Was unterscheidet uns Menschen von anderen Lebewesen? Laut dem großen amerikanischen Philosophen Robert Brandom vor allem die Tatsache, dass wir in unserem Handeln und Urteilen Verpflichtungen eingehen und Verantwortung für das übernehmen, was wir tun und sagen. Wir leben in einem »Raum von Gründen«, insofern wir unser Tun stets rechtfertigen müssen und solche Rechtfertigungen auch von anderen verlangen. Menschliches Leben ist somit durch und durch normativ. In Wiedererinnerter Idealismus zeigt Brandom, dass der Ursprung dieser Einsichten bereits in der Philosophie Kants und Hegels zu finden ist. Seine fesselnden Studien beweisen die Aktualität und Bedeutung ihres Denkens für das Verständnis unserer Lebensform.

Robert B. Brandom ist Distinguished Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh. Veröffentlichungen im Suhrkamp Verlag: Expressive Vernunft. Begründung, Repräsentation und diskursive Festlegung (2000) und Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Inferentialismus (stw 1689).

Robert B. Brandom

Wiedererinnerter Idealismus

Aus dem Amerikanischen von
Falk Hamann und Aaron Shoichet

Suhrkamp

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

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eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2015

Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des suhrkamp taschenbuch wissenschaft 2104.

© Suhrkamp Verlag Berlin 2015

© Robert B. Brandom

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eISBN 978-3-518-73682-1

www.suhrkamp.de

Inhalt

Analytischer Deutscher Idealismus. Vorwort zur Buchreihe von James Conant und Andrea Kern

Wiedererinnerter Idealismus

Erster Teil:
Eine semantische Sonate über Themen von Kant und Hegel

1 Normen, Selbste, Begriffe

1.1 Einleitung

1.2 Probleme der frühneuzeitlichen Semantik

1.3 Die grundlegende Idee Kants

1.4 Die normative Pragmatik des Urteilens und die Beschaffenheit möglicher Urteilsinhalte

1.5 Kategorien

1.6 Das Repräsentieren von Gegenständen

1.7 Noch ein Wort zur Methodologie

2 Autonomie, Gemeinschaft, Freiheit

2.1 Einleitung

2.2 Kategorische Begriffe

2.3 Freiheit und Autonomie

2.4 Von der Autonomie zur gegenseitigen Anerkennung

2.5 Zusammenfassung

3 Geschichte, Vernunft, Wirklichkeit

3.1 Einleitung

3.2 Geschichte, Synthesis, Anerkennung

3.3 Repräsentation und zeitliche Perspektive

3.4 Zusammenfassung

Zweiter Teil:
Erkennen und Repräsentieren.
Eine Lektüre (zwischen den Zeilen) von Hegels Einleitung in die Phänomenologie

4 Begriffsrealismus und die semantische Möglichkeit von Erkenntnis

4.1 Die klassische repräsentationale Epistemologie

4.2 Genuine Erkenntnis und rationale Beschränkung

4.3 Eine nichtpsychologische Konzeption des Begrifflichen

4.4 Materiale Unvereinbarkeit: alethisch-modal und deontisch-normativ

5 Repräsentation und die Erfahrung des Irrtums.
Ein funktionalistischer Ansatz zur Unterscheidung von Erscheinung und Wirklichkeit

5.1 Einführung

5.2 Zwei Dimensionen der Intentionalität und zwei Erklärungsordnungen

5.3 Zwei kantische Ideen

5.4 Hegels funktionalistische Idee

5.5 Die Bedingung der Art des Gegebenseins

5.6 Die Erfahrung des Irrtums

5.7 Beide Seiten des begrifflichen Inhalts sind repräsentational aufeinander bezogen

5.8 Zusammenfassung

6 Entlang des Wegs der Verzweiflung in den bacchantischen Taumel.
Woraus der zweite wahre Gegenstand entspringt

6.1 Einleitung

6.2 Das Entspringen des zweiten, neuen wahren Gegenstands

6.3 Vom Skeptizismus zur Wahrheit durch bestimmte Negation

6.4 Wiedererinnerung und die Wissenschaft der Erfahrung des Bewusstseins

Dritter Teil:
Wiedererinnerter Hegel

7 Skizze eines Programms zu einer kritischen Hegellektüre.
Empirische und logische Begriffe im Vergleich

7.1 Einleitung

7.2 Der erste Schritt: eine Unterscheidung

7.3 Zwei Behauptungen über empirische Begriffe

7.4 Die begriffliche Unerschöpflichkeit des Empirischen aus Sicht der Tradition

7.5 Die begriffliche Unerschöpflichkeit des Empirischen nach Hegel

7.6 Schwache und starke Spielarten des begrifflichen Dynamismus Hegels

7.7 Wahrheit, Bestimmtheit, Skeptizismus

7.8 Wiedererinnerung: Die Epistemologie der Semantik aus Sicht der Vernunft

7.9 Logische und empirische Begriffe im Vergleich aus metaphysischer und epistemologischer Perspektive: Ein Unterschied und eine Ähnlichkeit

7.10 Zusammenfassung: Skizze eines Programms für eine kritische Lektüre Hegels

8 Einige pragmatistische Themen in Hegels Idealismus.
Erklärung der Aushandlung und Verwaltung der Struktur und des Inhalts begrifflicher Normen

8.1 Einleitung

8.2 Hegels Weg von Kant zum Pragmatismus: Das Problem der Bestimmtheit

8.3 Hegel über Selbste und Normen

8.4 Selbste und Begriffe

8.5 Die soziale Errungenschaft des Selbstbewusstseins und der selbstbewusste Geist

9 Holismus und Idealismus in Hegels Phänomenologie

9.1 Einleitung

9.2 Das Problem, die Bestimmtheit der objektiven Welt zu verstehen

9.3 Der Holismus

9.4 Begriffliche Schwierigkeiten des starken Holismus

9.5 Ein schlechtes Argument

9.6 Objektive Beziehungen und subjektive Prozesse

9.7 Der objektive Idealismus und die Abhängigkeit des Sinns und der Referenz

9.8 Jenseits des starken Holismus: Ein Modell

9.9 Das Durchlaufen der Momente: Dialektisches Verstehen

9.10 Zusammenfassung

Textnachweise

Register

James Conant und Andrea Kern
Analytischer Deutscher Idealismus
Vorwort zur Buchreihe

Die Philosophie des Deutschen Idealismus – und damit meinen wir die Philosophie von Kant bis Hegel – scheint vielen durch die analytische Philosophie überholt. Nicht selten wird sie als Gegenprojekt zu dieser Tradition der Philosophie verstanden. Mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus«, deren Auftakt der vorliegende Band bildet, wollen wir sichtbar machen, dass die Philosophie des Deutschen Idealismus keinen Gegensatz zur analytischen Philosophie darstellt, sondern umgekehrt ihr Maßstab und Fluchtpunkt ist.

Die Reihe antwortet auf eine intellektuelle und gesellschaftliche Herausforderung, die durch die Renaissance des Naturalismus in den Wissenschaften erneut ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt ist. Sie liegt in der für uns grundlegenden Frage, wie wir es verstehen können, dass wir geistbegabte Tiere sind, die einerseits das, was sie tun, aus Freiheit tun, deren Leben aber andererseits durch Gesetzmäßigkeiten bestimmt ist, die sie nicht selbst hervorgebracht haben. Es ist offenkundig, dass man diese Frage nicht beantworten kann, indem man ihre eine Seite – die Freiheit des Menschen – leugnet. Eine Naturalisierung des Geistes, die leugnet, dass all das, was das menschliche Leben ausmacht – Denken, Sprechen, Handeln, soziale Institutionen, religiöser Glaube, politische Ordnungen, Kunstwerke etc. –, Gegenstände sind, die, um mit Kant zu sprechen, dem Reich der Freiheit angehören, löst das Problem nicht, sondern kapituliert vor ihm. Doch auch wenn jeder sieht, dass diese Leugnung, die der Szientismus unablässig predigt, nicht das Resultat einer Erkenntnis sein kann, sondern vielmehr Ausdruck einer intellektuellen Hilflosigkeit ist, führt uns diese Reaktion ebenso vor Augen, dass die Frage nach der Einheit von Geist und Natur eine echte Frage ist, bei deren Beantwortung unser Selbstverständnis als geistige Wesen auf dem Spiel steht.

Die beschriebene Situation ist indes nicht neu. Blicken wir ins 18. Jahrhundert zurück, erkennen wir eine ähnliche intellektuelle Lage. Auch damals war es der Fortschritt der modernen Naturwissenschaften, der unser Selbstverständnis als geistbegabte Tiere herausgefordert hat. Der Deutsche Idealismus antwortet auf diese Herausforderung, indem er die Philosophie explizit durch die Frage nach der Einheit von Geist und Natur definiert. Im Angesicht der modernen Naturwissenschaft ringt die Philosophie von Kant bis Hegel darum, die zwei Seiten des Menschen zusammenzubringen: dass er ein Tier ist und doch ein geistiges Wesen, dass er Natur ist und doch Gesetzen unterliegt, die von anderer Art sind als die Gesetze der Natur: Gesetzen der Freiheit. Die Philosophie des Deutschen Idealismus ist von dem Bewusstsein durchdrungen, dass das Begreifen dieses Verhältnisses – des Verhältnisses von Geist und Natur, wie Hegel es zu Anfang seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften formuliert – die bestimmende Aufgabe der Philosophie ist. Wenn wir daher mit der Buchreihe »Analytischer Deutscher Idealismus« die Philosophie des Deutschen Idealismus stärken wollen, dann weil wir meinen, dass der Deutsche Idealismus für die intellektuelle Herausforderung, der wir uns gegenübersehen, die maßgebliche Orientierung ist. Der Deutsche Idealismus liegt nicht hinter uns, sondern vor uns. Damit meinen wir, dass die Art und Weise, wie der Deutsche Idealismus seine grundlegenden Begriffe und Ideen, allen voran die Begriffe der Freiheit, der Vernunft und der Selbstbestimmung, entwickelt und artikuliert, dem gegenwärtigen philosophischen Bewusstsein vielfach unbekannt und verstellt ist. Das liegt teilweise daran, wie die Philosophie in Westdeutschland nach 1945 mit diesem philosophischen Erbe umgegangen ist. Sie hat ihre durch den Nationalsozialismus verursachte Verstümmelung viel zu wenig als solche erfasst und zu heilen gesucht. Damit hat sie sich in eine Lage gebracht, in der sie aus sich heraus nicht mehr die Mittel schöpfen konnte, um die Begriffe und Ideen, in denen sie zu Recht ihre Bedeutung sah, so zu artikulieren, dass sie als Maßstab der systematischen Arbeit erscheinen konnten. Für einen großen Teil der Jüngeren wurde dieser Maßstab stattdessen die analytische Philosophie angloamerikanischer Prägung.

So wichtig diese Erneuerung der Philosophie war, so entstand dadurch doch der falsche Eindruck, die analytische Philosophie und die Philosophie des Deutschen Idealismus seien Gegensätze, nämlich Orientierungen und Vorgehensweisen, die nicht nur nichts miteinander zu tun haben, sondern einander ausschließen. Die Bücher dieser Reihe möchten darum auch sichtbar machen, dass der Deutsche Idealismus von Kant bis Hegel nicht nur kein Gegensatz zur analytischen Philosophie ist, sondern eine Form, und zwar eine maßgebliche Form, der analytischen Philosophie. Der Deutsche Idealismus, als analytische Philosophie, ist eine Reflexion auf elementare Formen des Denkens und damit auf die Quelle unserer grundlegenden Begriffe, die diese Begriffe zugleich als notwendig ausweist. Philosophie ist, so sagt es Hegel, der Versuch, das Denken aus sich selbst zu begreifen. Sie ist ein Begreifen des Denkens, das von keinen »Voraussetzungen und Versicherungen« abhängt, wie er sagt, eine radikal voraussetzungslose Untersuchung der Voraussetzungen des Denkens. Darin liegt der gemeinsame Zug der Philosophie des Deutschen Idealismus: dass die Begriffe, die sie durcharbeitet, von nirgendwoher – von keiner Wissenschaft und keinem Common Sense – übernommen werden, sondern diese Begriffe nur dann verwendet werden, wenn sie als notwendig für das Denken erkannt werden. Diese Einsicht, dass die Philosophie ihre Begriffe nur aus dem Denken selbst nehmen kann, macht den radikalen Anspruch des Deutschen Idealismus aus. Und so ist die Idee der analytischen Philosophie, die Idee der Philosophie als logischer Analyse der grundlegenden Formen des Denkens und der Aussage, nirgends so streng durchgeführt worden wie im Deutschen Idealismus.

Unter dem Label »Analytischer Deutscher Idealismus« versammelt die Buchreihe Texte und Bücher, die auf exemplarische Weise Philosophie als analytische Aufklärung verstehen, im Geist und mit den Begriffen des Deutschen Idealismus. Die analytische Philosophie kommt erst da zu sich selbst, wo sie sich nicht von der idealistischen Philosophie abwendet, sondern auf diese ausgerichtet ist: in ihren Grundbegriffen und in der Radikalität ihrer Methode. Das mag manchem als provokante These anmuten, doch es gibt viele Beispiele, die ihr entsprechen. Gottlob Freges Begriffsschrift, die vielen als Gründungsdokument der analytischen Philosophie gilt, ist kein Gegenprojekt zum Deutschen Idealismus, sondern eine Weiterführung der kritischen Philosophie Kants. Und wenn wir uns zwei andere große Werke der analytischen Philosophie vergegenwärtigen, Wilfrid Sellars’ Empiricism and the Philosophy of Mind (dt.: Der Empirismus und die Philosophie des Geistes) und Peter Strawsons The Bounds of Sense (dt.: Die Grenzen des Sinns), sehen wir, dass sich die herausragenden Repräsentanten der analytischen Philosophie niemals vom Deutschen Idealismus abgewendet, sondern stets dessen Nähe gesucht haben. Das offizielle Selbstverständnis der analytischen Philosophie, in dem sie sich dem Empirismus verschreibt und sich damit dem Deutschen Idealismus entgegensetzt, ist ein Selbstmissverständnis. Der Empirismus, der sich für aufgeklärt hält, weil er die empirischen Wissenschaften zum Maß der Erkenntnis erklärt, ist in Wahrheit der Widersacher der analytischen Philosophie, nämlich der radikalen, der grundlegenden Analyse der Formen unseres Denkens und Verstehens. Soweit der Empirismus die analytische Philosophie dominiert, verdeckt er deren eigentliche Orientierung, die dieselbe ist wie die des Deutschen Idealismus.

Die Buchreihe wird mit einem Band von Robert B. Brandom eröffnet. Brandom ist Distinguished Professor of Philosophy an der University of Pittsburgh, an der auch Sellars lehrte. Mit seinem großen Werk Making It Explicit (dt. Expressive Vernunft) ist Brandom als der Hegelianer der analytischen Philosophie hervorgetreten. In dem nun vorliegenden Band Wiedererinnerter Idealismus macht er explizit, inwiefern sich seine wirkmächtigen sprachphilosophischen Thesen einer fortdauernden Auseinandersetzung mit dem Deutschen Idealismus verdanken.

Die Buchreihe wird von einem internationalen Forschungszentrum getragen, dem Forschungskolleg Analytic German Idealism (FAGI), das 2012 an der Universität Leipzig gegründet wurde und dessen Arbeit durch ein international besetztes Gremium unterstützt wird (siehe 〈http://www.sozphil.uni-leipzig.de/cm/fagi/〉). Ziel des FAGI ist es auch, die Stimme des Analytischen Deutschen Idealismus in die außerakademische Öffentlichkeit hineinzutragen und ihr Gewicht in den Debatten über unser Selbstverständnis zu stärken.

Wiedererinnerter Idealismus

Erster Teil:
Eine semantische Sonate über Themen von Kant und Hegel

1
Normen, Selbste, Begriffe

1.1 Einleitung

In diesen ersten drei Kapiteln werde ich einige der Ideen untersuchen, die jene philosophische Tradition beseelen, welche mit Kant und Hegel beginnt, von ihnen exemplarisch ausgearbeitet und ›Idealismus‹ genannt wurde. Mein Ziel ist dabei, einigen dieser Ideen neues Leben einzuhauchen. Dafür werde ich eine neue Perspektive aufzeigen, aus der heraus sie sich heute unseres Interesses und unserer Aufmerksamkeit als würdig erweisen. Ich werde zu diesem Zweck rückblickend einen kohärenten und sich entfaltenden Gedankengang rekonstruieren, ihn aus seinem bisherigen Kontext herauslösen und dabei keine Rücksicht auf solche Elemente nehmen, die für ihn unwesentlich sind, selbst wenn diese Kant und Hegel lieb und teuer gewesen sein mögen. Das wird einigen wie ein verqueres Projekt erscheinen. Am Ende des dritten Kapitels werde ich aber begriffliche Ressourcen aus allen drei Kapiteln zusammentragen, um anhand ihrer die methodologische Frage aufzugreifen, wie man dieses Projekt im Hinblick auf seine Form, Rechtfertigung und seinen möglichen Wert beurteilen sollte.

1.2 Probleme der frühneuzeitlichen Semantik

Im Zentrum der Neuerungen, die Descartes in der Erkenntnistheorie und der Philosophie des Geistes eingeführt hat, findet sich eine revolutionäre semantische Idee. Er erkannte, dass die aufstrebende neue Naturwissenschaft es erforderlich machte, die alten Vorstellungen vom Verhältnis von Erscheinung und Wirklichkeit aufzugeben. Seit den Griechen herrschte die Idee vor, dass die Weise, wie die Dinge uns erscheinen – zumindest wenn alles gut geht –, ihrem wirklichen Sein ähnlich ist. Bei Ähnlichkeit in diesem Sinne geht es um geteilte Eigenschaften (oder eine allgemeinere Art von Form), so wie zum Beispiel ein realistisches Bild einige Elemente hinsichtlich Gestalt oder vielleicht Farbe mit dem in ihm Dargestellten teilt. Nach Kopernikus’ Erklärung verbirgt sich hinter der Erscheinung einer ruhenden Erde und einer sie umkreisenden Sonne allerdings die Wirklichkeit, dass die Erde um eine ruhende Sonne kreist. Hier findet sich keine Ähnlichkeit. Ebenso verhält es sich mit Galileos Deutung des von ihm sogenannten »Buchs der Natur«, welches »in der Sprache der Mathematik geschrieben« sei: Dieser Deutung zufolge haben wir auf die Wirklichkeit der Bewegung den besten Zugriff, wenn wir geometrische Erscheinungen verwenden, in denen sich ein Zeitabschnitt als Länge einer Linie darstellt und Beschleunigung als Fläche eines Dreiecks. Die Kategorie ÄHNLICHKEIT ist kaum hilfreich, um die Zusammenhänge zu verstehen, die hierbei herausgearbeitet werden. Auch in Descartes’ eigener algebraischer Geometrie ähneln die Gleichungen der Linie und des Kreises in keinster Weise den geometrischen Figuren, über die wir anhand dieser Gleichungen derart effektiv Schlussfolgerungen ziehen können. Descartes erkennt folglich, dass ein abstrakterer Begriff der REPRÄSENTATION benötigt wird – und diese Idee lässt uns seither nicht mehr los.[1]

Descartes dient die Art und Weise, in der algebraische Gleichungen im diskursiven Denken geometrische Figuren repräsentieren, als ein Paradigma repräsentationaler Beziehungen im Allgemeinen und der Beziehung zwischen Erscheinung und Wirklichkeit im Besonderen. Letztere besteht zwischen dem Begriffe verwendenden Geist und der geometrischen, galileischen Welt von ausgedehnten und bewegten Dingen, auf welche der Geist denkend Bezug nimmt, indem er sie repräsentiert. Die Bedingung dafür, dass algebraische Formeln für das schlussfolgernde Denken in Bezug auf geometrische Gegenstände gebraucht werden können – dieses Phänomen diente Descartes ja, wie ich behaupte, als semantisches Paradigma –, ist der globale Isomorphismus dieser zwei Systeme. Wer mag, kann von der Formel und der von ihr repräsentierten Figur weiterhin denken, dass sie etwas gemeinsam haben bzw. einander gewissermaßen ähnlich sind. Was sie aber gemeinsam haben, muss von der Rolle her verstanden werden, die jede von ihnen in dem System spielt, dessen Teil sie ist, also von der Weise her, in welcher die Beziehungen einer Formel zu anderen Formeln auf die Beziehungen einer Figur zu anderen Figuren so abgebildet werden können, dass die Struktur erhalten bleibt. Anders als die horizontalen Beziehungen des Repräsentierenden untereinander sind die vertikalen semantischen Beziehungen zwischen Repräsentierendem und Repräsentiertem unerkennbar und unverständlich. Dieser holistische Charakter des neuen Begriffs der REPRÄSENTATION ging weder bei Spinoza verloren, für den ein auf die Welt Bezug nehmendes Denken nur dadurch möglich ist, dass »die Ordnung und Verknüpfung der Dinge dieselbe ist wie die Ordnung und Verknüpfung der Ideen«,[2] noch bei Leibniz, der von jeder Monade forderte, dass sie ihr gesamtes Universum repräsentieren müsse, um überhaupt etwas von ihm zu repräsentieren.[3]

Während sich Descartes’ Interessen in der Semantik auf das Wesen repräsentationalen Erfolgs konzentrieren, behandelt Kant die fundamentalere Frage nach dem Wesen repräsentationalen Anspruchs. Was heißt es für unsere Vorstellungen, so möchte er wissen, dass sie auf etwas auch nur Bezug zu nehmen scheinen? Was heißt es für uns, sie als etwas Repräsentierendes zu betrachten bzw. zu behandeln? Und was heißt es für sie, sich als etwas Repräsentierendes zu zeigen, wenn damit gemeint ist, dass sie sich für ihre Richtigkeit gegenüber dem verantworten, was von ihnen repräsentiert wird?[4] Um dieses Problem herum gruppieren sich alle anderen Elemente, die sich in Kants Beschäftigung mit jenem Problem finden, das er »Objektivität« nennt. Der Gedankengang, den er zur Beantwortung dieser Fragen entfaltet, hebt mit der Feststellung an, dass sich an der ihm überlieferten Lehre vom Urteil ein entscheidender Mangel findet. Diese Lehre hat ihren Sitz in der traditionellen klassifikatorischen Theorie des Bewusstseins. Dieser wiederum liegt der Gedanke zugrunde, dass einer Sache gewahr sein bedeutet, sie als etwas aufzufassen; paradigmatisch heißt das, etwas Einzelnes als Instanz einer allgemeinen Art zu klassifizieren. In ihrer Gestalt als Urteilstheorie führt sie zu der Auffassung, dass Urteilen darin besteht, einen Begriff von einem anderen zu prädizieren. Zwei Begriffe werden hier zueinander in Beziehung gesetzt, was durch die Kopula angezeigt wird. Das Paradigma der Prädikation besteht darin, dass ein besonderer Begriff unter einen allgemeinen gebracht bzw. ein Begriff von geringerer Allgemeinheit einem Begriff von höherer Allgemeinheit untergeordnet wird.

In einem radikalen Bruch mit der gesamten logischen Tradition vor ihm verwirft Kant dieses Verständnis von Urteilen, und zwar deshalb, weil es nicht auf logisch zusammengesetzte Urteile anwendbar ist:

Ich hab mich niemals durch die Erklärung, welche die Logiker von einem Urteile überhaupt geben, befriedigen können: es ist, wie sie sagen, die Vorstellung eines Verhältnisses zwischen zwei Begriffen. […] [D]as Fehlerhafte der Erklärung [ist], daß sie allenfalls nur auf kategorische, aber nicht hypothetische und disjunktive Urteile paßt, (als welche letztere nicht ein Verhältnis von Begriffen, sondern selbst von Urteilen enthalten), […] aus diesem Versehen der Logik manche lästige Folgen erwachsen sind […].[5]

Es ist lehrreich, einige dieser »lästigen Folgen« zu erläutern. Dieselbe logische Tradition unterscheidet zwischen mentalen Akten und deren Inhalten – das heißt zwischen den zwei Seiten dessen, was bei Sellars notorious ›ing‹/›ed‹ ambiguity genannt wird.[*] Diese Doppeldeutigkeit betrifft Begriffe wie URTEIL, REPRÄSENTATION, ERFAHRUNG und WAHRNEHMUNG; bei ihnen lässt sich das, was man im Urteilen, Repräsentieren, Erfahren oder Wahrnehmen tut, von dem unterscheiden, was beurteilt, repräsentiert, erfahren oder wahrgenommen wird. Ein Gespür für diese Unterscheidung sollte zu der Frage führen, ob sich jene Vorstellung, der zufolge das Urteil eine Prädikation bzw. eine Beziehung zweier Begriffe ist, auf den Urteilsakt oder auf die propositionalen Inhalte solcher Akte bezieht. In diesem Kontext macht der Verweis auf die zusammengesetzten Formen des Urteils, die Kants Urteilstafel bevölkern – also negative, hypothetische, disjunktive und modale Urteile –, die Unangemessenheit dieser traditionellen Weise, Urteile zu verstehen, am deutlichsten.

Es wird so nämlich klar, dass in der traditionellen Theorie dem Begriff der PRÄDIKATION zwei miteinander unvereinbare Aufgaben zugewiesen werden. Einerseits hat er die Aufgabe, rein strukturell neue mögliche Urteilsinhalte aufzubauen, andererseits aber wird sie als eine Art von Tätigkeit begriffen, deren Bedeutung darin besteht, solche Inhalte zu bejahen. Die Kollision dieser beiden Sinngehalte, in denen Prädikation eine »Operation« ist, wird am deutlichsten, sobald man an mögliche Urteilsinhalte denkt, die als nichtbehauptete (nichtbejahte) Bestandteile von komplexeren Sätzen (Urteilen) auftreten. Ein paradigmatischer Fall hiervon ist das Konditional. Wenn ich behaupte ›Wenn Pa, dann Pb‹, dann habe ich nicht behauptet, dass Pa. Aber habe ich P von a prädiziert? Wenn ja, läuft Prädikation nicht automatisch auf Bejahung hinaus – Prädizieren und Urteilen wären nicht identisch. Wenn nein, scheint es sich um eine Äquivokation zu handeln, wenn ich das Konditional folgendermaßen auflöse:

Denn die zweite Prämisse ist in der Tat eine Prädikation, das Antezedens der ersten Prämisse hingegen nicht.

Peter Geach greift diesen Punkt von Kant und Frege auf und führt ihn in seinem meisterhaften und prägnanten Aufsatz »Ascriptivism« argumentativ gegen emotivistische Analysen der Semantik moralischer Wertungen ins Feld.[6] Sein Gegner sind Theorien, welche die normative Bedeutung von Ausdrücken wie ›gut‹ nicht als einen Teil des Inhalts dessen verstehen, was von einer Handlung ausgesagt wird, das heißt nicht als Bestimmung einer ihr zugeschriebenen Eigenschaft, sondern vielmehr als etwas, worin sich die Kraft des Sprechakts zeigt. Etwas gut zu nennen bedeutet demnach, etwas Bestimmtes zu tun – nämlich es zu loben. Geach fragt zunächst, wo dieser Schachzug an seine Grenzen stößt. Er verweist auf das schöne archaische englische Verb ›to macarize‹, das so viel bedeutet wie jemanden glücklich preisen. Bedeutet nun aber die Tatsache, dass es als ein Akt des Preisens (macarizing) aufgefasst werden kann, wenn jemand glücklich genannt wird, dass glücklich zu sein selbst keine Eigenschaft ist, die angeführt wird, um den Inhalt der Behauptung zu bestimmen, dass jemand glücklich ist? Tun wir, indem wir dies sagen, in Wirklichkeit etwas ganz anderes – vollziehen wir einfach nur den besonderen Sprechakt des Preisens (macarizing)? Wenn wir dies aber für ›glücklich‹ behaupten können, warum nicht auch für ›Masse‹ oder ›rot‹? Was sind die Regeln dieses Sprachspiels? Um das aufgeworfene Problem zu lösen, schlägt Geach einen Einbettungstest vor: Man untersuche, ob mit einem Ausdruck ein möglicher Urteilsinhalt gebildet werden kann, der gerade nicht direkt zum Vollzug eines Sprechakts verwendet wird, wie dies paradigmatisch im Antezedenz eines Konditionals der Fall ist. Weil imperative Kraft sich grammatikalisch zeigt, können wir nicht sagen:

*›Wenn mach’ die Tür zu, dann …‹

Tatsächlich können wir aber so etwas sagen wie ›Wenn er glücklich ist, dann bin ich froh‹ und ›Wenn es gut ist, dies zu tun, dann hast du einen Grund dazu‹. Weder habe ich im ersten Fall jemanden gepriesen (macarized), noch im zweiten eine Handlung gelobt. Folglich tragen die Ausdrücke ›gut‹ und ›glücklich‹ zur Bestimmung des Inhalts bei und dürfen nicht als bloße Indikatoren der Kraft (im Sinne Freges) aufgefasst werden. (Ich habe Geachs Aufsatz ›meisterhaft‹ und ›prägnant‹ genannt. Geach diagnostiziert ein tiefgreifendes Missverständnis einer ganzen philosophischen Strömung, bringt das Problem auf den Punkt und lässt es einfach so stehen – der Aufsatz ist gerade mal fünf Seiten lang![7])

Seine Bedenken im Hinblick auf zusammengesetzte Urteilsformen, die mögliche Urteilsinhalte als Bestandteile enthalten, die selbst nicht bejaht werden, zwangen Kant, die Operationen, durch die diese Inhalte entstehen, von derjenigen Tätigkeit zu unterscheiden, in welcher die Resultate dieser Operationen bejaht werden. Die Lehre, der zufolge das Urteil in einer Prädikation besteht, möchte dies beides zugleich haben, keine einzelne ›Operation‹ lässt sich jedoch als etwas verstehen, das sowohl Inhalte bildet als auch eine Stellungnahme zu diesen Inhalten enthält. Sobald wir das erkennen, wird an der Notwendigkeit, dass eine Urteilstheorie auch etwas zu zusammengesetzten Urteilen sagen muss, deutlich, dass der Begriff der Prädikation für beide Zwecke inadäquat ist. Es ist nicht sehr geschickt, die Bejahung von hypothetischen (konditionalen) möglichen Urteilsinhalten als ein Prädizieren aufzufassen; und es ist ebenso ungeschickt, diese Inhalte als etwas aufzufassen, das durch Prädikation gebildet wird.[8]

1.3 Die grundlegende Idee Kants

Das ist der Grund, weshalb Kant die traditionelle klassifikatorische Theorie des Bewusstseins, die davon abhängt, dass Urteilen als Prädizieren verstanden wird, nicht übernehmen konnte. Was aber kann an ihre Stelle treten? Hier findet sich Kants tiefste und originellste Idee – das Zentrum, wie ich glaube, um das herum alle Momente seines Denkens kreisen. Dieser Idee zufolge ist das, was Urteile und intentionale Akte von den Tätigkeiten vernunftloser Lebewesen unterscheidet, nicht eine besondere Form von mentalem Prozess, der in jenen enthalten ist. Vielmehr besteht der Unterschied darin, dass es sich bei Ersteren um etwas handelt, für das Erkenntnis- und Handlungssubjekte in einem spezifischen Sinne verantwortlich sind. Zu urteilen und zu handeln beinhaltet Verpflichtungen;[*] beides sind Bejahungen, also Ausübungen von Autorität. VERANTWORTUNG, VERPFLICHTUNG, BEJAHUNG, AUTORITÄT – dies sind normative Begriffe. Urteile und Handlungen machen Erkenntnis- und Handlungssubjekte für charakteristische Formen normativer Bewertung angreifbar. Kants grundlegende Idee ist, dass geistige Lebewesen von nichtgeistigen nicht anhand eines sachlich ontologischen Kriteriums (dem Vorhandensein einer geistigen Substanz), sondern anhand eines normativ deontologischen Kriteriums unterschieden werden müssen. Hierin besteht seine normative Charakterisierung des Geistigen.

Kant knüpft an die rechtswissenschaftliche Tradition einschließlich Grotius, Pufendorf und Crusius an, indem er über Normen als eine Art von Regel spricht. Zu urteilen und zu handeln – das Bejahen von Behauptungen und Maximen, wodurch man sich selbst darauf verpflichtet, was wahr ist oder sein sollte – bedeutet, dass wir uns selbst durch Normen binden. So machen wir uns zu einem Gegenstand von Bewertungen, die sich an den Regeln orientieren, die Ausdruck der Inhalte jener Verpflichtungen sind. Diese Normen bzw. diese Regeln nennt Kant »Begriffe«. Alles, was ein kantisches Subjekt im strengen Sinne tun kann, ist, Begriffe anzuwenden – entweder theoretisch im Urteilen oder praktisch im Handeln. Diskursive, das heißt Begriffe verwendende Lebewesen sind normative Lebewesen. Sie leben und bewegen sich in einem ihnen eigentümlichen normativen Raum.

Hieraus folgt, dass die dringlichste philosophische Aufgabe darin besteht, das Wesen dieser Normativität, also die Verbindlichkeit oder Gültigkeit begrifflicher Normen, zu verstehen. Descartes fragte sich, wie wir unseren Zugriff auf unsere Begriffe, Gedanken oder Ideen verstehen müssen. (Ist er klar? Ist er deutlich?) Für Kant stellt sich dagegen vielmehr die Frage, wie ihr Zugriff auf uns zu verstehen ist: Unter welchen Bedingungen ist der Gedanke, dass wir durch begriffliche Normen gebunden sind, verständlich?

Einige der charakteristischsten Neuerungen Kants folgen fast unmittelbar aus dieser leitenden Idee. Für die logische Tradition, in der Urteilen als Prädizieren verstanden wurde, war dieses Verständnis Teil einer semantischen Erklärungsordnung, die von partikularen und allgemeinen Ausdrücken oder Begriffen ausgeht, auf dieser Grundlage zu einem Verständnis von Urteilen (möglichen Urteilsinhalten) fortschreitet, dem zufolge diese in der Anwendung allgemeiner Ausdrücke auf partikulare bestehen, und hierauf schließlich eine Erklärung von Inferenz und Folgerung aufbaut. Die Inferenzen und Folgerungen wurden syllogistisch gemäß jener Form von Prädikation und Klassifikation gedeutet, welche an den Urteilen zum Ausdruck kommt, die in ihnen als Prämissen und Konklusionen fungieren. In einem radikalen Bruch mit dieser Tradition begreift Kant das ganze Urteil in begrifflicher wie auch in explanatorischer Hinsicht als Grundeinheit. Es ist Grundeinheit sowohl des Bedeutungsgehalts, des Erkennens, des Gewahrseins als auch der Erfahrung.[9] Begriffe und ihre Inhalte müssen allein von ihrem Beitrag her verstanden werden, den sie zum Urteil leisten – Begriffe sind Funktionen von Urteilen. Warum? Kant wählt diese semantische Erklärungsordnung, weil Urteile minimale Einheiten der Verantwortung sind; sie sind die kleinsten semantischen Bestandteile, die eine Verpflichtung ausdrücken können. Das semantische Primat des Propositionalen ist eine Folge der zentralen Rolle, die Kant der normativen Bedeutung unserer begrifflich gegliederten Akte zuerkennt. Dieser Gedanke taucht in der Behauptung Freges wieder auf, dass mögliche Urteilsinhalte die kleinsten Einheiten sind, denen pragmatische – paradigmatisch behauptende – Kraft zukommen kann. Beim späten Wittgenstein taucht sie als die Behauptung auf, dass Sätze die kleinsten linguistischen Einheiten sind, mit denen wir einen Zug in einem Sprachspiel machen können.

Das normative Verständnis des Urteilens, dem zufolge es im Eingehen einer spezifischen Form von Verantwortung besteht, ist zugleich für die Grundzüge der kantischen Erklärung der Form des Urteils verantwortlich. Die subjektive Form des Urteils ist das »Ich denke«, welches, wie uns gesagt wird, alle unsere Urteilsakte begleiten kann und so, in seiner reinen Formalität, die gehaltloseste aller Vorstellungen ist. Diese Vorstellung zeigt im Sinne der normativen Pragmatik des Urteilens an, wer für das Urteil verantwortlich ist. (Entsprechendes gilt für das Bejahen praktischer Maximen.) Das »Ich denke« zeigt die Beziehung eines Urteilsakts zur »ursprünglich-synthetischen Einheit der Apperzeption« an, der er angehört. Ich werde gleich mehr darüber sagen, wie Kant diesen zentralen Begriff verwendet. Die Idee dahinter ist aber, dass eine grundlegende Voraussetzung der normativen Bedeutung von Verpflichtungen darin besteht, Bejahungen in Klassen zusammengehöriger Verantwortlichkeit (co-responsibility classes) einzuteilen. Wenn ich mich zum Beispiel darauf verpflichte, dass dieses Tier hier ein Fuchs ist oder dass ich Sie morgen früh zum Flughafen fahre, dann verbietet mir das, mich darauf zu verpflichten, dass das Tier ein Hase ist oder dass ich morgen ausschlafe (nämlich insofern ich zu solchen Verpflichtungen nicht berechtigt bin); sie schränken jedoch nicht gleichermaßen ein, welche Verpflichtungen andere eingehen können.

Die objektive Form des Urteils ist Kant zufolge »Der Gegenstand = X«, worauf sich Urteile, eben aufgrund ihrer Form als Urteile, immer implizit beziehen. Im Sinne der normativen Pragmatik des Urteils zeigt die objektive Form an, gegenüber was sich jemand verantwortlich macht, indem er ein Urteil fällt. Sie drückt die Objektivität von Urteilen aus, den Umstand also, dass Urteile intentionale Gegenstände haben – dasjenige, was sie zu repräsentieren beanspruchen. Das Verständnis der intentionalen Gerichtetheit von Urteilen – die Tatsache, dass sie etwas repräsentieren bzw. darauf Bezug nehmen – ist durch und durch normativ. Dasjenige, worauf ein Urteil Bezug nimmt, ist der Gegenstand, welcher die Richtigkeit der Verpflichtung bestimmt, die jemand eingeht, insofern er das Urteil bejaht. (Auf praktischer Seite sind es die normativen Bewertungen des Erfolgs einer Handlung, für die man auf den Gegenstand verweisen muss, gegenüber dem man sich durch das Bejahen einer Maxime verantwortlich gemacht hat.) Mit der Bejahung eines Urteils macht man sich für spezifische Formen normativer Bewertung angreifbar. Worauf man im Denken und Reden Bezug nimmt, spielt eine besondere Rolle, insofern es eine besondere Form von Autorität in solchen Bewertungen ausübt. Etwas zu repräsentieren, das heißt auf etwas im Reden Bezug zu nehmen oder an etwas zu denken, bedeutet, dessen semantische Autorität über die Richtigkeit jener Verpflichtungen anzuerkennen, die man im Urteilen eingeht. Repräsentationaler Anspruch ist ein normatives Phänomen. Von ihm her muss, wie sich zeigen wird, auch der repräsentationale Inhalt verstanden werden.

1.4 Die normative Pragmatik des Urteilens und die Beschaffenheit möglicher Urteilsinhalte

Neben der Frage, wer für einen Urteilsakt und gegenüber was dieser verantwortlich ist, gibt es noch zwei andere Elemente, die man in einer normativen Pragmatik des Urteilens behandeln sollte:

– Wofür macht sich jemand verantwortlich, indem er urteilt?

– Was tut jemand, wenn er sich verantwortlich macht, sich verpflichtet bzw. etwas bejaht?

Die erste Frage zielt darauf, wie wir mögliche Urteilsinhalte verstehen müssen. Die zweite Frage benennt eine Herausforderung, nämlich die Herausforderung, die skizzierte Auffassung des Urteilens auszubuchstabieren, der zufolge Urteilen als ein normativer Akt, als Änderung des eigenen normativen Status, als Übernehmen einer Form von Verantwortung verstanden wird. Dies ist das entscheidende Problem. Denn auf Grundlage der Antwort auf diese Frage müssen wir sowohl die beiden Dimensionen des Inhalts verstehen – wofür sich jemand in seinem Urteilen verantwortlich macht und gegenüber was er sich so verantwortlich macht – als auch das Wesen des Subjekts dieser Verantwortungen. An dieser Stelle stoßen wir, wie ich meine, auf Kants nächste große Idee.

Diese Idee besteht darin, dass die Verantwortung, die jemand durch sein Urteilen übernimmt (Ähnliches lässt sich über das Bejahen einer praktischen Maxime sagen), der Gattung nach eine Form von praktischer Verantwortung (task-responsibility) ist – eine Verantwortung, etwas zu tun. Insbesondere handelt es sich bei ihr um die Verantwortung, das Urteil in eine Einheit der Apperzeption zu integrieren. Die Tätigkeit des Synthetisierens von etwas zu einer Einheit der Apperzeption liefert uns den Hintergrund und den Zusammenhang, vor bzw. in dem mentale Episoden die Bedeutung von Urteilsakten erhalten. Diese Tätigkeit zu vollziehen bringt eine synthetische Einheit der Apperzeption – ein Selbst bzw. Subjekt – hervor, erhält und entwickelt sie. Was muss man hierfür tun? Man muss neue Bejahungen in das Ganze seiner bisherigen Bejahungen integrieren. Eine Synthesis aufgrund sukzessiver Integration kann so gedacht werden, dass sie drei Arten von Tätigkeit umfasst: Kritik, Erweiterung und Rechtfertigung. Die Verantwortung eines jeden zur Kritik besteht darin, material miteinander unvereinbare Verpflichtungen auszumerzen.[10] Das bedeutet, mögliche Urteile zu verwerfen, die mit dem unvereinbar sind, was man bereits an Verpflichtungen und Verantwortungen hat, oder die widersprechenden früheren Verpflichtungen aufzugeben. Wer urteilt, hat als solcher die Pflicht, auf solche Verpflichtungen zu verzichten, die mit seinen anderen Verpflichtungen unvereinbar sind bzw. derartige Verpflichtungen zur Folge haben. Sind zwei Verpflichtungen nämlich miteinander unvereinbar, so fungiert jede als ein Grund dafür, die jeweils andere aufzugeben.

Die Verantwortung zur Erweiterung besteht darin, die material-inferentiellen Folgerungen aus jeder der eigenen Verpflichtungen zu entfalten, alter wie neuer, und dies im Zusammenhang mit Hilfsannahmen und zusätzlichen Prämissen, die aus den übrigen eigenen Verpflichtungen genommen werden. Jede Verpflichtung gibt einem einen Grund, andere Verpflichtungen zu akzeptieren, die man insofern akzeptieren soll, als man sich bereits durch das Anerkennen der Verpflichtung, aus der sie folgen, implizit auf sie verpflichtet hat. Die Verantwortung zur Rechtfertigung besteht darin, darauf vorbereitet zu sein, Gründe für die eigenen anerkannten (theoretischen wie praktischen) Verpflichtungen anzugeben. Zu diesem Zweck führt man frühere Verpflichtungen an (oder geht weitere Verpflichtungen ein), die einen inferentiell zu diesen neuen Verpflichtungen berechtigen. Indem wir bestrebt sind, die zuerst genannte Form von Verantwortung zu erfüllen, zielen wir auf eine ganze Konstellation von Verpflichtungen, die in sich konsistent ist. Indem wir bestrebt sind, die zweite zu erfüllen, zielen wir auf eine solche Konstellation, die vollständig ist. Und indem wir bestrebt sind, die dritte zu erfüllen, zielen wir auf eine Konstellation von Verpflichtungen, die berechtigt ist. (Vielleicht wird an dieser Stelle deutlich, wie Kant der Meinung sein kann, dass die systematischen Pflichten des Philosophen lediglich die explizite Form genau derselben Pflichten sind, denen rationale Erkenntnis- und Handlungssubjekte als solche implizit unterliegen.)

Durch das praktische Anerkennen dieser praktisch-integrativen Verantwortungen zur Kritik, Erweiterung und Rechtfertigung wird eine Einheit hervorgebracht, erhalten und entwickelt, und zwar genau in dem Sinne, dass man von den Normen der Integration geleitet und gemäß ihnen bewertet wird. Sie ist eine synthetische Einheit, insofern sie durch die Tätigkeit der Synthesis, das heißt durch das Integrieren unterschiedlicher Verpflichtungen in eine solche Einheit, hervorgebracht wird.[11] Sie ist eine ursprüngliche synthetische Einheit der Apperzeption, weil ein Akt bzw. eine mentale Episode in erster Linie dadurch zu einem Urteilsakt wird, dass er dem normativen Erfordernis unterliegt, in ein systematisch vereinigtes Ganzes dieser Art integriert zu werden.[12] Und das Gewahrsein im Sinne der Apperzeption (was vielmehr eine Sache der Verstandes- als der bloßen Empfindungsfähigkeit ist) ist das Urteil: Apperzipieren heißt Urteilen.[13] Es ist aufschlussreich, dass Kant das Ergebnis dieser synthetischen Tätigkeit auch als transzendentale Einheit der Apperzeption bezeichnet. Sie ist nämlich transzendental, insofern wir von ihr her die Beziehung zu den Gegenständen – die Repräsentation derselben – verstehen müssen, welche eine wesentliche Dimension des Inhalts von Urteilen ist. Der Schlüssel zu Kants Theorie der Repräsentation liegt in seinen Ausführungen darüber, auf welche Weise wir repräsentationalen Anspruch von der Tätigkeit her verstehen müssen, in der etwas zu einer ursprünglichen Einheit der Apperzeption synthetisiert wird – einer Tätigkeit also, wie ich sie bisher beschrieben habe. Es wird helfen, wenn wir uns diesen Ausführungen in Etappen nähern.

Als Antwort auf seine prinzipielle Zurückweisung der traditionellen Erklärungen des Urteils als Prädikation habe ich Kant bislang zwei Schachzüge zugeschrieben:

– Die Tätigkeit des Urteilens wird normativ verstanden, nämlich als das Eingehen einer Form von Verantwortung oder Verpflichtung.

– Diese Form von Verantwortung wird als eine praktische Verantwortung verstanden, also als eine Verpflichtung, etwas zu tun. Sie ist eine Verpflichtung dazu, den möglichen Urteilsinhalt, den man bejaht, in eine synthetische Einheit der Apperzeption zu integrieren.

Im Lichte der rechtfertigenden, erweiternden und kritischen Dimension dieser praktischen, synthetisch-integrativen Verantwortung lässt sich der zuletzt genannte Punkt auch wie folgt ausdrücken: Wir sind dafür verantwortlich, Gründe für unsere je eigenen Akte des Bejahens zu haben, die Inhalte, die wir bejahen, als Gründe für und gegen die Bejahung anderer Inhalte zu nutzen und mögliche gegenläufige Gründe zu berücksichtigen. Dies bedeutet, dass wir als normative Lebewesen rationale Lebewesen sind. Damit ist nicht gemeint, dass wir immer oder auch nur in den meisten Fällen so denken und handeln, wie es unsere Gründe von uns verlangen, oder auch nur, dass wir gewöhnlich gute Gründe für das haben, was wir tun und denken. Gemeint ist vielmehr, dass wir in Hinblick auf unsere Gründe, so zu denken, wie wir denken, bzw. das zu tun, was wir tun – gleichgültig ob wir etwas tun oder nicht –, immer für normative Bewertungen angreifbar sind. Wie empfänglich auch immer wir in Wirklichkeit in jeder einzelnen Situation für die normative Kraft von Gründen sein mögen (diese eigentümliche Kraft, die, verbindlich und dennoch nicht immer zwingend, die griechischen Philosophen der Antike so faszinierte und verblüffte), wir sind allein dadurch die Art von Lebewesen, die wir sind – Erkenntnis- und Handlungssubjekte, Lebewesen, deren Welt durch die Verpflichtungen und Verantwortungen, die wir eingehen, strukturiert ist –, dass wir immer für normative Bewertungen unserer Gründe angreifbar sind.

Die Normen, durch welche Urteilsinhalte gegliedert sind, sind Begriffe. Das Vermögen der Begriffe, der Verstand, ist das Vermögen zu urteilen. Die Inhalte von Urteilen werden durch Begriffe gegliedert, indem diese bestimmen, wofür jemand Verantwortung übernehmen, worauf er sich verpflichten würde, sobald er diese Inhalte bejaht. Kant fasst Begriffe als eine Art von Regel auf. Wofür aber sind sie Regeln? Sie sind Regeln für das Synthetisieren von etwas zu einer Einheit der Apperzeption. Und das bedeutet, es handelt sich um Regeln, die gliedern, was ein Grund wofür ist. In ihrer Anwendung bestimmen die Begriffe, was aus einer gegebenen Behauptung (dem möglichen Inhalt einer Behauptung) folgt, worauf man sich mit ihrer Bejahung also (auch noch) verpflichtet bzw. wofür man sich verantwortlich macht. Sie bestimmen, was als ein rationaler Beleg für oder gegen einen möglichen Urteilsinhalt bzw. was als Rechtfertigung desselben gilt; sie bestimmen mithin, was als ein Grund gelten würde, der für oder gegen eine Bejahung des Inhalts spricht.

Für die Aufgabe, ein Urteil (bzw. eine praktische Maxime) in eine synthetische Einheit der Apperzeption zu integrieren, gibt es nur dann bestimmte[*] Kriterien, anhand deren wir bei ihr über Erfolg und Misserfolg entscheiden können, wenn Urteile Inhalte haben, die in materialen Beziehungen der inferentiellen Folgerung oder Unvereinbarkeit zueinander stehen. Nur dann kann ein Erkenntnissubjekt eine bestimmte praktisch-integrative Verantwortung zur Kritik haben, wenn feststeht, welche möglichen Urteilsinhalte mit welchen anderen material unvereinbar sind, so dass das Bejahen einiger gute Gründe dafür liefert, andere zu verneinen. Und ein Erkenntnissubjekt kann nur dann eine bestimmte praktisch-integrative Verantwortung zur Erweiterung oder Rechtfertigung haben, wenn feststeht, welche Urteile uns inferentiell auf welche anderen Urteile verpflichten bzw. zu ihnen berechtigen und somit gute Gründe dafür liefern, diese weiteren Urteile zu akzeptieren. Die im Urteilen angewandten Begriffe gliedern den Inhalt des jeweiligen Urteils (den möglichen Urteilsinhalt, für den man verantwortlich wird), insofern sie die materialen Inferenzbeziehungen und Unvereinbarkeiten spezifizieren, in denen dieser Inhalt zu anderen Inhalten steht. Dadurch nämlich wird festgelegt, wozu jemand Verantwortung übernimmt, indem er das Urteil fällt. Der begriffliche Inhalt liefert in diesem Sinne die Details der synthetisch-integrativen Verantwortung, die man hierbei eingeht. Die beiden zusammengehörigen Ideen des möglichen Urteilsinhalts und der Verantwortung für einen solchen Inhalt, insofern man diesen bejaht bzw. sich auf ihn verpflichtet, werden hier von einer basalen Form praktischer Verantwortung her verstanden – der Verantwortung, etwas zu tun (nämlich das Urteil in eine normative Einheit der Apperzeption zu integrieren).

Die Weise, wie Kant sich den Akt bzw. die Tätigkeit des Urteilens denkt, legt fest, wie er den Inhalt eines gefällten Urteils verstehen muss. Indem er die semantische Erklärung des Inhalts an die pragmatische Erklärung der Kraft (in Freges Sinne) knüpft – die Art und Weise, in der seine Erläuterung dessen, worin der Akt des Bejahens besteht, seine Erläuterung des Bejahten formt –, vertritt Kant eine Form des methodologischen Pragmatismus. Dieser Pragmatismus behauptet nicht ein explanatorisches Primat der praktisch-diskursiven gegenüber der theoretisch-diskursiven Tätigkeit, sondern vielmehr ein explanatorisches Primat des Akts gegenüber dem Inhalt, und das sowohl im theoretischen als auch im praktischen Bereich. Kants explanatorisches Primat der Tätigkeit des Synthetisierens von etwas zu einer Einheit der Apperzeption findet Nachklang im auf ihn folgenden Deutschen Idealismus und wird besonders von Fichte und Hegel aufgegriffen und weiterentwickelt.

Die argumentative und explanatorische Struktur, die, wie ich angedeutet habe, Kants Kernidee des fundamental normativen Charakters des Urteilens leitet und (in einem pragmatistischen Geist) ausarbeitet, erlaubt es uns, über das Verhältnis der folgenden vier Punkte zueinander nachzudenken:

(1) Was muss man tun, um im relevanten Sinne für einen möglichen Urteilsinhalt (oder eine praktische Maxime) Verantwortung zu übernehmen bzw. sich auf ihn (ober sie) zu verpflichten? – Man muss die Tätigkeit des Synthetisierensintegriert