Robert Ludlums Romane wurden in über dreißig Sprachen übersetzt und er gilt als »größter Thrillerautor aller Zeiten« (The New Yorker). Im Heyne Verlag erschien zuletzt „Der Tristan-Betrug“. Robert Ludlum verstarb im März 2001 in seiner Heimatstadt Maples, Florida. Die Romane aus seinem Nachlass erscheinen bei Heyne.
Die schlanke Frau mit der braunen Igelfrisur lag ausgestreckt und völlig reglos auf dem Kirchendach, Sandsäcke dienten als Auflage für ihr Scharfschützengewehr. Die Schatten des Kirchturms schützten sie vor jeglicher Sicht. Wenn sie das nicht an das Zielfernrohr gepresste Auge öffnete, schien ihr die Stadtsilhouette von Dubrovnik seltsam flach zu sein, rote Ziegeldächer, die sich wie Fayencen vor ihr ausbreiteten, wie Scherben alter Töpferkunst. Unter dem Glockenturm, der die letzten paar Stunden ihr Standort gewesen war, dehnte sich ein Meer von Gesichtern über mehrere hundert Meter bis zu der Bretterplattform, die man im Zentrum der Altstadt von Dubrovnik errichtet hatte.
Es waren die Gläubigen, die Getreuen. Ihnen allen war klar, dass der Papst ein Zeichen damit setzen wollte, dass er seine Besuchsreise nach Kroatien in einer Stadt begann, die zu einem Symbol für das Leid der Menschen in diesem Lande geworden war. Obwohl mehr als ein Jahrzehnt verstrichen war, seit die jugoslawische Armee die Hafenstadt an der Adria belagert hatte, brannte die Erinnerung an die Gräuel jener Zeit noch im Gedächtnis der Bürger der Stadt.
Viele von ihnen hatten sich briefmarkengroße eingeschweißte Fotos des geliebten Papstes angesteckt. Dies war nicht nur ein Mann, von dem alle wussten, dass er bereit war, seine Stimme auch gegen die Mächtigen zu erheben, nein, da war auch die unverkennbare Ausstrahlung, die ihn umgab – Charisma, ja, aber noch mehr, echtes Mitgefühl für das Leid der Menschen. Es war typisch für ihn, dass er sich nicht nur aus der sicheren Geborgenheit des Vatikans gegen Gewalt und Terrorismus aussprach: Dieser Mann trug seine Friedensbotschaft mitten ins Herz des Konflikts hinein.
Inzwischen hatte es sich bereits herumgesprochen, dass der Papst beabsichtigte, ein Thema der Geschichte aufzugreifen, das die meisten Kroaten lieber vergessen wollten. In dem uralten Konflikt zwischen Katholiken und Orthodoxen gab es auf beiden Seiten reichlich Anlass für Reue und Zerknirschung. Und für den Vatikan und Kroatien war es Zeit geworden, glaubte der Papst, sich mit dem brutalen faschistischen Erbe des Ustascha-Regimes im Zweiten Weltkrieg auseinander zu setzen.
Obwohl zu erwarten war, dass die Führung Kroatiens und ein Großteil seiner Bürger damit nicht einverstanden sein würden, hatte sein persönlicher Mut, wie es schien, die Hingabe der Scharen von Bewunderer hier nur noch gesteigert. Und außerdem hatte es – Jansons Kontaktleute in der Hauptstadt Zagreb hatten seinen Verdacht erst in jüngster Zeit bestätigt – ein sorgfältig organisiertes Mordkomplott gegeben. Eine verbitterte Sezessionistenbewegung der in Minderheit befindlichen Serben wollte Rache für das ihnen zugefügte historische Unrecht nehmen, indem sie den Mann ermordeten, den diese überwiegend katholische Nation mehr als alle anderen verehrte. Eine Gruppe extremer kroatischer Nationalisten unterstützte sie: Sie fürchteten die reformerischen Tendenzen des Papstes und suchten nach einer Chance, die verräterischen Minderheiten auszurotten, die sich in ihrer Mitte eingenistet hatten. Nach einer so gewaltigen Provokation – und man konnte sich keine größere Provokation als den Mord an einem von allen geliebten Papst vorstellen – würde sich ihnen niemand mehr in den Weg stellen. Selbst ganz gewöhnliche Bürger würden zu einer blutigen Reinigung Kroatiens bereit sein.
Wie alle Extremisten waren sie natürlich nicht imstande, sich über die unmittelbare Verwirklichung ihrer Ziele hinaus eine Vorstellung von den Konsequenzen ihres Handelns zu machen. Die mörderische Tat der Serben würde zehntausendfach mit dem Blut von Serben bezahlt werden. Und diese Massaker würden unausweichlich die serbische Regierung zu Interventionen veranlassen: Dubrovnik und andere kroatische Städte würden erneut von den serbischen Streitkräften beschossen werden, und das musste Kroatien dazu zwingen, seinerseits Serbien den Krieg zu erklären. Wieder würde in diesem am wenigsten stabilen Winkel Europas eine Feuersbrunst aufflammen – würde die benachbarten Länder in Verbündete und Gegner spalten, und niemand konnte sagen, was am Ende dabei herauskommen würde. Schon einmal hatte ein Mord auf dem Balkan einen Weltkrieg entfacht, und es konnte wieder geschehen.
Eine sanfte Brise wehte durch die mittelalterlichen Gebäude der Altstadt Dubrovniks, als ein unauffällig wirkender Mann mit kurzem grauem Haar – niemand würde ihn eines zweiten Blickes würdigen – die Bozardar-Filipovic-Straße hinunterschritt. »Vier Grad vom Median«, sagte er leise. »Der Wohnblock in der Straßenmitte. Oberstes Stockwerk. Sichtung?«
Die Frau veränderte ihre Position leicht und stellte ihr Swarowski-12 x 50-Zielfernrohr ein; der wartende Mann mit dem Gewehr füllte das Sichtfeld ihres Okulars. Das narbige Gesicht war in ihren Fahndungsunterlagen abgebildet: Milic Pavlovic. Keiner der serbischen Fanatiker aus Dubrovnik, sondern ein erfahrener und äußerst geschickter Auftragskiller, der sich deren Vertrauen erworben hatte.
Die Terroristen hatten ihren besten Mann geschickt.
Aber das hatte auch der Vatikan, der den Meuchelmörder eliminieren wollte, ohne dass die Welt davon erfuhr.
Für Janson und Jessie Kincaid war Personensicherheit auf höchstem Niveau nur formal eine neue Tätigkeit. So betrachtet war es auch nur formal ein Geschäft: Jessica hatte Janson darauf hingewiesen, dass er die Millionen auf seinem Konto auf den Cayman-Inseln behalten durfte – wenn er sie sich nicht verdient hatte, wer dann? Aber wie Janson gesagt hatte, sie waren zu jung, um schon in den Ruhestand zu treten. Er hatte das versucht – hatte versucht, vor dem zu fliehen, was er war. Doch das war nicht die Lösung für ihn, für ihn nicht und für Jessica nicht; das wusste er jetzt. Wogegen er sich auflehnte, war die Heuchelei – die Hybris der Planer. Aber was auch immer geschah, sie waren beide nicht für eine friedliche Existenz geschaffen. »Das Thema Kleine-Insel-in-der-Karibik habe ich hinter mir«, hatte Janson ihr erklärt. »Das wird einem schnell langweilig.« Das wohlgefüllte Konto bedeutete einfach, dass die beiden Partner in der Wahl ihrer Klienten wählerisch und im Einsatz von Spesen großzügig sein konnten.
Jetzt sprach Jessie leise, sich dessen bewusst, dass das Fadenmikrofon ihre Worte klar und deutlich zu Jansons Ohr tragen würde. »Verdammter Kevlar-Panzer«, sagte sie und streckte sich unter dem kugelsicheren Gewebe. Sie fand das Zeug immer unangenehm heiß und protestierte häufig, wenn ihr Partner hartnäckig darauf bestand, dass sie es trug. »Mal ganz ehrlich – meinst du, ich sehe damit dick aus?«
»Du bildest dir wohl ein, dass ich eine solche Frage beantworte, während du den Finger am Abzug hast?«
Der Kolben der Waffe lag wie angeschweißt an ihrer Wange – Punktschweißung hieß das im Jargon ihres Gewerbes –, als der narbengesichtige Meuchelmörder sein Zweibein aufbaute und ein Magazin in das langläufige Gewehr schob.
Der Papst würde in wenigen Minuten ankommen.
Wieder Jansons Stimme an ihrem Ohr. »Alles okay?«
»Wie ein Uhrwerk, Liebster«, sagte sie.
»Dass du mir ja vorsichtig bist. Denk daran, sein Ersatzmann sitzt in dem Lagerschuppen am Standort B. Wenn die Wind von dir bekommen, bist du in seiner Reichweite.«
»Alles im Griff«, sagte sie, erfüllt von der tiefen Ruhe, die den Scharfschützen in perfekter Position durchdringt.
»Ich weiß«, sagte er. »Ich sage ja nur, dass du vorsichtig sein sollst.«
»Keine Sorge, Liebster«, antwortete sie. »Das wird ein Kinderspiel.«
Die Konzernzentrale der Harnett Corporation breitete sich auf den beiden obersten Stockwerken eines schwarzen Glasturms an der Dearborn Street im Loop von Chicago aus. Harnett war ein internationales Bauunternehmen, freilich keines von der Art, das Wolkenkratzer in amerikanischen Metropolen baute. Die meisten Projekte, mit denen sich das Unternehmen befasste, waren in Ländern außerhalb der Vereinigten Staaten angesiedelt, wo die Firma mit großen Gesellschaften wie Bechtel, Vivendi und Suez Lyonnaise des Eaux zusammenarbeitete. Die Gesellschaft organisierte den Bau von Staudämmen, Abwasseranlagen und Gasturbinen-Kraftwerken – alles nicht gerade glanzvolle, aber notwendige Infrastruktur. Projekte dieser Art stellten Herausforderungen im Ingenieurbau und nicht so sehr in der Ästhetik dar, setzten dafür aber die Fähigkeit voraus, in dem in stetigem Fluss befindlichen Bereich zwischen dem Behördengeschäft und der Privatwirtschaft zu operieren. Länder der Dritten Welt, die unter dem ständigen Druck der Weltbank und des Internationalen Währungsfonds standen, im Staatsbesitz befindliche Unternehmen zu verkaufen, waren fortwährend auf der Suche nach Anbietern für Telefonsysteme, Wasserwerke, Kraftwerke, Eisenbahnen und Bergwerksanlagen. Der Eigentümerwechsel brachte häufig die Notwendigkeit für neue Bautätigkeit mit sich, ein Bereich, in dem hoch spezialisierte Firmen wie die Harnett Corporation inzwischen eine bedeutende Rolle spielten.
»Ich bin mit Ross Harnett verabredet«, erklärte der Mann dem Angestellten am Empfang. »Ich heiße Paul Janson.«
Der Angestellte, ein junger, sommersprossiger Mann mit rotem Haar, nickte und informierte das Büro des Vorstandsvorsitzenden. Er musterte den Besucher ohne sonderliches Interesse. Wieder einmal ein Weißer in mittleren Jahren in einem grauen Anzug und mit einer gelben Krawatte. Was gab es da schon zu sehen?
Janson hielt sich einiges darauf zugute, dass man ihn selten eines zweiten Blickes würdigte. Trotz seines athletischen Körperbaus war an ihm nichts Auffälliges. Mit seiner gefurchten Stirn und dem kurz gestutzten stahlgrauen Haar konnte er seine fünfzig Jahre nicht verleugnen. Und er verstand es, sich praktisch unsichtbar zu machen, sei es nun an der Wall Street oder an der Börse. Selbst sein teurer Maßanzug aus grauem Worsted bildete eine perfekte Tarnung und passte ebenso gut in den Dschungel der Finanzwelt wie einstmals die grüne und schwarze Tarnfarbe, die er sich früher einmal in Vietnam, im echten Dschungel, ins Gesicht geschmiert hatte. Es brauchte schon ein geschultes Auge, um zu erkennen, dass echte Muskeln und nicht etwa Wattepolster die Schulterpartie seines Anzugs ausfüllten. Und man musste einige Zeit mit ihm verbracht haben, um seine ruhige, etwas ironische Art wahrzunehmen oder um zu bemerken, wie seine schiefergrauen Augen jede Einzelheit in seiner Umgebung registrierten.
»Es dauert nur ein paar Minuten«, erklärte der Angestellte am Empfangspult gleichgültig, und Janson schlenderte durch die Eingangshalle, um die dort ausgestellte Fotogalerie zu betrachten. Man konnte dort sehen, dass die Harnett Corporation augenblicklich am Bau einer Wasseraufbereitungsanlage in Bolivien, an der Fertigstellung von Staudämmen in Venezuela, Brücken in Saskatchewan und Kraftwerken in Ägypten beteiligt war. Das dokumentierten Bilder einer erfolgreichen und wohlhabenden Baugesellschaft. Und wohlhabend war sie tatsächlich – oder war es zumindest bis vor kurzem gewesen.
Der für das Tagesgeschäft zuständige Vizepräsident Steven Burt war der Meinung, dass die Geschäfte eigentlich wesentlich besser laufen sollten. Im Zusammenhang mit dem Gewinnrückgang der letzten Zeit waren da Aspekte aufgetreten, die ihn argwöhnisch gemacht hatten, und er hatte deshalb Paul Janson dazu veranlasst, sich mit Ross Harnett, dem Vorstandsvorsitzenden und CEO der Firma, zu treffen. Janson hatte gewisse Vorbehalte, einen neuen Mandanten anzunehmen: Er war zwar erst seit fünf Jahren als Sicherheitsberater für größere Wirtschaftsunternehmen tätig, hatte sich aber von Anfang an den Ruf ungewöhnlicher Effizienz und Diskretion erworben, und das hatte die Nachfrage nach seinen Diensten weit über seine Zeit und sein Interesse hinaus ansteigen lassen. Wenn Steven Burt nicht ein alter Freund gewesen wäre, hätte Janson diesen Auftrag nicht in Erwägung gezogen. Aber Burt hatte ebenso wie er früher einmal ein anderes Leben geführt – eines, das er hinter sich gelassen hatte, als er in die zivile Welt eingetreten war –, und Janson wollte den Freund nicht enttäuschen. Zumindest wollte er sich mit ihm unterhalten.
Harnetts Direktionsassistentin, eine freundlich wirkende Frau um die dreißig, kam in die Empfangshalle und führte ihn in Harnetts Büro, einen modernen, beinahe spartanisch eingerichteten Raum mit vom Boden bis zur Decke reichenden Fenstern, die nach Süden und Osten blickten. Die Wand aus polarisierendem Glas reduzierte das Licht der hellen Nachmittagssonne auf ein kühles Leuchten. Harnett saß hinter seinem Schreibtisch und telefonierte, und die Frau blieb mit fragender Miene in der Tür stehen. Harnett bedeutete Janson mit einer fast herablassend wirkenden Handbewegung Platz zu nehmen. »Dann werden wir eben die Verträge mit Ingersoll-Rand neu verhandeln müssen«, sagte Harnett. Er trug ein hellblaues, monogrammbesticktes Hemd mit weißem Kragen, dessen Ärmel hochgekrempelt waren, sodass man seine kräftigen Arme sehen konnte. »Wenn sie die zugesagten Preise nicht halten wollen, müssen wir ihnen eben klar machen, dass wir uns dann frei fühlen, die Teile anderweitig zu beschaffen. Zum Teufel mit ihnen. Dann ist der Vertrag eben hinfällig.«
Janson nahm auf dem schwarzen Ledersessel vor dem Schreibtisch Platz. Er war etwas niedriger als Harnetts Sessel – primitive Regie, die Janson eher Unsicherheit als Autorität signalisierte. Er warf einen unverhohlenen Blick auf seine Uhr, schluckte die in ihm aufkommende Verstimmung hinunter und sah sich um. Das im siebenundzwanzigsten Stockwerk gelegene Eckbüro Harnetts bot einen weiten Blick auf den Michigan-See und die Innenstadt von Chicago. Ein hoher Stuhl, ein hohes Stockwerk: Harnett wollte keine Zweifel daran aufkommen lassen, dass er alle Höhen erklommen hatte.
Harnett war so etwas wie ein Kraftpaket, klein und kräftig gebaut, mit einer Reibeisenstimme. Janson hatte gehört, dass Harnett seinen Stolz darein setzte, regelmäßig die laufenden Bauprojekte seiner Firma zu besuchen und dabei mit den Vorarbeitern zu reden, als ob er selbst einmal einer gewesen wäre. In seinem ganzen Gehabe wirkte er jedenfalls wie jemand, der seine Karriere auf Baustellen begonnen und den Aufstieg in sein Eckbüro im siebenundzwanzigsten Stockwerk mit dem Schweiß seiner Hände geschafft hatte. Aber das entsprach nicht ganz den Tatsachen. Janson wusste, dass Harnett an der Northwestern University die Kellogg School of Management mit einem MBA absolviert hatte und dass seine Fähigkeiten eher in komplizierten Finanzkonstruktionen als im Baustellenbetrieb lagen. Die Harnett Corporation aufzubauen war ihm gelungen, weil er ihre Tochtergesellschaften zu einer Zeit aufgekauft hatte, als diese in finanziellen Schwierigkeiten steckten und daher billig zu haben gewesen waren. Da die Bauwirtschaft ständig von den Konjunkturzyklen abhängt, hatte Harnett begriffen, dass dies seine Chance war, mit gut platzierten Tauschoperationen zu Ausverkaufspreisen eine reichlich mit Bargeldreserven ausgestattete Gesellschaft ins Leben zu rufen.
Endlich legte Harnett den Hörer auf und musterte Janson ein paar Augenblicke lang stumm. »Stevie sagt, Sie hätten wirklich einen hervorragenden Ruf«, meinte er mit gelangweilter Stimme. »Könnte sein, dass ich ein paar Ihrer anderen Mandanten kenne. Für wen waren Sie denn tätig?«
Janson sah ihn lächelnd, beinahe spöttisch an. Sollte das hier etwa ein Vorstellungsgespräch werden? »Die meisten Mandanten, die ich akzeptiere«, sagte er und legte nach diesen Worten eine kurze Pause ein, »kommen auf Empfehlung anderer Mandanten zu mir.« Es deutlicher zu formulieren schien ihm unhöflich: Janson war nicht derjenige, der Referenzen oder Empfehlungen vorzulegen pflegte; es lief genau anders herum, seine prospektiven Mandanten mussten ihm empfohlen werden. »Unter gewissen Umständen erlaube ich meinen Mandanten, mit anderen über meine Arbeit zu sprechen. Für mich persönlich galt immer der Grundsatz völliger Diskretion.«
»Sie spielen den hölzernen Indianer, wie?« Harnett wirkte verstimmt.
»Ich bitte um Entschuldigung?«
»Ich auch, ich habe nämlich das bestimmte Gefühl, dass wir gegenseitig unsere Zeit vergeuden. Sie sind ein viel beschäftigter Mann, ich bin ein viel beschäftigter Mann, und wir haben beide nicht die Zeit, hier zu sitzen und uns gegenseitig den Nerv zu töten. Ich weiß, dass Stevie es sich in den Kopf gesetzt hat, dass wir ein Leck im Boot haben und dass Wasser eindringt. Das entspricht aber nicht den Tatsachen. Tatsächlich liegt das ständige Auf und Ab im Wesen unseres Geschäfts. Stevie ist einfach noch zu grün, um das zu begreifen. Ich habe diese Firma aufgebaut; ich weiß, was in jedem Außenbüro und auf jeder Baustelle in vierundzwanzig Ländern abläuft. Für mich stellt sich wirklich die Frage, ob wir überhaupt einen Sicherheitsberater brauchen. Und das Einzige, was ich über Sie gehört habe, ist, dass Sie nicht gerade billig sind. Ich halte sehr viel von Sparsamkeit im Geschäftsleben. Für mich ist das, was man Zero-based Budgeting nennt, so etwas wie die Heilige Schrift. Sie müssen versuchen, mir da zu folgen – jeder Cent, den wir ausgeben, muss irgendwie gerechtfertigt sein. Wenn die Ausgabe nichts zum Shareholder-Value beiträgt, findet sie einfach nicht statt. Das ist eines meiner Geschäftsgeheimnisse, das ich gern mit Ihnen teilen will.« Harnett lehnte sich zurück wie ein Pascha, der darauf wartet, dass ein Bediensteter ihm den Tee eingießt. »Aber Sie können ja gern versuchen, mich umzustimmen. Okay? Ich habe das Meinige gesagt. Jetzt höre ich Ihnen gern zu.«
Janson lächelte dünn. Er würde sich bei Steven Burt entschuldigen müssen – Janson bezweifelte, ob ihn jemals jemand, der ihm wohl gesonnen war, »Stevie« genannt hatte –, aber hier lief ganz offensichtlich einiges über Kreuz. Janson akzeptierte nur wenige von den Angeboten, die ihm zugingen, und diesen Auftrag hier brauchte er ganz gewiss nicht. Er würde zusehen, hier so schnell wie möglich wieder herauszukommen. »Ich weiß wirklich nicht, was ich sagen soll, Mr. Harnett. Aus Ihrer Sicht klingt es so, als ob Sie alles unter Kontrolle hätten.«
Harnett nickte, ohne zu lächeln, als wäre ihm soeben eine Selbstverständlichkeit bestätigt worden. »Ich führe ein strenges Regiment, Mr. Janson«, sagte er mit selbstgefälliger Herablassung. »Unsere weltweiten Aktivitäten werden verdammt gut geschützt. Das war schon immer so, und wir hatten nie Probleme. Niemals eine undichte Stelle, nie jemand, der zur Konkurrenz übergewechselt wäre, ja nicht einmal Diebstahl in nennenswertem Umfang. Und ich glaube, ich bin wirklich derjenige, der das am besten beurteilen kann – können wir uns darüber einigen?«
»Ein Chef, der nicht weiß, was in seinem eigenen Unternehmen läuft, hat ja wirklich in dem Laden nichts verloren, oder?«, erwiderte Janson mit freundlicher Miene.
»Genau«, sagte Harnett. »Genau.« Sein Blick wanderte zu der Sprechanlage seiner Telefonkonsole. »Hören Sie, Sie sind bestens empfohlen – ich meine, Stevie war des Lobes voll, und ich bin überzeugt, dass Sie das, was Sie tun, wirklich gut machen. Ich weiß es zu schätzen, dass Sie zu uns gekommen sind, und es tut mir wie gesagt wirklich Leid, dass wir Ihre Zeit vergeudet haben …«
Janson entging das »wir« nicht – und das, was das Wörtchen offenkundig implizierte: Tut mir wirklich Leid, dass ein Mitglied unseres Führungskreises uns beiden Ungelegenheiten bereitet hat. Ohne Zweifel würde Steven Burt in naher Zukunft mit dem Groll seines obersten Vorgesetzten rechnen müssen. Janson beschloss, sich doch ein paar Worte zum Abschied zu gestatten, und wäre es nur, um seinem Freund damit einen Gefallen zu tun.
»Keineswegs«, sagte er, stand auf und schüttelte Harnett über den Schreibtisch hinweg die Hand. »Es freut mich wirklich, dass alles in bester Ordnung ist.« Er legte den Kopf etwas zur Seite und fügte beinahe beiläufig hinzu: »Oh, hören Sie, was diese ›versiegelte Offerte‹ angeht, die Sie gerade für das Projekt in Uruguay abgegeben haben …«
»Was wissen Sie davon?« Harnetts Blick war plötzlich wachsam geworden. Hatte Janson hier einen Nerv getroffen?
»Dreiundneunzig Millionen, fünfhundertvierzigtausend, nicht wahr?«
Harnetts Gesicht rötete sich. »Augenblick mal. Ich habe diese Offerte erst gestern Morgen genehmigt. Wie zum Teufel haben Sie …«
»Wenn ich Sie wäre, würde ich mir Gedanken darüber machen, dass Ihre französische Konkurrenz, Suez Lyonnaise, die Zahlen ebenfalls kennt. Ich denke, Sie werden feststellen, dass deren Offerte genau zwei Prozent tiefer liegt.«
»Was?«, explodierte Harnett mit der Wucht eines Vulkans. »Hat Steven Burt Ihnen das gesagt?«
»Steven Burt hat mir keinerlei Informationen gegeben. Und im Übrigen ist er ja für die Baustellen verantwortlich, nicht etwa für die Buchhaltung oder die Angebotsabteilung – kennt er die Ausschreibung denn überhaupt im Detail?«
Harnetts Augen weiteten sich. »Nein«, erwiderte er nach kurzer Überlegung. »Er kann die Einzelheiten unmöglich kennen. Verdammt noch mal, darüber dürfte überhaupt niemand informiert sein. Unsere Erbsenzähler haben das Angebot per verschlüsselter E-Mail direkt an das Ministerium in Uruguay abgeschickt.«
»Und doch gibt es Leute, die darüber Bescheid wissen. Außerdem wäre dies ja in diesem Jahr nicht das erste Mal, dass man Sie knapp unterboten hat, oder? Konkret gesagt, sind Sie in den letzten neun Monaten fast ein Dutzend Mal durchgefallen. Elf von fünfzehn Ihrer Angebote wurden abgelehnt. Wie Sie ja sagten, das ist ein Geschäft, in dem es immer wieder ein Auf und Ab gibt.«
Auf Harnetts Wangen hatten sich hektische rote Flecken gebildet, aber Janson fuhr davon unbeeindruckt in kollegialem Tonfall fort: »Im Falle Vancouver galten andere Überlegungen. Die städtischen Ingenieure haben dort in dem für die Fundamente benutzten Beton Plastifizierungsstoffe gefunden. Das erleichtert zwar den Gussvorgang, schwächt aber die strukturelle Substanz. Natürlich nicht Ihre Schuld – die Bauspezifikation war in dem Punkt eindeutig. Wie konnten Sie auch wissen, dass Ihr Auftragnehmer Ihren Prüfungsingenieur vor Ort bestochen und dazu veranlasst hat, seinen Bericht zu fälschen? Da lässt sich ein untergeordneter Angestellter mit armseligen fünftausend Dollar schmieren und Sie stehen mit einem Hundert-Millionen-Dollar-Projekt plötzlich im Regen. Ziemlich komisch, was? Andererseits hatten Sie mit Ihren eigenen so genannten nützlichen Aufwendungen, die Sie unter dem Tisch bezahlt haben, wesentlich größeres Pech. Ich meine, wenn Sie sich fragen, was mit dem Projekt in La Paz schief gelaufen ist …«
»Ja?«, drängte Harnett erregt. Er stand auf und wirkte dabei unnatürlich steif, geradeso, als ob er eingefroren wäre.
»Nun, sagen wir einfach, Raffy ist wieder auf dem Kriegspfad. Ihr Manager hat Rafael Nuñez geglaubt, als der ihm gesagt hat, er habe sichergestellt, dass die Bestechungssumme den Innenminister erreicht hat. Raffy Nuñez hat in den neunziger Jahren eine Menge Firmen ausgenommen. Die meisten Ihrer Wettbewerber wissen inzwischen über ihn Bescheid. Sie haben sich krumm und schief gelacht, als sie Ihren Mann im La Paz Cabana beim Abendessen beobachten konnten, wie er mit Raffy einen Tequila nach dem anderen gekippt hat, weil sie ganz genau wussten, was passieren würde. Aber was soll’s – Sie haben es wenigstens versucht, stimmt’s? Was macht es da schon, dass Ihre Bruttoerlöse in diesem Jahr um dreißig Prozent gesunken sind. Ist ja schließlich nur Geld, oder? Das sagen Ihre Aktionäre doch immer, nicht wahr?«
Janson hatte bemerkt, dass Harnett inzwischen totenblass geworden war. »Oh ja, stimmt – die haben das gar nicht gesagt, wie?«, fuhr Janson fort. »Tatsächlich ist es so, dass eine Gruppe von Großaktionären dabei ist, sich nach einer anderen Gesellschaft umzusehen – Vivendi, Kendrick, vielleicht auch Bechtel –, und diese Firmen dazu veranlassen will, es mit einer feindlichen Übernahme zu versuchen. Sehen Sie es also ganz positiv. Wenn die damit durchkommen, wird das alles nicht mehr Ihr Problem sein.« Er tat so, als bemerke er nicht, wie Harnett gereizt Luft holte. »Aber ich bin sicher, dass ich Ihnen damit nichts sage, was Sie nicht bereits wissen.«
Harnett wirkte benommen, ja geradezu von panischer Angst erfasst; das von dem polarisierten Glas der riesigen Fenster gedämpfte Licht ließ kalte Schweißtropfen auf seiner Stirn erkennen. »Verdammte Scheiße«, murmelte er. Der Blick, mit dem er Janson jetzt musterte, erinnerte an den eines Ertrinkenden, der am Horizont ein Rettungsboot entdeckt hat. »Nennen Sie mir Ihren Preis«, sagte er.
»Wie bitte?«
»Ihren gottverdammten Preis sollen Sie mir nennen«, sagte Harnett. »Ich brauche Sie.« Er grinste, bemüht, seine Verzweiflung hinter einer Fassade von Jovialität zu tarnen. »Steven Burt hat gesagt, Sie seien der beste Mann, den es gibt, und damit hatte er ganz offensichtlich Recht. Wissen Sie, ich wollte Sie vorher bloß ein bisschen hochnehmen. Und jetzt hören Sie mir zu, Meister, Sie werden dieses Zimmer nicht verlassen, ehe wir beide, Sie und ich, zu einer Übereinkunft gelangt sind. Ist das klar?« Man konnte jetzt an seinem Hemdkragen und unter den Armen dunkle Schweißflecken erkennen. »Weil wir nämlich hier einen Deal machen werden.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Janson unverändert freundlich. »Ich habe mich nämlich gerade entschieden, diesen Auftrag nicht anzunehmen. Das ist ein Luxus, den ich mir als selbständiger Berater leisten kann: Ich entscheide ganz alleine darüber, welche Mandanten ich annehme. Aber wirklich – ich wünsche Ihnen viel Glück. Schließlich gibt es nichts Besseres als einen kleinen Aktionärsaufstand, um das Blut in Wallung zu bringen, stimmt’s?«
Harnett stieß ein lautes, gekünstelt wirkendes Lachen aus und klatschte in die Hände. »Ihr Stil gefällt mir«, sagte er. »Eine gute Verhandlungstaktik. Okay, okay, ich hab schon verstanden. Sagen Sie mir, was Sie verlangen.«
Janson schüttelte den Kopf, lächelte, als ob Harnett etwas Komisches gesagt hätte, und ging zur Tür. Unmittelbar bevor er das Büro verließ, blieb er stehen und drehte sich um. »Aber einen Tipp will ich Ihnen geben – gratis«, sagte er. »Ihre Frau weiß Bescheid.« Den Namen von Harnetts venezolanischer Geliebten zu nennen wäre indiskret gewesen, und deshalb fügte Janson lediglich vieldeutig, aber letzten Endes unzweideutig hinzu: »Über Caracas, meine ich.« Ein vielsagender Blick folgte: Das war keine Verurteilung, er sprach schlicht und einfach als ein Profi zum anderen und bezeichnete einen Angriffspunkt.
Jetzt konnte man auf Harnetts Wangen wieder kleine rote Punkte erkennen; er machte den Eindruck, als würde ihm übel: der Gesichtsausdruck eines Mannes, dem gerade klar geworden war, dass er sich neben einem Übernahmegefecht an der Börse, das er wahrscheinlich verlieren würde, auch noch mit einer ruinösen Scheidung würde auseinander setzen müssen. »Ich bin bereit, über Aktienoptionen zu sprechen!«, rief er Janson nach.
Aber der Berater war bereits draußen auf dem Flur zu den Aufzügen unterwegs. Zuzusehen, wie der Dickschädel sich vor ihm wand, hatte ihm nichts ausgemacht; als er aber schließlich vor den Aufzugtüren stand, spürte er einen säuerlichen Geschmack im Mund und hatte das Gefühl, seine Zeit zu vergeuden. Und zwar nicht nur in diesem Augenblick.
Eine Stimme aus der Vergangenheit – gleichsam aus einem anderen Leben – hallte schwach in seinem Kopf nach. »Und das ist es, was Ihrem Leben seinen Sinn gibt?« Phan Nguyen hatte diese Frage in tausend verschiedenen Variationen gestellt. Es war seine Lieblingsfrage. Janson konnte selbst jetzt die kleinen, intelligenten Augen, das breite, verwitterte Gesicht und die schlanken Arme sehen, die wie die eines Kindes wirkten. Alles, was Amerika betraf, schien die Neugierde dieses Mannes zu reizen, der ihn verhörte, schien ihn in gleichem Maße zu faszinieren und anzuwidern. Und das ist es, was Ihrem Leben seinen Sinn gibt? Janson schüttelte den Kopf: Zum Teufel mit dir, Nguyen.
Als Janson in seine Limousine stieg, die die ganze Zeit draußen vor dem Eingangsportal an der Dearborn Street bereit gestanden hatte, beschloss er, jetzt gleich zum O’Hare Airport zu fahren; es gab einen früheren Flug nach Los Angeles, den er wohl noch schaffen würde. Wenn es nur möglich wäre, Nguyens Fragen ebenso leicht hinter sich zurückzulassen.
Zwei uniformierte Frauen standen hinter der Theke, als er die Platinum Club Lounge der Pacifica Airlines betrat. Die Uniformen und der Tresen waren in dem gleichen blaugrauen Ton gehalten. Die Jacken der beiden Frauen trugen die Epauletten, die gegenwärtig so viele größere Fluggesellschaften offensichtlich zu schätzen wussten. An einem anderen Ort und zu einer anderen Zeit, überlegte Janson, hätte man derartige Schulterstücke nach reichlichen Kampfeinsätzen verliehen bekommen.
Eine der Frauen hatte gerade mit einem korpulenten Mann mit Hängebacken gesprochen, der einen offenen blauen Blazer trug und an dessen Gürtel ein Pager zu sehen war. Über der Innentasche seines Jacketts blitzte eine Plakette und verriet Janson, dass der Mann ein Inspektor der Luftfahrtbehörde war, der offenbar gerade in einer Umgebung, wo sympathische Gesellschaft zur Verfügung stand, eine kleine Pause eingelegt hatte. Die beiden Frauen und der Mann unterbrachen ihr Gespräch, als Janson auf sie zutrat.
»Ihre Bordkarte, bitte«, sagte die Frau und sah ihn an. Ihre puderig wirkende Bräune endete ein Stück unter ihrem Kinn, und ihre blonde Haarfarbe sah so aus, als stamme sie aus einer Flasche.
Janson zeigte sein Ticket und die Plastikkarte, die Pacifica ihren Vielfliegern zur Verfügung stellt.
»Willkommen im Pacifica Platinum Club, Mr. Janson«, flötete die Frau.
»Wir informieren Sie, wenn Ihre Maschine einsteigebereit ist«, ließ ihn die zweite Hostess – kastanienfarbenes, schulterlanges Haar und auf die blauen Applikationen auf ihrer Jacke abgestimmte Lidschatten – mit leiser, vertraulich klingender Stimme wissen. Sie deutete auf den Eingang zum eigentlichen Loungebereich, als wäre dieser Eingang das Tor zum Himmel. »Bis dahin wünschen wir Ihnen einen angenehmen Aufenthalt.« Ein aufmunterndes Nicken und ein strahlendes Lächeln: Petrus hätte es nicht vielversprechender machen können.
Zwischen funktionale Stahlträger und Glas eingezwängte Etablissements wie der Platinum Club von Pacifica waren Orte, an denen moderne Fluggesellschaften sich bemühten, der Crème de la Crème ihrer Kundschaft gerecht zu werden. Die kleinen Schalen, die dort herumstanden, waren nicht etwa mit gesalzenen Erdnüssen gefüllt, wie man sie les misérables in der Touristenklasse anbot, sondern mit den deutlich teureren Baumnüssen: Cashews, Mandeln, Walnüssen, Pekans. Auf einer mit einer Granitplatte belegten Getränketheke standen Kristallkrüge mit Pfirsichnektar und frisch gepresstem Orangensaft. Eleganter Mikrofaserteppichboden im Blaugrau der Fluggesellschaft bedeckte den Boden des Saals, den dunkelblaue und weiße Gitter in einzelne Sektionen unterteilten. Auf runden, zwischen wuchtigen Armsesseln verteilten Tischen lagen sauber gefaltete Exemplare des International Herald Tribune, der USA Today, des Wall Street Journal und der Financial Times. Über einen Bloomberg-Bildschirm flackerten unverständliche Zahlengruppen und Bilder, schattenhafte Marionetten des globalen Wirtschaftsgeschehens. Durch schräg gestellte Jalousien konnte man die Flughafenpiste draußen nur ahnen.
Janson blätterte ohne sonderliches Interesse in den Zeitungen. Als er im Wall Street Journal den »Marktbericht« erreichte, ertappte er sich dabei, wie sein Blick über die vertrauten Schlagzeilen huschte: Ein Gemetzel an der Wall Street, wo profitgierige Investoren den Dow in die Tiefe getrieben hatten. Ein Sportkommentar in USA Today befasste sich mit dem Zusammenbruch der Angriffsreihe der Raiders »in dem massiven Sperrriegel der Vikings«. Und die ganze Zeit tönte aus unsichtbaren Lautsprechern der Gesang einer gerade populären Diva aus dem neuesten Hollywood-Kassenschlager, einem Film über eine legendäre Schlacht des Zweiten Weltkriegs. Ein gewaltiger Aufwand an Studiogeldern und Computergrafik zu Ehren eines ebenso gewaltigen Aufwands an Blut und Schweiß.
Janson sank schwer in einen der Polstersessel und ließ seinen Blick über die Computeranschlüsse schweifen, wo leitende Angestellte von Weltfirmen ihre Laptops einstöpselten und auf der endlosen Suche nach Wichtigem E-Mails von Mandanten, Vorgesetzten, Interessenten, Mitarbeitern und Lebenspartnern abriefen. Aus ihren Aktenkoffern lugten die Rücken von Büchern, die Ratschläge von Sun Tsu und Konsorten für das Geschäftsleben anboten – die Kunst des Krieges neu verpackt für die moderne Geschäftswelt. Ein glattes, selbstzufriedenes, von nichts bedrohtes Völkchen, sinnierte Janson nach einem Blick auf die Manager und Geschäftsleute, die ihn umgaben. Wie diese Menschen doch den Frieden liebten und zugleich auch die Bilderfülle des Krieges! Für sie war die Romantik der Insignien des Militärwesens ohne Gefahr, so wie Raubtiere zum Zimmerschmuck werden, nachdem der Präparator sein Werk getan hat. Es gab Augenblicke, wo Janson fast das Gefühl hatte, auch ihn habe man ausgestopft und an eine Wand gehängt. Beinahe jedes Raubtier stand jetzt unter Naturschutz, nicht zuletzt der weißköpfige Seeadler, das Wappentier der Vereinigten Staaten, und Janson wurde plötzlich bewusst, dass er selbst einmal so etwas wie ein Raubtier gewesen war – eine aggressive Macht gegen die Mächte der Aggression. Janson hatte ehemalige Krieger gekannt, die für Adrenalin und Gefahren süchtig geworden waren und die sich selbst, als man ihre Dienste nicht länger benötigte, zu einer Art Spielzeugsoldaten gemacht hatten. Sie verbrachten ihre Zeit damit, in der Sierra Madre mit Farbbeutelgewehren aufeinander zu schießen oder, noch schlimmer, sich an unappetitliche Firmen mit unappetitlichen Bedürfnissen zu verdingen, gewöhnlich in Teilen der Welt, in denen das Bakschisch regierte. Die Verachtung, die Janson für diese Leute empfand, ging tief. Und doch fragte er sich manchmal, ob die hoch spezialisierten Dienste, die er der amerikanischen Geschäftswelt lieferte, nicht lediglich eine etwas respektablere Version derselben Sache waren.
Er war einsam, das war der Kern der ganzen Angelegenheit, und diese Einsamkeit war nie ausgeprägter als in den gelegentlichen Pausen seines meist von zu vielen Terminen gejagten Lebens – der Zeit, die er nach dem Einchecken und vor dem Start an übertrieben gestylten Orten verbrachte, die schlicht und einfach nur für das Warten bestimmt waren. Am Ende seines nächsten Fluges würde niemand seine Ankunft erwarten, mit Ausnahme eines weiteren livrierten Limousinenchauffeurs, der vermutlich seinen Namen auf einer weißen Papptafel falsch geschrieben vorwies, und danach ein weiterer Firmenmandant, ein besorgter Filialleiter eines Unternehmens der Leichtindustrie in Los Angeles – seine Einsätze führten Janson von einem Eckbüro zum nächsten. Es gab keine Frau und keine Kinder, obwohl es früher einmal eine Frau und zumindest Hoffnung auf ein Kind gegeben hatte, denn Helene war schwanger gewesen, als sie gestorben war. »Wenn du Gott zum Lachen bringen willst, dann erzähle ihm von deinen Plänen«, pflegte sie ihren Großvater zu zitieren, eine Maxime, die sich auf schreckliche Weise an ihr erfüllt hatte.
Janson musterte die mit bernsteinfarbener Flüssigkeit gefüllten Flaschen hinter der Bar, Flaschen, deren dicht bedruckte Etiketten ein Alibi für das Vergessen suggerierten, das sie boten. Er hielt sich in Form, trainierte verbissen, aber selbst wenn er im aktiven Einsatz war, vergönnte er sich hie und da einen Schluck oder auch zwei. Wem schadete das schon?
»Ein Gespräch für Richard Alexander«, tönte eine nasale Stimme aus der Lautsprecheranlage. »Passagier Richard Alexander. Bitte melden Sie sich an einem beliebigen Pacifica-Schalter.«
Das gehörte mit zu den Hintergrundgeräuschen eines jeden Flughafens, riss Janson aber aus seinen Träumen. Richard Alexander war ein Deckname, den er in der Vergangenheit häufig benutzt hatte. Er sah sich reflexartig um. Zufall, dachte er, und dann bemerkte er, dass im gleichen Augenblick sein Handy in den Tiefen seiner Brusttasche zu summen angefangen hatte. Er schob sich den Stöpsel des Dreiband-Nokia ins Ohr und drückte auf SND. »Ja?«
»Mr. Janson? Oder sollte ich sagen Mr. Alexander?« Eine angestrengt, ja verzweifelt klingende Frauenstimme.
»Wer spricht da?«, fragte Janson mit leiser Stimme. Stress wirkte auf ihn dämpfend, zumindest anfänglich – machte ihn ruhiger, nicht erregter.
»Bitte, Mr. Janson. Es ist äußerst dringend, dass wir uns sofort treffen.« Ihre Aussprache war von jener ganz besonderen Präzision, die den gebildeten Ausländer verrät. Und die Hintergrundgeräusche waren noch auffälliger.
»Werden Sie deutlicher.«
Eine kurze Pause. »Wenn wir uns persönlich gegenüberstehen.«
Janson drückte END, beendete das Gespräch. Er verspürte ein leichtes Prickeln im Nacken. Das Zusammentreffen der Lautsprecherdurchsage und des Anrufs, der Wunsch nach einem sofortigen persönlichen Treffen: Die Anruferin befand sich offensichtlich ganz in der Nähe. Die Hintergrundakustik des Anrufs hatte seinen Verdacht bestätigt. Jetzt huschten seine Augen von einem Insassen der Lounge zum nächsten, während er überlegte, wer wohl auf diese Weise versuchte, mit ihm Kontakt herzustellen.
War es eine Falle, ein alter Gegner, der ihm nicht verziehen hatte? Es gab viele, die seinen Tod als Vergeltung empfinden würden; und für einige wenige von ihnen würde dieser Durst nach Rache nicht völlig unberechtigt sein. Und doch kam ihm das eher unwahrscheinlich vor. Er war nicht im Einsatz; er schaffte nicht gerade einen widerstrebenden »Überläufer« der Kurdischen Befreiungsfront von den Dardanellen über Athen zu einer wartenden Fregatte und überging dabei jede offizielle Grenzkontrolle. Um Himmels willen, er befand sich schließlich auf dem O’Hare Airport. Und das war möglicherweise der Grund, weshalb man gerade diesen Ort für das Treffen ausgewählt hatte. Die Menschen neigten dazu, sich auf einem Flughafen sicher zu fühlen, wo sie von Metalldetektoren und uniformiertem Sicherheitspersonal beschützt wurden. Es wäre wirklich schlau, diese Illusion der Sicherheit auszunutzen – denn auf einem Flughafen, auf dem täglich beinahe zweihunderttausend Reisende abgefertigt wurden, war Sicherheit tatsächlich eine Illusion.
All diese Möglichkeiten gingen ihm durch den Kopf, wurden erwogen und ebenso schnell wieder abgetan. Vor der dicken Glasscheibe, die den Ausblick auf die Piste bot, war eine blonde Frau im schräg einfallenden Sonnenlicht anscheinend damit beschäftigt, auf ihrem Laptop eine Tabellenkalkulation zu studieren; ihr Handy lag neben ihr, vergewisserte sich Janson, aber es war nicht mit einem Ohrhörer verbunden. Eine weitere Frau, näher beim Eingang, war in eine lebhafte Diskussion mit einem Mann vertieft, dessen Ehering an seiner sonst sonnengebräunten Hand lediglich als schmaler, heller Hautstreifen zu erkennen war. Jansons Augen schweiften weiter, bis er sie Sekunden später sah – die, die ihn angerufen hatte.
Es war eine elegante Frau in mittleren Jahren, die täuschend ruhig und desinteressiert in einer Ecke der Lounge saß und sich ein Handy ans Ohr hielt. Sie hatte weißes Haar, das sie hochgesteckt trug, und war mit einem dunkelblauen Chanelkostüm mit diskreten Perlmuttknöpfen bekleidet. Ja, sie war es; er war jetzt ganz sicher. Nicht sicher war er dagegen, worin ihre Absichten bestanden. War sie eine Meuchelmörderin oder Mitglied eines Kidnapperteams? Das waren nur zwei von hundert Möglichkeiten, die er ausschließen musste, so unwahrscheinlich sie auch sein mochten. Standardtaktik, in vielen Jahren im Einsatz entwickelt und fester Bestandteil seiner Persönlichkeit …
Janson sprang auf. Er musste den Standort wechseln: Das war eine Grundregel. Es ist äußerst dringend, dass wir uns sofort treffen, hatte die Anruferin gesagt. Wenn es zu einem Treffen kam, würde das nach seinen Regeln geschehen. Er schickte sich an, die Lounge zu verlassen, und griff sich beim Hinausgehen einen Pappbecher von einem Wasserspender. Mit dem Becher in der Hand, ihn so haltend, als ob er voll wäre, ging er auf die Empfangstheke zu. Dann gähnte er, drückte dabei die Augen zu und stieß mit dem korpulenten Inspektor der Luftfahrtbehörde zusammen, der ein paar Schritte zurücktaumelte.
»Oh, tut mir Leid«, stieß Janson mit erschreckt wirkendem Blick hervor. »Du liebe Güte, ich habe Sie doch nicht etwa nass gemacht!?« Jansons Hände fuhren schnell über den Blazer des Mannes. »Hab ich Sie nass gemacht? Herrgott, es tut mir wirklich Leid, ehrlich.«
»Nichts passiert«, erwiderte der Mann mit einem Anflug von Ungeduld. »Aber Sie sollten wirklich aufpassen, wo Sie hinmarschieren, ja? Auf diesem Flughafen gibt es eine Menge Leute.«
was
»Das haben Sie mir jetzt klar gemacht, Mr. Janson«, sagte sie. »Ich gebe ja zu, dass meine Kontaktaufnahme nicht sonderlich gut überlegt war. Sie werden mir verzeihen müssen …«
»Werde ich das? Das ist ziemlich anmaßend.« Er atmete ein und registrierte einen leichten Duft: Penhaligon’s Jubilee. Ihre Blicke begegneten sich, und Jansons Ärger schwand etwas, als er ihren Gesichtsausdruck sah, den besorgt verzogenen Mund und den entschlossenen Blick ihrer graugrünen Augen.
»Wie ich schon sagte, wir haben sehr wenig Zeit«, erklärte sie.
»Ich habe alle Zeit der Welt.«
»Aber Peter Novak nicht.«
Peter Novak.
Der Name durchzuckte ihn wie ein elektrischer Schlag, so wie sie das geplant hatte. Novak war ein legendärer ungarischer Financier und Philanthrop und hatte im Jahr zuvor für seine erfolgreichen Bemühungen um Konfliktbeilegung in der ganzen Welt den Friedensnobelpreis erhalten. Novak war Gründer und Direktor der Liberty Foundation, die sich der »gezielten Demokratie« verschrieben hatte – Novaks großer Leidenschaft. Diese Institution unterhielt ihre Büros in den Hauptstädten Osteuropas und in zahlreichen Entwicklungsländern. Aber Janson hatte eigene Gründe, sich Peter Novaks zu erinnern. Und er stand so tief in der Schuld des Mannes, dass er diese Dankbarkeit gelegentlich wie eine Last empfunden hatte.
»Wer sind Sie?«, fragte Janson.
Die graugrünen Augen der Frau bohrten sich in die seinen. »Ich heiße Marta Lang und bin für Peter Novak tätig. Ich könnte Ihnen eine Geschäftskarte zeigen, falls Sie das für hilfreich hielten.«
Janson schüttelte langsam den Kopf. Auf ihrer Geschäftskarte würde ein Titel stehen, der für ihn ohne Bedeutung war; wahrscheinlich würde er sie als eine hochrangige Angestellte der Liberty Foundation ausweisen. Ich bin für Peter Novak tätig, hatte die Frau gesagt, und schon die Art, wie sie das gesagt hatte, hatte ihm klar gemacht, was sie war. Sie war das Faktotum, die erste Helferin, die rechte Hand; jeder große Mann hatte jemanden wie sie. Leute wie sie zogen es vor, im Schatten zu wirken, übten aber große, wenn auch inoffizielle Macht aus. Ihr Name und der kaum wahrnehmbare Akzent ließen erkennen, dass sie wie ihr Arbeitgeber Ungarin war.
»Was versuchen Sie mir zu sagen?«, fragte Janson. Seine Augen verengten sich.
»Nur, dass er Hilfe braucht. So wie Sie einmal Hilfe gebraucht haben. In Baaqlina.« Marta Lang sprach den Namen jener staubigen Stadt aus, als wäre er ein ganzer Satz, ein Abschnitt, ein Kapitel. Und für Janson war er das.
»Ich habe nichts vergessen«, sagte er leise.
»Dann reicht es für den Augenblick, wenn Sie wissen, dass Peter Novak auf Ihre Unterstützung angewiesen ist.«
Sie hatte nur wenige Worte gesagt, aber es waren die richtigen. Janson ließ ihren Blick ein oder zwei Sekunden lang nicht los.
»Wohin?«
»Ihre Bordkarte können Sie wegwerfen. Unser Jet steht auf der Piste und ist für den sofortigen Start freigegeben.« Sie stand auf, und ihre Verzweiflung verlieh ihr irgendwie Kraft und eine Art von Befehlsgewalt. »Wir müssen jetzt gehen. Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen – wir haben keine Zeit.«
»Auf die Gefahr hin, mich zu wiederholen: Wohin?«
»Das, Mr. Janson, wird unsere Frage an Sie sein.«