Leben üben
Improvisationen und Notate
Die Publikation wurde ermöglicht durch die freundliche Unterstützung von der Abteilung Puppenspielkunst der HFS Berlin, SCHAUBUDE BERLIN, Theater Pfütze Nürnberg, Manuel Schöbel / Radebeul, AGORA Theater / St. Vith (Belgien), Jutta M. Staerk / Köln, Kerstin Dathe / Thale, Deutsches Archiv für Theaterpädagogik (DATP) am Institut für Theaterpädagogik der Stiftung HS Osnabrück/ Campus Lingen, henschel SCHAUSPIEL Theaterverlag Berlin GmbH, Hedwig Golpon / Universität Greifswald, Gerd Taube / Kinder- und Jugendtheaterzentrum in der Bundesrepublik Deutschland, Thomas Lang / Hannover, Gunhild Lattmann / Dresden, Silke Lenz / Landeszentrum Spiel und Theater Sachsen Anhalt, Jürgen Zielinski und Lydia Schubert / Theater der Jungen Welt Leipzig, Willy Combecher, Sigi Herold und Detlef Köhler / TheaterGrueneSosse Frankfurt am Main, Hubertus Fehrenbacher / Theater im Marienbad Freiburg, Mario Portmann / Oberspielleiter am Theater Konstanz, Tina Jücker und Claus Overkamp / Theater Marabu Bonn, Andreas Goehrt und Karin Schroeder / Theater Metronom Visselhövede, Theater Mummpitz Nürnberg, Wolfgang Stüßel / Theater STRAHL Berlin, Felicitas Loewe / Intendantin am tjg. theater junge generation / Dresden, Ulrike Hentschel / Universität der Künste Berlin, Ute Pinkert / Universität der Künste Berlin, Kristin Wardetzky / Berlin, Wolfgang Schneider / Bischofsheim, ASSITEJ e.V. / Frankfurt am Main und Gerd Knappe / Berlin.
Horst Hawemann
Leben üben – Improvisationen und Notate
Herausgegeben von Christel Hoffmann
Recherchen 108
© 2014 by Theater der Zeit
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Verlag Theater der Zeit
Verlagsleiter Harald Müller
Im Podewil | Klosterstraße 68 | 10179 Berlin | Germany
www.theaterderzeit.de
Lektorat: Lena Schneider
Grafik: Bild1Druck, Berlin
Cover: Horst Hawemann und Studierende während eines Seminars
Covergestaltung: Antje-Catrin Jäckel, Fotos Hans-Jochen Menzel
Printed in Germany
ISBN 978-3-943881-83-7
ISBN 978-3-95749-004-9 (eBook)
Prolog
Vorwort
I ARBEITSBEGRIFFE
Die „Nummer“ als Spielbegriff
Improvisation
Etüde
Interpretation
II DIE SAMMLUNG
„Umquatschen“ oder Der gesammelte Held
Bekannte Redensarten, verdichtete Sprache
Kopfhaltungen
Nachtrag: Sammlung in eigener Sache (ärgerlich aufgeschrieben)
III MIT SPRACHE HANDELN
Das handelnde Wort
Arrangement macht Haltung oder Die Macht der Worte
Sätze über Sätze
Sprache handelt im Theater durch Sprechen
Worte und Hindernisse
Die innere Stimme
Etüdischer Umweg zu dichterischen Sätzen
Dass ich dich herzen kann
Sprechen
Vom Nutzen des Nachschlagens
IV ALLES HANDELT MIT
Spontanes Handeln, bewusstes Handeln, gestaltetes Handeln
Alles handelt mit
Das Ereignis
Dramaturgie heißt Handlung
Umstände
Der Spielwert der einzelnen Mittel
V EIN DIALOG IST MEHR ALS EIN GESPRÄCH
Liebe die Pause!
Grundtypische Haltungen und sprachlicher Gestus
Fixierungen
Text Text Text
Die Szene
Wir befragen die Szene
VI ERREGENDE VORGÄNGE
Erregung
Beziehungen
Entwicklung von Beziehungen: Szenische Anfänge
Partnerschaft: Geben – Nehmen – Geben
Erfahrungen
In übertragenem Sinne
VII WIE ENTSTEHT EINE FIGUR?
Biografie
Auskünfte über Menschen
Kleider machen Leute oder Kostüm und Bewegung
Zeig her deine Füße, zeig her deine Schuh
Der Kragen – ein Kostümteil und mehr
Gang mit Hut
Das erzählende Detail
VIII AM ANFANG IST IMMER EIN RAUM DA
Die wichtigste Senkrechte im Raum ist der Mensch!
Auch der Blick ist ein Gang
Präsent im Raum
Partnerbeziehung im Raum
Grundtypische Haltungen und deren Beziehung zum Raum
Das Raumbild
Ein Möbelstück im Raum
Die bebaute Bühne – Übungsideen
Vorgestellte Räume, empfundene Räume
Zeichen im Raum (Objekte)
Waffen auf der Bühne oder Was tut das Schwert mit der Spielerin?
Die Dinge erzählen
Das Licht setzt Zeichen
Den richtigen Ton finden
IX DIE PROBE
Die Entwicklung der Idee beim Schreiben
Wie bereite ich mich auf eine erste Probe vor?
Proben begleitende, gültige Altwahrheiten
Fragen, die sich während der Probe oder danach einstellen
Nach dem Ausprobieren folgt die Probe
Die Wiederholungs- oder Erinnerungsprobe
Die Entwicklungsprobe
Eine Proben-Sammlung
Besondere Proben der lockeren Art
Kritik und Auswertung
Bühne – Zuschauerraum
Epilog: Worte, die auf Proben fielen
X AUSKÜNFTE
Über Freiräume für Schauspieler
Ich bekenne mich zu meiner Arbeitsweise
Horst Hawemann – Biografie in Daten
Inszenierungen (Auszüge)
Nachwort
AN – GEBOTE
AN – SCHAUUNGEN
AN – SICHTEN
AN – REGUNGEN
AN – SÄTZE
AN – FÄNGE
AN – SAGEN
AN – FRAGEN
AN – WENDUNGEN
AN – MERKUNGEN
Dieses Buch ist nicht nur eine Bedienungsanleitung zum Erlernen der Schauspielkunst oder zur Ausbildung von Schauspielerinnen und Schauspielern. Es ist auch nicht nur Anregung und Quelle für Dozentinnen und Dozenten, die sich mit der Vermittlung von Grundlagen der Schauspielkunst beschäftigen, sowie für angehende Schauspieler/innen, die sich mit ihrem zukünftigen Beruf auseinandersetzen wollen. Dieses Buch ist vor allem ein Arbeitsbuch für gestandene Schauspieler/innen und Regisseur/ -innen, die mitten in Inszenierungsprozessen stehen. Und nicht zuletzt ist es ein Erinnerungsbuch an den Theaterlehrer Horst Hawemann.
Die Übungen in diesem Buch entbehren jeder Mechanik, sie sind kein Knöpfedrücken mit immer demselben Ergebnis – nein, sie sind sehr lebendig. Sie sind eine Aufforderung, kreativ mit diesem Material umzugehen, vielleicht so, wie Horst Hawemann selbst seine Erfindungen, er nannte sie seine „Nummern“, gesehen hat: Sie waren ihm nie wichtiger als die Menschen, mit denen er arbeitete.
Professor Horst Hawemann lehrte lange Jahre im Studiengang Zeitgenössische Puppenspielkunst an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“, er gab vornehmlich Unterricht in den Grundlagen Schauspiel im ersten Studienjahr, am Anfang des Studiums, und schloss im vierten Studienjahr mit einem Fortgeschrittenenkurs ab. Er war uns sehr verbunden und unterstützte uns inhaltlich in der Planung des Curriculums mit seinen Erfahrungen.
In seinen Grundlagenkurs konnte man jederzeit hineingehen und zuschauen. Man konnte sehen, wie sich seine Übungen entfalteten, wie sie sich veränderten, weil sie manchmal nicht funktionierten, man konnte zusehen, wie neue „Nummern“ auf der Probe von ihm erfunden wurden. „Einsam öffentlich arbeiten“, nannte Horst Hawemann das.
Er hatte immer einen Plan, wenn er in die Probe hineinging, aber der Plan war die Vorbereitung und die Probe das eigentliche Spiel – er improvisierte. Man sah, dass seine „Nummern“ lebten: Sie wurden im Kopf und auf der Probe geboren, manchmal aufgeschrieben, manchmal vergessen, sie kamen wieder, sahen anders aus, formten sich neu, schlossen sich zusammen, gruppierten sich anders, veränderten die Reihenfolge ihres Erscheinens – sie waren quicklebendig und führten, wie er manchmal schmunzelnd sagte, „ein irres Eigenleben“.
Er selbst aber trat zurück, er arbeitete uneitel, was seine eigene Persönlichkeit in diesem Prozess betraf. Er freute sich an dem, was die Studierenden entwickelten, er spielte mit, hatte seinen Spaß, den er nie zurückhielt. Er regte an, weckte die spielerischen Kräfte, die Erinnerungen, die Erfahrungen, klopfte leise aber nachdrücklich an die Schutzschilde der Studierenden, indem er ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen Regungen lenkte. Ihm war es wichtig, in den Studierenden ein Verantwortungsgefühl für den sorgsamen Umgang mit ihren eigenen Beobachtungen und Eindrücken zu entwickeln.
Er arbeitete mit den Studierenden nicht ohne Druck, aber spielerisch leicht, tänzelnd, schwebend, zart, er hielt nichts von Zerstörung und Neuaufbau. Er sensibilisierte ihre Beobachtung, auch die Selbstbeobachtung, aber nicht als Nabelschau und ohne psychologisierende Aufschreie – sondern im Kleinen. Manche „Nummern“ waren nur ein Wort, eine Geste, ein Blick.
Die scheinbare Endgültigkeit, die nun das Aufschreiben solcher Prozesse immer mit sich bringt, müssen die Anwender/innen, die Leser/innen selbst wieder auflösen. Einst sehr lebendig vorgetragene „Nummern“ sind jetzt Beispiele, sind Anregungen geworden, mit denen man umgehen kann, die man selbst in der Situation, in der sie angewendet werden, spielerisch leben, die man aufnehmen und verändern muss.
Aber ein guter Beobachter muss man schon sein. Die schönsten Übungen nützen nichts, wenn man nichts in den Menschen lesen kann. So ähnlich hat das Horst mal gesagt.
Hans-Jochen Menzel
Professor an der Hochschule für Schauspielkunst „Ernst Busch“,
Abteilung Puppenspielkunst
Ich setze mich nicht an den Schreibtisch und gebe mir den Auftrag, eine Nummer,1 Übung, Etüde oder Improvisationsaufgabe zu erfinden. Ich entdecke sie an normalen und weniger normalen Orten, bei Tätigkeiten, die gemacht werden müssen, die nichts weiter von mir fordern, als tätig zu sein.
Sie entstehen als Idee in Verkehrsmitteln und auf Wegen, die gegangen werden müssen. Beim Einkaufen fällt mir nichts ein, auch nicht beim Anprobieren von Hosen, was zum Glück selten bei mir vorkommt. Ich gehe auch nicht zum Beobachten von Menschen durch die Gegend.
Während meines Studiums wurde uns die Aufgabe gestellt, Bettler zu beobachten. Das ganze Studienjahr stellte sich vor einer Kirche auf, in der Nähe eines Almosensammlers, und starrte auf das Elend des Bettlers. Bei dem Bettler entwickelten sich Hoffnungen auf größere Einnahmen, aber bei uns war außer Beobachtung nichts weiter zu holen. Ich sah nichts, was mir in meiner künstlerischen Ausbildung wegweisende Erkenntnisse geliefert hätte, warf ein wenig Geld in seine Mütze und entfernte mich verkrampft. Ich hatte nur einen Gewinn bei der Geschichte, nämlich die Gewissheit, dass ich mich nie wieder zu einer „gezielten“ Beobachtung zum Zwecke einer künstlerischen Verarbeitung aufmachen würde.
Darin wurde ich bestätigt, als mir ein Schauspieler, der einen Esel spielen sollte, vorschlug, mit ihm den Zoo zu besuchen, um einen echten Esel zu studieren. Den Esel, den ich brauchte, den gab es in Wirklichkeit nicht.
Bevor ich mich heftiger Widerrede aussetze, will ich nicht ausschließen, dass man sich durch Hinsehen gewisse spezifische Informationen besorgen kann. Ich beobachte nicht – ich nehme auf. Ich sammle im Vorübergehen ein. Ich bemerke ein Interesse bei mir, eine besondere Aufmerksamkeit. Mit den Jahren entwickeln sich diese Fähigkeiten. Sie werden zu einem besonderen Blick, den ich nicht bewusst herstellen muss, er ist ein organischer Teil von mir. Ein guter Masseur sieht mit einem Blick im Vorübergehen einen verspannten Rücken, ohne dass er danach Ausschau gehalten hat. Anders als beim Inszenieren suche ich bei der Entwicklung einer Übung nicht nach einer Idee. Ich bin bereit für eine Idee. Einige Beispiele:
Ein alter Mann, nicht eben gut zu Fuß, sieht aus einiger Entfernung die rotierende Drehtür eines Warenhauses. Er rennt hastig eine längere Strecke, um in den offenen Teil der Tür zu gelangen. Er erreicht sein Ziel mit Müh und Not. Die nächste Öffnung kommt gewiss, aber er wollte diese davor. Das sah ich im Vorübergehen und hatte eine Idee. Ich suchte keine und ich brauchte keine, aber ich hatte die Idee zu einer Nummer über merkwürdige Gänge, erzählende Gänge, rätselhafte Gänge. Zum Beispiel: Es geht jemand auf der Stelle. Dieser Gang reicht ihm aus, um viel zu sehen. Er braucht den zurückgelegten Weg nicht.
Oder: Er geht auf der Stelle und ruft: „Ich komme! Ich komme!“.
Oder: Jemand rennt und wechselt ständig das Tempo. Vielleicht misst er sich mit anderen laufenden Menschen, Tieren oder Dingen? Vielleicht braucht er das Überholen, die kleinen Siege?
Es fällt mir zu der Idee die Geschichte von dem alten Schauspieler ein, der beim Gehen den rechten Fuß nach innen zog. Er hatte als Kind immer Milch vom Bauern in einer Milchkanne holen müssen. Weil ihm auf dem Weg langweilig war, schwang er die Kanne schwungvoll im Kreise herum. Damit sie ihm nicht an das rechte Bein schlug und die Milch dadurch verschüttet wurde, musste er es nach innen stellen. Daraus entstand ein Gang. Sah ich ihn über die Bühne gehen, dann sah ich manchmal eine kreisende Milchkanne.
Auf dem Weg in die Schauspielschule sah ich fast täglich einen Verkäufer der motz, der Obdachlosenzeitung. Er redete nicht und versteckte seinen Kopf hinter der Zeitung. Daraus entstand eine Nummer. Über die Jahre wurde ich mit ihm bekannt. Irgendwann zeigte er sein Gesicht und trug einen breitkrempigen „Künstlerhut“. Ich erfuhr, dass er mit der Sauferei aufgehört hatte. Ich habe ihn seit Monaten nicht mehr gesehen und mache mir Sorgen. Aber vielleicht ist er wieder in Spanien, wo er manchmal überwintert. Auf dem Weg zu den Schauspielstudenten komme ich immer wieder an dem Platz vorbei, wo mein motz-Verkäufer stand. Auch daraus entstand eine Nummer.
In der geöffneten Tür eines S-Bahnwagens „produzierten“ sich, körperlich und verbal, zwei junge Türken. Die Tür funktionierte als Bühne. Daraus wurde die Nummer „Minibühnen des Alltags“. Thema: Selbstdarstellung. Mit der Idee beschäftigt, hielt ich Ausschau nach weiteren Minibühnen. Ein junges Mädchen verwandelte ihren Sitzplatz in einen Darstellungsort. Sie saß nicht einfach da. Sie präsentierte sich der ganzen S-Bahn und keiner sah zu. Einer doch. Ich.
Ein gewöhnlicher Mensch steht vor einem Automaten und drückt Knöpfe. Er macht es nicht richtig, oder die Knöpfe machen, was sie wollen. Der Mensch hat Probleme, und die Herumstehenden machen ihm zusätzliche. Die Nummer könnte heißen „Ein Knopf verändert alles“ oder „Ein Knopf – dein Feind!“.
Ich gehe an Massen von Plakaten vorbei. Auch daraus müssten sich doch Dialoge machen lassen.
Ein eitler Mime trägt schon seit vielen Wochen in verschiedenen Jackentaschen, aber deutlich sichtbar, ein Taschenbuch mit sich herum. Titel in Großschrift: „Hölderlin“! Die Nummer, die daraus entsteht, beschäftigt sich mit dem erzählenden Objekt.
Ich sitze in der Badewanne. Eine Idee entsteht. Sicher sitzt zur gleichen Zeit jemand auf einem Pferd oder auf einer Parkbank. Was haben die drei gemeinsam?
Ich begegne immer häufiger den modischen Begriffen „Pferdeflüsterer“, „Hundeflüsterer“, „Vogelflüsterer“ und diversen anderen Flüsternden, sogar einem „Reifenflüsterer“ (ein mobiler Fahrradreparateur). Also ernenne ich vielleicht einige Spieler zu „Froschflüsterern“, „Fußballflüsterern“, „Haustür-, Manager-, Politikerflüsterern“ usw.
Ich lese zufällig in einer ausgelesenen Zeitschrift ein Zitat von Goethe: „Das Höchste, wozu der Mensch gelangen kann, ist das Erstaunen.“ Das ist doch eine szenische Beschäftigung wert. Vielleicht sollte ich zur Aufgabe machen:
Staune dich kaputt!
Wundere dich wund!
Staune dich klüger!
Oder einfach:
Finde in dir das Erstaunen!
Lass die anderen staunen!
Bestaune das Einfache!
Wirb für das Staunen in einer Gruppe von Ignoranten!
Wichtig:
Macht das Staunen glaubhaft. Verbindet es mit einer Anstrengung. Nur so wird es zu einer wirklichen Entdeckung!
Der Spielleiter muss für die Dinge, die er vorhat, werben. Er muss mit seinem Vorschlag oder mit dem Ansatz einer Idee den Spieler dazu bringen, dies ausprobieren zu wollen. Die Idealform: Nicht anders zu können, als spielen zu wollen. „Her mit der Nummer!“ Die Nummer erinnert unwillkürlich an Zirkus und hat einen gewissen Lustcharakter.
Es ist eine gewisse Lust dabei, eine Nummer zu machen. Was man auch immer darunter versteht. Eine Übung hat immer mit Arbeit zu tun, mit Training. Die „Nummer“ hat als Begriff in sich diesen gewissen Schwung. Man kann sie lustvoll benennen. „ABC-Nummer“ klingt anders als „ABC-Übung“. Und dann hat die Nummer in sich Anfang und Ende. Sie hat Eigentumscharakter. Eine Übung gehört dem Übungsleiter, die Nummer gehört dem Spieler. Es wird, es ist seine Nummer. Das Wichtigste ist dieser Lustmacheffekt. „Nummer“ ist ein Spielreizwort. Wie sagt man manchmal mit Bewunderung: „Mann, du bist ‘ne Nummer!“ Oder: „Wo hast du denn diese Nummer her?“
Beim Inszenieren ist das Aneinandersetzen von Nummern etwas anderes. Das ist hier nicht gemeint. Aber natürlich kann man etwas Wichtiges hervorheben, indem man aus einer bestimmten Stelle des Stückes eine Nummer macht. Sie ist tragbarer, sie ist mitnehmbarer, erinnerlicher. Wir kennen das beim Kindertheater, und nicht nur dort, dass nicht immer die Gesamtheit der Aufführung „mitgenommen“ wird. Der Zuschauer teilt sich das, was er sieht, auf in Nummern. Er trägt sie mit nach Hause, sie sind nachspielbar, sie sind nacherzählbar, und sie sind auch interessant für uns, weil sie zeigen, welches Detail der Inszenierung für den Zuschauer zu einer Nummer geworden ist.
„Nummer“ ist ein Spielbegriff. Man wird merken, ob man eine Nummer macht oder eine dieser endlosen Richtigkeitsübungen. Üben ist gut, aber bei den meisten Vorschlägen, die hier gemacht werden, handelt es sich um Nummern. Die Nummer ist ein gedanklich vorbereiteter Vorschlag. Sie muss, genau wie ein Stück, vom Spielleiter interpretiert werden, bevor er sie seinen Spielern vorschlägt. Seine Überzeugung, sein Engagement, seine Lust und seine Neugier geben die gedankliche Richtung der Interpretation vor. Er braucht sie zu seinem konkreten Zweck, und er interpretiert die Nummer, wie er sie im Moment empfindet und sieht. Also ist die Nummer nicht fertig ausgedacht, sondern angedacht. Sie muss offen sein, eine Einladung an die Spieler, ein Wegweiser für improvisatorische Entdeckung – keine Gebrauchsanweisung. Das heißt, der Spielleiter braucht einen Standpunkt, eine Zuneigung zu dieser Nummer und manchmal auch einen konkreten Anlass, sie benutzen zu wollen.
Wichtig ist: Alle Nummern, die hier beschrieben wurden, sind immer eine Interpretation von dem, der sie ausprobiert hat. Und interpretieren heißt: ausgehen von einer Vorlage, sie zu sich in eine Beziehung setzen, sich persönlich verhalten. Sonst erledigt man diese Nummern nur irgendwie, und das bringt gar nichts.
Die Interpretation hat etwas mit dem Wozu zu tun. Es gibt Nummern, die haben einen allgemeinen Charakter zum Kennenlernen der Truppe. Es gibt auch zielgerichtet thematisch orientierte Nummern oder die improvisierende Interpretation eines vorliegenden Textes.
Beispiel: Die Nummer
Benutze einen Gang, und als Ansatzidee: „Wie ich mutig wurde“. Mehr sage ich nicht zu dem Spieler. Da ist lediglich das Mittel „Gang“, also der Weg durch den Raum, und der Satz: „Wie ich mutig wurde“. Das Ziel ist benannt: Suche den Weg über den Gang. Das ist eine Geschichte, bei der man ganz wenig Fehler machen kann.
Das Ich ist wichtig. Nicht: „Mach mal das oder das“. Sondern: „Wie gehst du zu deinem Mut, wie machst du das, nicht ich?“ So ist die Interpretation gebunden an den Spieler.
In der Aufgabenstellung muss alles vermieden werden, was den Spieler aufhält oder ihm zu viel vorlegt, vorschreibt, ihn dirigiert. Bei „Wie ich mutig wurde“ gebe ich alles an den Spieler ab. Da habe ich keinen Einfluss mehr. Dieses Abgeben an den Spieler ist das Wichtigste in der Aufgabenstellung. Man sollte die „Verwirrung“, die man dem Spieler eventuell vermittelt, riskieren. Denn zu viel Erklärung, zu viel Aufklärung und zu viel genaues Bestimmen hemmt. Selbst wenn bei der Geschichte „Wie ich mutig wurde“ etwas herauskommt, das verwundert, selbst wenn ein Missverständnis entsteht – das Missverständnis ist ein wichtiges Mittel der Dramaturgie. Der Spieler soll das Wesentliche beim Spielen erfahren, nicht vorher und nicht hinterher. Es liegt im Wesen der Schauspielerei, dass der Schauspieler das Wichtigste und das Meiste beim Darstellen erfährt. Wenn er es durch Diskussion erfährt, ist er ein Dramaturg. Wenn er es über den Vorschlag oder die Anweisung erfährt, ist er ein Regisseur. Es soll, nach Ernst Barlach, immer ein Rest bleiben, der Rast zum Klären braucht.
„Hab ich nicht verstanden“, sagt ein Spieler. Versuche, dein Verstehen oder Nichtverstehen beim Machen zu zeigen. Das klärt nicht alles, aber mehr als man vorher wusste. Man kann Fragen stellen, man kann Fragen aber auch zeigen, darstellen. So ist es auch mit dem Ziel. „Wie ich mutig wurde“, klingt nach Ziel. Da ist eine Richtung vorgeschlagen, und von Richtungen wissen wir, dass man sie ändern kann. Die Richtung zu ändern ist nicht so schlimm. Viele Wege führen zum Ziel. Ich habe in meinem ganzen Leben diesen Begriff „Ziel verfehlt“ gehasst. Weil ich nie erfahren habe: Was hat der Verfehlende denn getroffen? Vielleicht hat er ja etwas Wichtigeres getroffen, ein besseres Ziel.
Der Satz „Wie ich mutig wurde“, vorgezeigt in einem Gang, birgt immer noch viele Möglichkeiten und Entscheidungen. Ich kann nach dem zweiten Schritt mutig werden, nach dem dritten Schritt, oder ich kann überhaupt nicht mutig werden. Bin ich eben unmutig geworden. Den Anfang einer Richtung vorzuschlagen, den Start, das ist wichtig.
Dazu eine Geschichte. Ich kann mich erinnern, bei einer Bezirksmeisterschaft waren nur drei Tausendmeterläufer anwesend. Ich war der dritte. Mir konnte ja nichts passieren. Eine Urkunde war mir sicher. Während die ersten beiden furchtbar kämpften, lief ich singend als Dritter durchs Ziel. Die Nummer könnte also heißen: „Wie ich Sieger wurde”. Man gab mir damals wegen mangelnden Ernstes keine Urkunde. Ich hatte das Ziel verfehlt.
Die Frage: „Was muss ich erreichen?“ sollte man vermeiden. Wie will ich Leute bewegen, interessieren, aufmerksam machen, wenn sie unbedingt etwas erreichen müssen? Besser: Man wirbt für etwas. Wirbt für die Idee. Die vorgeschlagene Idee braucht die schöpferische Neugier meiner Partner. Die vorgeschlagene Idee muss zu einer vorstellbaren Idee werden. Damit wird ein Vorschlag nicht bedient oder erfüllt oder geübt, sondern er tritt in die Vorstellung des Darstellers. Das macht beide neugierig. Den Spieler interessiert: Wie gehe ich mit dem Vorschlag um? Und den Spielleiter: Wie geht der Spieler mit meinem Vorschlag um? So nimmt die Idee erste Gestalt an. Sie breitet sich aus, führt sich auf.
Improvisation ist ein schöpferischer Umgang mit sich selbst, mit den Möglichkeiten, die man in einem bestimmten Moment hat oder dazu erfindet, um sich zu verständigen. Es ist nicht nur ein freier Umgang mit Dingen und Tatsachen, sondern ein befreiender Umgang. Das ist das Erregende an der Improvisation. Und Improvisation braucht Erregung, weil sie nur über eine Anregung der Sinne funktioniert. Improvisation ist die Erregung von Sinnlichkeit. Wobei sich Sinn entwickelt. An dem Sinn kann man weiterprobieren. Wenn Sinnlichkeit Sinn macht, ist das ein schöner Ansatz und hat Folgen. Umgekehrt geht es natürlich auch. Bei der Improvisation entdeckt man etwas, was man anschließend interpretieren kann. Wenn man an einem konkret vorhandenen Material arbeitet, interpretiert man erst und findet dann die Sinnlichkeit.
Improvisation ist als Methode natürlich auch bei Stückvorlagen möglich, wenn man merkt, dass eine Rolle etwas anregt, das der Schauspieler zu gern entwickeln möchte. Es reichen ihm die vorgegebenen Sätze nicht, und man sieht und spürt, dass er mehr will. Dann soll man ihm die Möglichkeit lassen, das rauszulassen. Man kann danach ja immer noch entscheiden, ob das im Stück bleibt. Man sollte es zulassen, und manchmal sollte man es auch lassen.
Improvisation ist eine Methode des Umgangs mit vorhandenen Resultaten, wobei man sich durch den freien Umgang des Improvisierenden mit nicht geordneten Teilen und Ansichten einem neuen Ergebnis annähert. Dabei sucht sich der Darsteller seinen sehr eigenen Weg und nutzt seine Mittel direkt zur Klärung der szenischen Umstände. Er versucht, einen angebotenen Freiraum eigenständig schöpferisch zu gestalten. Dabei schafft er eine neue Situation und klärt sie gleichzeitig durch die darstellerischen Mittel, die er benutzt. Improvisation ist also eine reine Darstellermethode, eine Schauspielerfähigkeit besonderer Art. Der Regisseur kann die Improvisation nur als Methode des Schauspielers nutzen. Er kann sie nicht abverlangen, wenn sie nicht als Fähigkeit vorhanden ist. Der Regisseur ist verantwortlich für den Ansatz der Improvisation, beobachtet die Durchführung und wertet diese nach ihrer Beendigung aus. Ein Eingriff in die Improvisation ist nicht möglich, denn sie nimmt der Improvisation den besonderen eigenständigen Charakter und stört ihren Ablauf, weil so die individuelle Auswahl der darstellerischen Mittel beeinflusst wird. Der schöpferische Freiraum wird durch Eingriffe verstellt. Der Darsteller bestimmt sich dann nicht mehr selbst. Er richtet sich auf die Unterbrechung ein. Ein organischer Ablauf ist nicht mehr möglich. Es entsteht so eine ganz normale Probensituation, die nur scheinbar improvisiert abläuft.
Die echte Improvisation hat immer Anfang und Ende und ist unteilbares Eigentum des Darstellers. Das ist auf der Probe ebenso wie in der Vorstellung. Für den Regisseur ist es von Bedeutung, über eine gewisse Zeit nicht im inszenatorischen Einsatz, sondern Betrachter eines darstellerischen Versuches zu sein. Er wird also auch Zuschauer auf Zeit und Zeuge einer von ihm nicht beeinflussten Darstellung sein können. Wobei er nicht nur in die Lage des Überprüfens seiner bisherigen Arbeit kommt, sondern in den angebotenen Mitteln auch persönliche darstellerische Entscheidungen und individuelle Betonungen und Wertungen erfahren wird. Die Improvisation ist eine der wenigen Möglichkeiten des Regisseurs, Zuschauer einer gemeinsamen Arbeit zu sein. Diese Zuschauhaltung sollte er für den Darsteller auch deutlich machen. Die Improvisation ist für den Schauspieler eine Form der Selbstinszenierung in einem Arbeitsprozess, die Übernahme von künstlerischer Verantwortung, die Sichtbarmachung von Übereinstimmung und Gegensätzlichkeit – also der Versuch sinnlicher Verständigung.
In der Improvisation kann der Schauspieler die Führung des schöpferischen Prozesses übernehmen. Die Bedingung bleibt dabei, dass der Freiraum für Selbständigkeit gesichert ist, denn nur so ist wirkliche Improvisation möglich. Alles andere sind taktische Scheinmanöver.
Die Improvisation ist eine schauspielerische Technik, besser eine darstellerische Technik. Sie ist aber nicht technisch zu machen. So wie ich sie verstehe, soll sich die Improvisation als Gestaltungsform, als künstlerische Form auf der Bühne, als der personengebundene künstlerische Anteil des Darstellers an der Aufführung wiederfinden und nicht als Methode in den Proben verschwinden. Dass sie sich in die gemeinsame Absicht der Inszenierung stellt, bedarf der Verabredung.
Das bewegende Moment der Improvisation ist ihr Thema. Das Thema, das sind durch darstellerische Mittel transportierte Gedanken. Es zeigt sich in inhaltlicher Beunruhigung. Am Thema entsteht der Wille zur Darstellung, das Temperament als Form des Engagements und das Ziel der Improvisation. Das Thema steht als mittelbewirkendes Moment im Freiraum der Improvisation.
Dieses Thema kommt als Vorschlag daher. Es muss unter den Beteiligten so verabredet werden, dass der Darsteller es für sich selbst als unbedingt darstellungsnotwendig begreift. Für den Regisseur muss es so gewählt sein, dass er voller Erwartung die Durchführung beobachtet. Zwischen beiden muss eine Interessengleichheit bestehen, also wirkliche Partnerschaft, also Vertrauen. Die Improvisation lebt von der Bestätigung, auch von der kritischen, bitte schön.
Ohne ein starkes, bewegendes Thema ist die Forderung nach Selbstdarstellung nicht zu stellen. Der Regisseur wirbt den Darsteller für sein Thema. Darin besteht seine Vorleistung. Er wirbt ihn durch sein mächtiges Interesse. Er wirbt um den Partner, der allein in der Lage ist, ihm dieses Thema sinnlich vorzustellen. Er will es unbedingt sehen. So sehen, dass er es wiedererkennt, aber gleichzeitig überrascht, erstaunt ist über das Besondere in der Durchführung. So wird die Improvisation für den Zuschauer vorbereitet, dem das Thema auch bekannt ist.
In der Improvisation kommt der Zuschauer auf die Probe. Der Darsteller braucht, wenn auch nur vertreten durch den Regisseur, den Zuschauer auf der Probe. Die Improvisation ist eine Voraufführung des Themas durch den Schauspieler. Sie ist allein durch das Thema begrenzt, nicht durch das Podest, auf dem sie stattfindet. Sie findet auch nur zum Zeitpunkt des Zeigens statt, merkbar für jedermann und durchsichtig. Der Zuschauer muss wissen, dass er bei der Entstehung dabei ist und nicht bei der Wiederholung. Er wird auf sehr schöne Weise mit dem Darsteller bekannt durch das Gefühl, dass das, was da gerade entsteht, für ihn entstehen wird. Künstlerische Arbeit wird im Prozess, nicht im abgenommenen und vorher für richtig befundenen Resultat vorgezeigt. Das macht Darstellende und Zuschauende einander ähnlich, weil nicht Perfektion zum Bestaunen einlädt, sondern weil man sich an der Suche beteiligt fühlt und durch die eigenen Reaktionen auch Einfluss hat. Die Anfertigung des Themas geschieht in einer Werkstatt. Es entsteht Eigentumsrecht am Thema und eine Langzeitwirkung, weil man die Wege verfolgen konnte, die begangen wurden. So wird das Thema nicht zu den Akten gelegt, sondern in reicher Vielfalt an die Wirklichkeit zurückgegeben.
Improvisation ist nicht eine Form der Suche nach dem Mittel, sondern der Umgang mit den Mitteln, bestimmt und gelenkt durch das vereinbarte Thema, das in seiner Wirkung durch das engagierte jeweilige Temperament unterstützt wird. Das ist keine forsche Definition, sondern nur der Versuch einer Abgrenzung. Improvisiert wird nicht mit dem Wenigen, das man hat, sondern mit dem Mehr, das man loswerden will. Improvisation ist eine geschlossene künstlerische Aufgabe, die für den Zuschauer bestimmt ist, ihn mitwirken lässt.
Die Bestimmung des Freiraums für die Improvisation ist problematisch. Man verwechselt sie häufig mit dem zufälligen Extempore, dem Witz, dem Gag und ruft nach Disziplinierung, nach Ordnung, nach der genauen Wiederherstellung des einmal Gesehenen und Begutachteten. Die Improvisation kennt die Ordnung und die Disziplin durch das Thema. Da begrenzt sie sich und macht sie kontrollierbar. Doch hat das Thema in seinen Variationen, die durch die Mittel gezeigt werden, natürlich unterschiedliche Wertungen, Spielarten.
Alles was der Schauspieler einmal ausprobieren kann – ob er es später nun zeigt oder nicht – bleibt ihm. Umwege sind ein persönlicher Zugang. Sie öffnen Türen. Wenn der Spieler also zum Beispiel um Tschechow herum sehr viel Eigenes gemacht hat und dann wieder bei Tschechow ankommt und froh ist, dass er da angekommen ist, dann sind alle diese Umwege in ihm. Und wenn der Zuschauer es auch nie sieht, er wird es spüren. Das ist vielleicht der für die Praxis wichtigste Moment. Ein Schauspieler, der auf der Bühne hundert Prozent spielt, so dass ich die hundert Prozent erkenne, ist für mich nicht besonders interessant. Wenn ich aber merke, er hat dreißig Prozent Geheimnis, ist das anders. Und es ehrt den Schauspieler, wenn er weiß: Dreißig Prozent sind das Geheimnis von mir und der Regie. Wir öffnen uns vor euch, aber wir entblößen uns nicht. Dazu ist der Umweg wichtig.
Die angewandte Improvisation ist eine Methode, eine Arbeitsweise, die meistens dann wichtig wird, wenn ich an einer Materialvorlage, an einem Stück arbeite. Das heißt es ist nicht falsch, wenn man das angewandte Improvisieren auch „Ausprobieren“ nennt. Aber was ist wirkliches Ausprobieren? Es ist die Freiheit, nicht nur nach dem augenblicklichen Nutzen zu gucken. Man probiert zu dem, was vorgeschlagen ist, noch mehr „Welt“ aus. Man setzt sich in Beziehung zur Welt. Man kann fragen: Wie viel „Welt“ ist da drin? Wie viel Anteil von „Welt“, vorgestellt von Personen, die auch von dieser „Welt“ sind? Angewandte Improvisation heißt also: Man wendet die Welt an. Das, was man darin findet, kann man ausgewählt anwenden für die konkrete Arbeit.
Beispiel: Angewandte Improvisation
Ein Student von mir probiert mit zehn alten Menschen Psalme aus der Bibel. Er möchte gern, dass sie chorisch gesprochen werden. Und er schlägt dazu große chorische Gesten vor. Nun bemühen sich diese alten Leute, diese vorgeschlagenen Gesten umzusetzen: arthritisch, rheumatisch und auch sonst behindert. Da kommt Welt rein. Und dieser junge Mensch – Gott sei Dank – übt nicht mit den Alten, dass sie die Gestik so nachahmen, wie er sie machen kann. Sie haben einen Vorschlag und von sich aus, so wie sie sind, wie sie es verstehen und wie sie es können, führen sie ihre Geste aus. Da ist wieder das Erzählende. Die Hurra-Hände-hoch-Haltung ist mit achtzig der Versuch, das Bemühen um ein Hurra, ein begrenztes Hurra. Es ist eine Übersetzung in die Individualität. Und dann erzählen die Leute zwischen den Psalmen Lebensgeschichten. Und sie sehen so aus wie ihre chorischen Gesten: In ihnen zeigt sich ihr alltägliches Leben, ihr Alter. Das hat der junge Spielleiter alles so nicht geplant, aber er hat es so auf der Probe begriffen.
Das waren nicht geplante Improvisationen. Sie entstanden bei konkreten Menschen als persönliche Leistung, entwickelt aus einem Vorschlag der Regie. Je höher der Anteil des Persönlichen ist, umso näher ist man der Improvisation. Manchmal muss man dazu auffordern, manchmal passiert es. Und wenn es passiert, hat sich der Spieler an dem Vorschlag beteiligt.
Es kann sein, dass einer überhaupt nicht in der Lage ist, einen Vorschlag anzunehmen. Ist da noch Improvisation möglich? Was passiert, wenn es überhaupt nicht geht? Das ist eine praktische und ganz wichtige Frage. Wenn in Proben scheinbar überhaupt nichts geht, sollte man einen Umweg machen, also schöpferisch anders ansetzen. Der Regisseur kann im Moment eines Ideen-Stopps über den improvisierenden, ich nenne es den „improvisativen“ Umweg wieder zu einem Ansatz kommen. Sonst tritt man nur auf dem Stopp herum, und dann wird es noch „stoppiger“. Und wenn da möglicherweise etwas herauskommt, was man nicht braucht, muss man das dennoch als eine schöpferische Entdeckung sehen.
Nach Proben gibt es manchmal so einen Jammerzustand: Heute haben wir alles falsch gemacht. Ein Improvisierer sagt dann: „Hurra! Was soll uns denn noch passieren? Wir können es jetzt nur noch richtig machen!“ Oder es sagt jemand: „Versteh ich nicht.“ Meistens beginnt dann das massenhafte gegenseitige Erklären. Wenn man es schafft, daraus eine Umweg-Improvisation zu machen – zeig mal, wie du nicht verstehst – erlebt man oft Wunder.
Zum Wesen des Spiels im Theater gehört auch, dass man durch eine Umweg-Improvisation weiterkommen kann.
Es gibt als Übungsform natürlich auch Etüden (aus dem Französischen übersetzt: „Übungen“). Etüden sind in meinem Verständnis verdichtete Formen, die sich nach den Strukturen des Dramas richten. Sie sind wichtig für die Beobachtung, sie schulen das Erzählende und das Gefühl für Entwicklungen. Man kann spielend dramaturgische Erfahrungen machen.
Eine gute Etüde hat einen gewissen Erzählwert: einen Anfang, eine Entwicklung, Kollisionen, Konflikte und eine Lösung. Sie erzählt eine Geschichte, und diese Geschichte führt mich zur Gestaltung. Die Etüde ist jahrelang im Schauspielunterricht diffamiert worden. Sie wurde da allerdings mit dem braven Nachspielen einer ganz konkreten Aufgabe verwechselt, die oft als Beengung empfunden wird, weil sie zu sehr unter der Kontrolle des Spielleiters steht.
Beispiel: Etüde
Eine Handtasche liegt auf einer Parkbank. Der Darsteller soll etwas mit der auf einer Parkbank liegenden Tasche machen. Er soll eine Improvisation machen. Was macht der Darsteller? Er klaut die Tasche. Dabei schaut er sich gewiss viele Male um, wittert, schleicht, pfeift, zeigt sehr viel Vorsicht und vielleicht gelingt ihm auch noch ein kleiner Witz. Eine Improvisation? Nein, bestenfalls eine Etüde, aber eher wohl doch eine Übung. Den Schauspieler zieht weiter nichts auf die Bühne als etwas Erfahrung, vielleicht Beobachtung, zumeist aber nur Schablone. Er versucht erst einmal, sich überhaupt verständlich zu machen. Er versucht zu handeln, einen Vorgang zusammenzustellen. Dass er das ohne Anweisung tut, ist die Erschwerniszulage. Was dabei herauskommt, ist ein Test am Schauspieler, eine Überprüfung seiner Anlagen. Sicher nötig für einen pädagogischen Prozess, aber weit entfernt von Improvisation, weil das Thema fehlt.
Die etüdische Methode ist nicht so sehr das Üben einer Situation, die ein Stück vorschlägt, sondern das persönliche Erwerben dieser Situation. Sie ist angewandtes Improvisieren.
Eine Etüde ist der Umweg über sich selbst, um mit sich selbst dorthin zu kommen, wo ein anderer schon war oder ist. Dieser Umweg ist wichtig, um den persönlichen Anteil des Spielers am Geschehen zu erhöhen. So macht man sich Stücksituationen zugänglich, nähert sich Menschen und Problemen, die einem fremd sind. Man macht mit den eigenen Empfindungen einen Umweg zu den Gefühlen einer Figur. So macht man Bekanntschaften, so entdeckt man Unterschiede.
Wenn man, wie ich, die Probe für die Kunst hält, dann ist die Improvisation eine sehr kunstvolle Methode dafür, weil sie fast immer ein Ereignis für den Spieler ist, während Ausführung und Befolgung nicht immer ein Ereignis für den Spieler sind.
Es gibt eine berühmte anekdotische Geschichte von Erich Ponto zu einer angewandten Improvisation. Er spielte im Biberpelz einen Amtsdiener, Mitteldorf heißt der, glaube ich. Der Darsteller des Wehrhahn hatte riesige preußische Textarien und spielte sich damit so massiv in den Vordergrund, dass er Ponto seine einzige große Szene kaputt machte. Da ist Ponto zu einem Dresdner Marzipanbäcker gegangen und hat sich eine Kerze aus Marzipan anfertigen lassen. Bei der nächsten Aufführung, als Wehrhahn die ganze Bühne abdeckte, hat er in Ruhe im Hintergrund die Marzipankerze aufgegessen.
Was erzählt das? Es ist ein berühmter Theaterspaß. Aber es ist vor allem eine angewandte Improvisation zum Zwecke der Erringung von Aufmerksamkeit. Da verteidigt ein Schauspieler seine Rolle mit einfachen Mitteln, da macht eine Rolle Politik. Da gewinnt ein Stück Marzipan gegen gewaltiges Reden.
Und nach der Improvisation? Eine Auswertung? Nein, Improvisationen lassen sich besprechen, man kann sich über die Eindrücke austauschen – aber man kann sie nicht auswerten. Zuerst, vor der Bewertung, sollte man als Zuschauer seinen eigenen Eindruck mitteilen:
Ich empfinde etwas … das versuche ich zu sagen …
Ich ahne etwas … darüber kann man reden …
Ich erkenne etwas … das beunruhigt …
Ich bin neugierig … war überrascht …
Ich war gespannt … ich war beteiligt …
Ich assoziiere … dazu fällt mir ein …
Wenn man dem Spieler als erste Eindrücke sagt, was man empfunden hat, was man geahnt hat, was man auch ein bisschen gehofft hat, wo es noch hingeht, was einen dabei interessiert hat, was man assoziiert hat, was einen neugierig gemacht hat, worüber man erstaunt und verwundert war, wenn man das dem Spieler mitteilt, dann setzt beim Spieler ein Erstaunen ein, und er hat Lust, daran weiterzuarbeiten, zu wiederholen, und er empfindet sein Tun als eine Leistung.
Das Danach ist wie ein Umdrehen nach dem, was man gemacht hat. Ich habe etwas gemacht, drehe mich um, begucke mir das Getane und staune, wo ich gelandet bin. Staune darüber, was andere beeindruckt hat. Ich bin neugierig auf mich geworden und mache die Nummer gern noch einmal mit mir.
Interpretieren heißt: sprachlich oder darstellend, sachlich oder künstlerisch einen Text auslegen, ihn deuten und für sich klären.
Die Interpretation macht weitsichtiger, weil sie über den eigenen Horizont sieht, den Erfahrungsbestand erweitert, in Gebiete vordringt, in denen ich mich noch nicht aufgehalten habe, mich mit Ideen, Problemen und Konflikten beschäftigt, die ich mir nicht selber vorgeschlagen habe. Ich beteilige mich am Denken und Empfinden anderer.
Oder bildlich gesagt: Ich angle nicht im eigenen Aquarium, sondern im Weltmeer der Erkenntnis. Ich tauche in die Tiefe und poliere nicht nur Oberflächen. Ich gehe fremd und mache neue Bekanntschaften. Ich werde bewegt und erfinde, im Versuch, zu interpretieren, schöne Sätze, die ich davor noch nicht kannte.
Während ich in der Improvisation solistisch handle – ich schöpfe aus dem eigenen Brunnen, aus dem, was da drin ist oder hineingeworfen wurde – so steht vor der Interpretation immer schon etwas Vorgegebenes, die Idee oder das Werk eines anderen. An einer Interpretation sind also, in der idealen Form, immer ein Autor (nicht immer ein Dichter, auch eine interessante Aufgabenstellung besitzt eine Autorschaft), die Aufführenden (Regisseur, Spielende) und die Gestaltenden (Dramaturgen, Bühnenbildner, Musiker u. a.) beteiligt. Eine Gruppe von Menschen mit sehr verschiedenen Fähigkeiten tritt also in eine schöpferische Beziehung zu einer gemeinsamen Sache. Da die Beziehungen von verschiedenen Menschen kommen, individuell geprägt sind, erhält die Interpretation mehr Tiefe. Sie entfernt sich von der Oberfläche und von einer besserwisserischen, alleingültigen, einseitigen Betrachtung. Je mehr Anteile verschiedener Menschen sich in einer Interpretation wiederfinden, umso näher kommt man den Zuschauern. (Gemeint sind nicht unterschiedliche Auffassungen, die gehören in einen Probenprozess!)
Durch Interpretation bereichert sich der Mensch. Sein Denken und Fühlen erweitert sich. Wissen vermehrt sich. Er ist mehr Entdecker als Erfinder. Er wird sich Fragen stellen, und die Antworten werden oft nicht ohne Anstrengung und Mühe zu finden sein, aber der Gewinn wird mehr Einsicht sein, mehr Verständnis und ein weites Feld für Gestaltung eröffnen.
Wenn der Dirigent eine Mahler-Sinfonie wie eine von Penderecki interpretiert, wird ihn niemand für einen guten Dirigenten halten. Zum Glück ist das auch gar nicht möglich.
Im Theater sieht das anders aus. Da wird eine einmal gefundene Stilistik, mit der man Wirkung eingesammelt hat, wiederholt anderen Stücken übergestülpt. Aber wer will sich ständig wiederholen oder Wiederholtes wieder sehen? Die Interpretation bewahrt davor.
Wenn es die endgültige, perfekte und alles beantwortende Interpretation von Shakespeares „Hamlet“ oder Goethes „Faust“ schon gäbe, wer würde sie noch zur Aufführung bringen wollen?
Eine Interpretation ist eine Annäherung. Sie nutzt, was ich schon weiß und was ich mir noch besorgen muss. Ich latsche nicht mit mir auf eingelaufenen Wegen, die mich bisher immer erfolgreich ans Ziel brachten, sondern lasse mir andere Wege zeigen. So lerne ich mehr Land und Leute kennen.
Beispiel: Interpretation
Die Darstellerin der Viola in Shakespeares Was ihr wollt benennt ihr Problem:
„Wie spielt man einen Mann?“
Wir stellen die Frage anders:
„Wie versteckst, verheimlichst du als Frau, dass du eine Frau bist?“
Die Schauspielerin war interessiert!
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