Usch Luhn
Mit Illustrationen
von Franziska Harvey
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag
in der Verlagsgruppe Random House
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1. Auflage 2013
© 2013 cbj, München,
in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Str. 28, 81673 München.
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagbild und Innenillustrationen: Franziska Harvey
Umschlaggestaltung: schwecke.mueller Werbeagentur GmbH, München
cl ∙ Herstellung: UK / LJ
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
Reproduktion: Reproline mediateam, München
ISBN 978-3-641-10916-5
V002
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Das erste Kapitel
beginnt mitten in der Nacht beweist, dass der Burgherr ganz schön plemplem ist
lässt Nele siebenmal laut niesen
und zeigt, dass Henry ziemlich nett ist
Gib Küsschen!
Es war mitten in der Nacht auf Burg Kuckuckstein. Nele lag eingekuschelt in ihrem Bett und schlief tief und fest.
»Gib Küsschen! Gib Küsschen! Henry, gib Küsschen!«, kreischte eine Stimme hoch oben auf dem Turm.
Nele schnellte aus ihrem Kissen hoch und guckte sich verwirrt um. Es war noch stockdunkel. Nur eine dünne Sichel Mond spendete fahles Licht. Barfuß taperte Nele zum Fenster und guckte hinaus. Nele entdeckte ihren Papa direkt gegenüber. Er steckte seinen zerzausten Haarschopf aus dem Schlafzimmerfenster und schaute in den Himmel.
»Gib Küsschen, Henry!«, krähte die Stimme unbeirrt weiter.
»Halt den Schnabel, du alberner Vogel!«, rief Herr Winter. »Nette Papageien schlafen um diese Zeit.« Er verzog sich brummend zurück ins Bett.
Seit einiger Zeit wohnte Nele Winter mit ihrer ganzen Familie auf Burg Kuckuckstein. Die Burg selber gehörte allerdings einem sehr eigenwilligen Papagei. Dieser hieß nicht nur Plemplem, er war es auch. Jedenfalls ab und zu. Und besonders heute Nacht.
»Henry! Gib Küsschen. Henry, gib Küsschen!«, schrie der Burgherr weiter. Das war ganz typisch für Plemplem. Wenn er sich etwas in sein Köpfchen gesetzt hatte, ließ er nicht so schnell locker.
»Manno!«, stöhnte Nele und hielt sich die Ohren zu. »Der Junge hat einen so tiefen Schlaf wie zehn Murmeltiere.«
Der Junge war Henry.
Henry kam aus Schottland, war ein richtiger Lord und das Patenkind von Neles Großtante Adelheid. Die wiederum hatte den Papagei von Baronin Kuckuckstein geerbt und lebte mit ihrem Mann Edward auch in der Burg. Ganz schön verwirrend, oder?
Henry war seit einer Weile bei den Winters zu Besuch und ging sogar mit Nele in die Schule. Seit Henry seine schicken Lackschuhe in die Burg gesetzt hatte, war der Papagei völlig aus dem Häuschen. So toll fand er den kleinen Lord! Dabei war Plemplem normalerweise der totale Muffel. Wenn er sehr schlecht gelaunt war, spuckte er seine Körner sogar in Neles Müsli.
Bei Henry machte er solchen Unsinn nie. Er saß rund um die Uhr auf seiner Schulter, strich liebevoll seinen Schnabel über Henrys Wange, flötete »Alle meine Entlein« in sein Ohr und fütterte ihn sogar mit seinen heiß geliebten kandierten Walnüssen. Dass er allerdings mitten in der Nacht »Henry, gib Küsschen« kreischte, ging eindeutig zu weit, fand Nele.
Deshalb zog sie sich einen Pullover über ihren Schlafanzug, schlüpfte in ihre Pantoffeln, schnappte sich ihre Taschenlampe und stiefelte los. Beim Hinausgehen warf sie noch einen schnellen Blick in Sammys Körbchen. Auch er war nicht aufgewacht. Bestimmt träumte er, dass er die Mäuse in der Burg ganz mutig herumjagte, denn er knurrte leise im Schlaf.
»Ein schöner Wachhund bist du«, sagte Nele. »Du hörst nicht mal Plemplem.« Sie kraulte liebevoll sein Ohr.
Der Weg bis oben in den Turm zu Henrys Zimmer war ziemlich unheimlich. Leider waren die Batterien ihrer Taschenlampe fast leer, sodass sie sich nur langsam vortasten konnte. Keine der steinernen Stufen war gleich groß und so kam man schnell ins Stolpern.
Auch wenn Nele nicht an Gespenster glaubte – eine winzige Möglichkeit, dass das hauseigene Burggespenst, der alte Graf Kuckuck, plötzlich hinter einer Ritterrüstung hervorsprang, gab es bestimmt. Schließlich war die Burg uralt. Im Keller gab es sogar richtige Verliese. Neles Schuldirektor Herr Zucker hatte ein armdickes Buch über den Burggeist geschrieben und war ganz wild darauf, dass der Geist endlich mal auftauchte. Heute Nacht aber nicht, hoffte Nele. Das Gekrächze von Plemplem vertrieb sicher auch hartgesottene Gespenster.
»Henry, gib Küsschen!«, legte der Papagei nach einer Atempause gerade wieder los.
Nele musste plötzlich kichern. »Graf Kuckuck, gib Küsschen!«, blödelte sie.
Im selben Augenblick gab ihre Taschenlampe endgültig den Geist auf. Nele stand im Dunkeln. Etwas Kaltes berührte ihr Gesicht.
»Ihhh«, schrie Nele. Ihr Herz klopfte wie verrückt. Sie ließ die nutzlose Lampe auf die Stufen fallen und spurtete los. In der Hektik stolperte sie und kippte vornüber. Irgendetwas Spitzes bohrte sich schmerzhaft in ihr Knie. »Aua!«, jaulte sie auf. Auf allen vieren krabbelte sie weiter, bis sie einen schmalen Lichtstreifen sah. Das Licht musste aus Henrys Zimmer kommen. War der Junge doch wach?
Kalter Staub krabbelte ihr in die Nase. Sie wischte sich über das Gesicht und merkte, dass es voller Spinnweben war.
»Hatschi! Hatschi! Hatschi! …« nieste Nele genau sieben Mal.
Die schwere Holztür öffnete sich in Zeitlupentempo und Henry lugte heraus.
»Nele?«, sagte er und betrachtete sie erstaunt. »Suchst du da unten etwas?«
Dumme Frage, dachte Nele und richtete sich auf. »Mitten in der Nacht?«, antwortete sie mit einer Gegenfrage. »Für wie doof hältst du mich denn?«
Henry zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung«, sagte er ratlos.
Nele schüttelte ärgerlich den Kopf. »Dreimal darfst du raten, was los ist. Ich konnte nicht schlafen, weil Plemplem wie verrückt nach dir ruft. Sogar Papa ist davon aufgewacht. Hör doch mal!«
Sie lauschten beide.
Totenstille.
»Tut mir leid. Aber ich höre gar nichts«, sagte Henry wahrheitsgemäß.
Jetzt wurde Nele wirklich ein bisschen sehr wütend. »Ach. Und das soll ich dir glauben.«
Henry antwortete nicht, sondern guckte interessiert auf Neles Fuß. Auf ihrem großen Zeh saß eine ziemlich fette Spinne.
Nele war wirklich ein unerschrockenes Mädchen. Und wenn sie wütend war, ganz besonders. Deshalb dachte sie gar nicht daran, pfui Spinne zu schreien. Ungeduldig schüttelte sie die Spinne ab. »Geh spielen!«, befahl sie streng. Die Spinne flüchtete eilig in das nächste Mauseloch.
Henry sah Nele bewundernd an. »Ich hasse Spinnen«, gestand er. »Du bist echt mutig.«
Nele war gerade nicht in der Stimmung für Nettigkeiten. Deshalb antwortete sie nicht auf Henrys Lob, auch wenn sie sich heimlich darüber freute. »Also. Warum bist du wach?«, bohrte sie weiter.
»Na, ist das so schwer zu erraten? Weil du so schrecklich geniest hast«, sagte Henry. »Damit vertreibst du jeden noch so schlimmen Geist.«
Mit Geistern kannte Henry sich aus. Schließlich war das schottische Schloss, auf dem er geboren war, noch fast tausend Jahre älter als Burg Kuckuckstein.
Nele kicherte. »Das will ich hoffen. Auf einen Zusammenstoß mit diesem Graf Kuckuck habe ich keine große Lust.«
Henry nickte. »Das kann ich verstehen. Der Typ ist auch wirklich nicht ohne.«
Nele grinste Henry überlegen an. »Ach was. Und woher willst du das so genau wissen? War der schon bei euch in Schottland auf Urlaub oder was?« Sie fand sich total witzig.
Henry runzelte die Stirn. »Nein. Ich habe etwas über ihn in der Geisterchronik gefunden, die mein Vater mir vor ein paar Tagen geschickt hat.«
Nele schüttelte heftig den Kopf. »Geister gibt es nur in unserer Fantasie, das sagt mein Papa. Und der weiß einfach alles. Aber hast du vielleicht noch ein klitzekleines Stückchen von der leckeren Schokoladentorte, die auch in dem Paket aus Schottland drin war?« Sie sah ihn mit dem Sammy-Hundeblick an, mit dem sich der Vierbeiner immer noch ein Stück Leckerli erbettelte. Der Blick funktionierte auch bei Henry.
»Na klar«, sagte Henry. »Komm, wir machen es uns auf dem Bett gemütlich.« Er musterte Nele kritisch. »Allerdings nur, wenn du dir vorher die Spinnweben abwischst.«
Die Schokotorte von Henrys Vater schmeckte genial. »Ich glaube, mir wird gleich sehr, sehr schlecht«, stöhnte Nele und streckte sich auf Henrys Bett aus.
»Aber es ist mir egal. Eigentlich musst du mir jetzt noch was Gruseliges über Geister vorlesen, dann ist es die perfekte Mitternachtsparty«, sagte sie.
»Ja gerne«, antwortete Henry eifrig. »Ich erzähle dir, was über Graf Kuckuck und seine Schatztruhe in meinem Buch steht.« Er sprang auf und zerrte ein dickes Buch mit aufgemalten goldenen Buchstaben unter seinem Bett hervor.
»Schatztruhe?«, rief Nele. »Das ist cool. Geister finde ich doof, aber gegen einen richtig tollen Schatz habe ich ganz und gar nichts!«