte es da aber wohl keine Probleme geben.

In einem Hundeladen kaufte Lily für die Dame ein Läufigkeitshöschen und stattete dies mehrmals am Tag mit einer halben Slipeinlage aus. Die eigentlichen Probleme fingen aber mit den Stehtagen an. Trotz Kastration waren die Rüden nicht mehr Herr ihrer Sinne. Jedes Mal, wenn Lily die Wohnung kurz verlassen musste, trennte sie Berta von den drei Rüden in verschiedene Räumen. In die Tür klemmte sie ein Babygitter.

*

An einem Samstag schellte ein Nachbar an Lilys Tür. Er hatte sich in die Hand geschnitten und fragte Lily, ob sie ihn ins Krankenhaus fahren könne. Sie erklärte sich bereit, sperrte Berta wieder ins Esszimmer und fuhr mit dem Nachbarn los. Als Lily nach einer guten Stunde wieder nach Hause kam, sah sie sofort das weggedrückte Babygitter. Berta lief ohne Höschen rum und Monty stand mit erigiertem Glied im Raum. Bei dem kleinen Kerl war alles blutig und die anhaltende Erektion schien ihm große Schmerzen zu bereiten. Lily war außer sich. Obwohl kein anderer Mensch in der Wohnung war, schimpfte sie mit einer imaginären Person. „Siehst du, genau darum wollte ich nie eine Hündin. Nur Ärger hat man mit denen.“

Sie wusste selbst nicht, wie sie dem schwarzen Mops aus seiner misslichen Lage befreien sollte. Sie nahm ihn auf den Arm und hielt sein Geschlechtsteil unter kaltes Wasser, was ihm aber überhaupt nicht gefiel. Lily versuchte, zumindest das Blut abzuwaschen. Anscheinend hatte Berta den fast halb so schweren Monty nach dem Deckungsakt durch die Wohnung geschliffen, bis er losgerissen wurde. Es nutze nichts, die Erektion blieb. Nun packte Lily Monty unter den Arm und ging aus dem Haus. Zum einen wollte sie Berta im Moment nicht mehr sehen und zum anderen erhoffte sie sich bei ihrem Mopsmann eine Abschwellung durch den kleinen Spaziergang.

Nach einer halben Stunde war Lily wieder zu Hause. Montys Schwellung hatte sich an der frischen Luft tatsächlich wieder zurückgebildet. Trotzdem war Lily noch erbost und rief bei Rene an. „Dieses Frauenzimmer kann direkt unsere Wohnung verlassen. Wie soll das denn mit drei Rüden gehen?“ Rene versuchte beruhigend auf Lily einzureden. Die schilderte noch mal die ganze aus dem Ruder gelaufene Situation. „Jetzt überstürz mal nichts. Monty ist ja wieder auf den Beinen. Er als Deckrüde lässt sich natürlich noch leichter verleiten. Schlaf eine Nacht drüber und wenn du deine Meinung bis Morgen nicht geändert hast, dann lassen wir uns schon etwas einfallen.

*

Lily hatte eine Nacht darüber geschlafen, und es wurden noch einige mehr. Letztendlich war Berta sechs Wochen bei Lily, als das Telefon klingelte. Jasmin Alegra war am anderen Ende. Lily hatte diese Frau am Neujahrstag 2011 kennengelernt, und letztendlich hatte die die Fäden geknüpft, damit Lily sich bei der Tierschutzorganisation registrierte, die Monty vermittelte.

Nun erkundigte sich Jasmin nach Berta. Natürlich hatte auch sie den Zwischenfall der läufigen Hündin mitbekommen und war froh, dass Berta nicht schon nach ein paar Tagen an die nächste Pflegestelle weitergereicht wurde. Nun aber hatte sie eine passende Endstelle für Berta gefunden und wollte dies mit Lily besprechen.

Die vorgesehene Person war eine verheiratete Rentnerin, die vor einigen Monaten ihren Hund verloren hatte und nun einer anderen Hundeseele ein Zuhause schenken wollte. Dass sie von der Hunderasse „Jack Russel“ auf einen Mops wechselte, war zwar etwas ungewöhnlich, aber in Anbetracht des zunehmenden Alters sollte es nicht wieder so ein Energiebündel sein.

Lily vereinbarte ein Treffen bei der Interessentin. Schließlich wollte sie ja sehen, ob es in dem Haushalt alles mopsgerecht zu ging. Nach dem Treffen lud Lily das Ehepaar zu sich nach Hause ein. Sie wollte sehen, wie die Reaktion der Personen auf Berta ausfiel. Es war Liebe auf den ersten Blick. Dem Rentnerehepaar konnte man die Begeisterung sofort anmerken und Berta machte es sich, nach anfänglicher Skepsis, in der ausgezogenen Jacke der Frau bequem.

Noch am gleichen Tag zog Berta aus und Lily konnte ihre Aufmerksamkeit wieder komplett den drei Jungs widmen. Das Kapitel „Hündin“ war geschlossen und Lily wurde einmal mehr bewusst, warum sie sich immer für Rüden entschieden hatte.

3. Die Einfahrt

Lily war nur kurz aus der Hofeinfahrt gegangen, um etwas aus dem Wagen zu holen. Allerdings nahm das die Nachbarin zum Anlass, um mit Lily ein Schwätzchen zu halten. Monty, der im Garten Lilys Stimme vernahm, machte sich langsam in eben diese Richtung auf und drückte die angelehnte Gartentür auf. Nun stand er in der Hofeinfahrt. Er lauschte und versuchte Lilys Stimme irgendwo zu vernehmen, aber er hörte nur die Stimme einer anderen Frau.

Eine Windbö knallte die Gartentür zu, und Monty machte vor Schreck einen Satz zur Seite. Sein Herz pochte wie wild. Auf der anderen Seite der Tür machten sich nun Rockster und Gismo bemerkbar. Lautstark schimpften sie, dass Monty draußen herumlaufen durfte und sie im Garten eingesperrt waren.