INHALT

  1. Über das Buch
  2. Über die Autoren
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Vorwort
  6. Einleitung
  7. Kapitel 1 – Homo Sapiens 1.0
  8. Die Evolution prägt uns bis heute
  9. Zum Laufen prädestiniert?
  10. Brennstoff
  11. Empathie
  12. Kapitel 2 – Woran wir leiden
  13. Krankheiten sind weniger das Problem, sondern alle möglichen Wehwehchen
  14. Alles dreht sich um Glukose
  15. Autoimmun
  16. Kapitel 3 – Ernährung
  17. Die Wirkung von Kohlenhydraten
  18. Fallstudie
  19. Mary Beth Stutzman
  20. Kohlenhydrate zu Zucker
  21. Wie die Fettphobie entstand
  22. Warum Abwechslung in der Ernährung so wichtig ist
  23. Zurück zu Mary Beth Stutzman
  24. Aber Vorsicht: Auch die Evolution kann eine zweischneidige Sache sein
  25. Kapitel 4 – Der Körper in Bewegung
  26. Gehirnaufbau durch Bewegung
  27. Der Aufbau des Gehirns
  28. Erziehung ist in erster Linie Körperertüchtigung
  29. Ein Lauf im Freien
  30. Kluge Bewegung
  31. Die Entdeckung einer neuer Bewegungsart
  32. Tiefenschichten
  33. Kapitel 5 – Der Körper in Ruhe
  34. Warum Schlaf uns so guttut
  35. Die Geschichte von Beverly Tatum
  36. Schlaf und Gemeinschaft
  37. Sprechen wir noch einmal von Abwechslung
  38. Kapitel 6 – Achtsamkeit
  39. Was der ungezähmte Geist enthüllt
  40. Die Wissenschaft entwickelt sich
  41. Die Verbindung zum Stress
  42. Gehirnaufbau
  43. Achtsamkeit für jedermann
  44. Kapitel 7 – Biophilie
  45. Wie wir unser besseres Ich in der Natur finden können
  46. Weitere Verstärkungseffekte
  47. Die Launen der Natur
  48. Kapitel 8 – Sippen und Stämme
  49. Das Molekül, das uns aneinander bindet
  50. Bewegung in Gemeinschaft
  51. Das Bindemittel
  52. Die menschliche Kerneigenschaft
  53. Kapitel 9 – Zentralnervensystem
  54. Wie der Körper Gesundheit und Glück miteinander verbindet
  55. Der altertümliche Nerv
  56. Verbindung zu körperlichem Wohlbefinden
  57. Traumatische Belastungen
  58. Jenseits von Stress
  59. Kapitel 10 – Persönliche Bemerkungen
  60. Was wir gemacht haben und was Sie tun können
  61. John Ratey
  62. Richard Manning
  63. Unsere Vorschläge für Sie
  64. Danksagungen
  65. John Ratey
  66. Richard Manning
  67. Register

Über das Buch

Seit 40000 Jahren haben sich unser Körper und Gehirn kaum, unsere Lebensweise durch die Zivilisation jedoch dramatisch verändert. Das tut uns nicht gut. Krankheiten wie Diabetes, Stress oder Burnout nehmen zu. Wir leiden an einer Naturdefizit-Störung, sagt der renommierte Psychiater und Mediziner John Ratey. »Raus in die Wildnis! Weniger ist mehr!«, lautet daher sein Rat. Schalten Sie Fernseher und Smartphone aus, bewegen Sie sich im Grünen. Anhand neuester Wissenschaftserkenntnisse zeigen Ratey und Co-Autor Manning, wie Aufenthalte in der Natur, mehr Schlaf, gezielte Ernährung und Achtsamkeit unser Wohlbefinden und die Gesundheit steigern.

Über die Autoren

Richard Manning ist ein preisgekrönter Journalist und Autor zahlreicher Bücher. Seine Artikel erscheinen in Best American Science and Nature Writing, Harper´s, New York Times und Los Angeles Times.

John Ratey ist Professor für Psychiatrie an der Harvard Medical School. Er ist Autor zahlreicher Bestseller über das Gehirn und zu Gesundheitsfragen, u.a. (gemeinsam mit Edward M. Hallowell): Zwanghaft zerstreut oder die Unfähigkeit, aufmerksam zu sein, TB 11,99 Euro.

John J. Ratey
Richard Manning

Zivilisationskrank

Wie wir unsere biologische
Natur mit dem modernen
Leben versöhnen

Aus dem Amerikanischen
von Wolfgang Seidel

BASTEI ENTERTAINMENT

VORWORT

Jeder Autor sieht mit etwas Bangen einer Übersetzung seiner Texte entgegen, denn einiges von dem, was er in seinen gedruckten Zeilen zum Ausdruck bringen möchte, steht auch zwischen den Zeilen. Das ist unausweichlich so, denn sprachlicher Ausdruck ist immer rückgebunden an die spezifischen und einzigartigen Möglichkeiten der jeweiligen Sprache, und das ist zunächst die Muttersprache des Autors. Dies gilt umso mehr für einen Text und ein Buch, das bis in die Gefühlswelt hinein die Komplexität der eigenen Lebensweise zum Gegenstand hat. Doch bei der Vorbereitung dieser Ausgabe ging es uns zu unserer Überraschung einmal ganz anders. Wir haben im Gegenteil den Eindruck gewonnen, dass durch die Übersetzung nichts verlorengegangen ist, sondern dass durch die Übertragung in die deutsche Sprache und durch den Zusammenhang mit der Kultur in Deutschland einige uns wichtige Gedanken noch besser und anschaulicher zum Ausdruck kommen.

Das wurde uns klar, als der Übersetzer unseres Buches, Wolfgang Seidel, uns einen Hinweis auf Fußball übermittelte, auf den er offensichtlich im Laufe seiner Arbeit am Text gestoßen war. Im Urtext, in unserer amerikanischen Originalausgabe, wird Fußball gar nicht erwähnt, aber Seidel konnte zwischen den Zeilen lesen, dass davon sehr wohl die Rede war. In dieser Sportart und in der damit verbundenen Fußballbegeisterung ist so viel von dem enthalten, was das Thema und das Hauptanliegen des ganzen Buches darstellt. Im Buch werden eine ganze Reihe von Themen erörtert wie Ernährung, Bewegung, Evolution, archaische Hetzjagden und sehr viel komplexere Konzepte wie Empathie und sozialer Zusammenhalt; wir glauben, dass all diese Themen auch Kernpunkte der menschlichen Evolution sind, dass sie die wilde, ungezähmte Seite in uns grundlegend geprägt haben. Und wie Seidel ganz richtig erfasst hat, kommt all dies im Fußballspiel anschaulich und nachvollziehbar zusammen.

Wenn die Menschen Fußball spielen, dann bewegen sie sich natürlich sehr intensiv, es ist ein Laufsport, und er wird praktisch immer draußen, im Freien ausgeübt, also nicht in Hallen oder Fitness-Studios. Es ist ein Mannschaftsspiel, vergleichbar mit einem Jägerstamm bei einer archaischen Hetzjagd. Und wie diese Jäger sind die Spieler auf Empathie angewiesen, um miteinander kommunizieren zu können – so wie es seit mehr als 50 000 Jahren in unsere Gene eingeprägt wurde. Eine Fußballmannschaft ähnelt solch einer Jägergemeinschaft, sie leben oder trainieren gemeinsam, sie lernen, wie jeder andere Mitspieler »tickt«, wann der andere nur antäuscht, wie die Mitspieler reagieren. So werden sie quasi zu Empathie-Experten. Fußball zu spielen stellt für das Gehirn sicherlich eine noch größere Herausforderung dar als beispielsweise ein Dauerlauf im Freien – es greifen noch mehr Rückkoppelungseffekte ein; dadurch werden wir noch besser auf die Herausforderungen des Lebens vorbereitet und können uns noch besser an Veränderungen anpassen. Alle diese Dinge stehen im Zentrum unseres Buches, und sie sind gleichzeitig die Grundlage dafür, dass sich so viele Menschen für Fußball begeistern. Das ist keineswegs zufällig so.

Die tiefe Bindung des Menschen an die Natur, ja das Eingebundensein in die Natur und die Vorgaben der Natur für die Art und Weise, wie wir leben sollen, sind unserem Körper und Geist tief eingeprägt, ja geradezu genetisch codiert. Unsere Leidenschaften, das, wofür wir uns begeistern, folgen diesen Vorgaben unwillkürlich. Es ist Teil unserer Evolution, die Natur zu lieben und zu respektieren und allem Natürlichen leicht zu folgen. Dieser Gedanke ist keineswegs neu, vor allem auch in der deutschen Kultur. Genau aus diesem Grund sehen wir der deutschen Ausgabe unseres Buches mit großer Erwartung entgegen. Daher möchten die Autoren die Gelegenheit gerne nutzen, eine intellektuelle Dankesschuld abzustatten in Anerkennung dessen, was das amerikanische Denken dem Denken der Deutschen verdankt.

In den Vereinigten Staaten gibt es immer noch riesige Gebiete praktisch unberührter Natur, reine Wildnis also, die auch durch Gesetze geschützt und bewahrt werden soll. Wilde, unberührte Natur ist einer der grundlegenden Faktoren, welche die amerikanische Kultur und Zivilisation nachhaltig geprägt haben. Diese Wertschätzung alles Wilden und Ungezähmten und der Lektionen, die die Wildnis für unser modernes Leben bereithält, ist einerseits wirklich etwas spezifisch Amerikanisches. Andererseits ist den Autoren sehr wohl bewusst, und sie wissen es auch sehr zu schätzen, dass wir Amerikaner die sinnhafte Wahrnehmung dafür wesentlich aus Deutschland übernommen haben. Das lässt sich sehr gut belegen.

Der Vater der amerikanischen philosophischen Ideen vom Leben im Einklang mit der Natur ist Henry David Thoreau. Für uns Autoren war er beim Verfassen dieses Buches sozusagen im Hintergrund immer präsent, und von ihm stammt der Satz: »Die Bewahrung der Welt liegt in der Wildnis.« Wir hätten es selbst nicht besser ausdrücken können. Genauso wie Thoreau selbst sprechen wir dabei nicht nur von der äußeren Welt, sondern auch von der inneren Welt. Naturbelassene Wildnis ist das beste Ökosystem, und wenn wir uns in der Wildnis aufhalten, sorgt die gleichzeitig für unser inneres Ökosystem.

Thoreau gehörte zum Transzendentalismus. Diese geistige Bewegung entwickelte sich in Amerika in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts hauptsächlich in Boston. Sie war entstanden, nachdem etliche Amerikaner extra Deutsch gelernt haben, um anschließend Deutschland, Österreich und die Schweiz zu bereisen und bei Schlüsselfiguren der deutschen Romantik und des deutschen Idealismus wie Immanuel Kant, Friedrich Heinrich Jacobi, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling und Johann Wolfgang von Goethe zu studieren. So wurden diese zu den eigentlichen Urhebern der amerikanischen Idee von der Wildnis.

Noch grundlegender sogar von der Vorstellung »des Wilden«. Sogar das Wort selbst, das Wort wild im Englischen, geht auf das deutsche Wort Wald zurück, beide haben einen gemeinsamen Ursprung.

Im Lauf der Zeit haben sich diese gedanklichen Pfade und dieser geistige Austausch wieder getrennt, und sie haben in den beiden unterschiedlichen Kulturen ihre je eigene Entwicklung genommen. Deswegen sind wir beide gespannt, wie sich die Diskussion entwickeln wird, wenn wir beides in unserem bescheidenen Rahmen wieder zusammenbringen. Auf jeden Fall zeigt sich unser geliebter Fußball nun auch in einem ganz neuen Licht.

EINLEITUNG

Go Wild. Wenn man den amerikanischen Originaltitel hört, denkt man im ersten Moment vielleicht an Schulkinder, die außer Rand und Band herumspringen, wenn der letzte Schultag vor den großen Ferien vorbei ist. Daher ist es durchaus berechtigt, erst einmal zu fragen: Was ist damit gemeint? Wenn nicht ausflippende Schulkinder, dann vielleicht irgendwelche Nudisten oder Sonnenanbeter auf einer einsamen Insel oder urzeitliche Jäger im Lendenschurz, die ihre Speere nach Antilopen werfen oder Löwen verscheuchen? An so etwas Aufregendes ist nicht gedacht, aber man kommt der Sache schon näher. »Wild« ist heutzutage ein ziemlich überstrapaziertes Wort, das mit einer Fülle von Bedeutungen aufgeladen sein kann. Wir hingegen wollen uns auf seine ursprüngliche Bedeutung besinnen, um es sinnvoll benutzen zu können – sinnvoll für unser persönliches Wohlbefinden.

Was wir damit meinen, ist einfach zu erfassen. Man denke an »wild« im Gegensatz zu »zahm«, an einen Wolf im Gegensatz zu einem Hund, an ein Bison im Gegensatz zu einer Kuh. Behalten wir für einen Moment die gleiche Art der Unterscheidung im Hinterkopf, wenn wir dies auf den Menschen übertragen und an »die Wilden« denken. Das ist nicht ganz so abwegig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Denn wenn man in längeren geschichtlichen Zeiträumen denkt – wenige zehntausend Jahre zurück genügt schon –, dann waren alle Menschen »Wilde«. Die gleichen Umstände und Kräfte, durch die Wolfshunde zu Haushunden domestiziert wurden, zähmten auch die »wilden« Menschen. Dies ist der Prozess der Zivilisation, und es liegt auf der Hand, dass er der Menschheit viele Vorteile gebracht hat. Wir wollen das keineswegs abstreiten. Das, worum es uns geht, hat mehr mit Genen, Evolution und Zeit zu tun. Die Evolution des Menschen vollzog sich fast ausschließlich unter den Bedingungen des Lebens in der freien Wildnis. Auch der moderne Mensch lebt genetisch noch unter den annähernd gleichen Bedingungen. Unsere Gene sind auf ein Leben und Überleben in freier, wilder Natur programmiert. Wenn wir es uns mit diesem Genprogramm in gezähmten, domestizierten, zivilisierten Lebensumständen bequem machen, machen wir uns krank und unglücklich.

Wir werden Ihnen eine ganze Reihe faszinierender Details aufzeigen, die sich aus diesem Genprogramm ergeben: dass Menschen dazu geboren sind, sich mit Anmut zu bewegen, dass es sozusagen in unseren Genen steckt, uns für Neues zu interessieren, dass wir uns von Natur aus zu offenen Räumen hingezogen fühlen, und vor allem, dass wir zur Liebe geboren sind. Eine weitere grundlegende Tatsache der menschlichen Existenz ist die Fähigkeit zur Heilung im Sinne der Selbstheilung. Dahinter steckt das Konzept der sogenannten Selbstregulierung, ein ganz fabelhaftes Reparatursystem angesichts des Verschleißes und des Stresses des alltäglichen Lebens. Daran denken wir im Wesentlichen, wenn wir von Go Wild sprechen.

Zu Beginn unseres Plädoyers für Go Wild zeigen wir Ihnen die wahrhaft dramatischen Folgen des Zivilisationsprozesses auf, die in mancher Hinsicht in die Katastrophe führen. Die weltweit wichtigsten Krankheits- und Todesursachen – Killer wie Herzkrankheiten, Fettleibigkeit, Depression, Krebs – sind der Preis, den wir zahlen, wenn wir unser eigenes Genprogramm ignorieren. Dabei ist es gar nicht so schwierig, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, diese Fehlentwicklung ganz individuell, durch persönliches Verhalten, wieder einzurenken. Das bewirkt das Wunder der Selbstregulierung. Die Aufgabe besteht darin, gewohnte Trampelpfade zu verlassen, um es dem Körper zu ermöglichen, seine Selbstheilungskräfte zu entfalten. Sie sind ein Geschenk der Evolution. Die Schritte dorthin sind leicht nachzuvollziehen, selbst in der modernen Zivilisation. Wir tragen hier keine bloßen Theorien oder Vermutungen vor. Viele Menschen haben diese Schritte bereits vollzogen, auch die Autoren dieses Buches. Wenn Sie unseren Gedanken folgen, werden Sie eine ganz neue Einstellung zu den natürlichen Lebensumständen des Menschen gewinnen. Dazu sollte unter anderem die Erkenntnis zählen, dass alles, was wir tun und denken, miteinander verbunden ist. All das beeinflusst unser Wohlbefinden. Diese an sich einfache Erkenntnis widerspricht in geradezu eklatanter Weise den grundsätzlichen Kategorien westlichen Denkens in den Wissenschaften und vor allem in der modernen Medizin. Die wissenschaftlichen Prinzipien fordern, ein Problem analytisch in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen, die fehlerhafte Komponente zu definieren, zu reparieren oder zu ersetzen. Das funktioniert bei Maschinen tadellos, aber wir sind keine Maschinen. Wir sind Geschöpfe der Wildnis, wilde Tiere. Und das oberste Prinzip der Wildnis lautet: Stelle dich auf Komplexität ein.

Es ist eine Tatsache, dass Ihre depressive Stimmung nicht nur ein bestimmter Geisteszustand ist, der sich irgendwo im Gehirn lokalisieren lässt. Sie kann direkt mit Ihren sportlichen (vielmehr: unsportlichen) Gewohnheiten zu tun haben oder damit, welche Gemüse oder Proteinarten Sie zu sich nehmen. Die Ursache für Ihre Fettleibigkeit könnte mit Ihrer Ernährung zu tun haben, aber genauso gut mit einer Infektion oder Schlafmangel – oder, selbst das ist denkbar, mit dem zu geringen Geburtsgewicht Ihrer Großmutter mütterlicherseits. Möglicherweise lassen sich Ihre beruflichen Probleme durch lange Spaziergänge in den Bergen mit Ihrem Hund lösen.

Jeder weiß, dass der Oberschenkelknochen mit dem Hüftknochen verbunden ist. Diese Erkenntnis wollen wir sehr viel weiter ausdehnen, um Ihnen eine Vorstellung von der enormen Komplexität und der Vernetzung verschiedener Aspekte des menschlichen Lebens zu geben.

In den folgenden Kapiteln werden wir das Thema Schritt für Schritt aufrollen, indem wir die relevanten Hauptpunkte in Unterthemen aufgliedern; darunter finden sich dann auch einige der üblichen Verdächtigen. Wir beginnen mit einigen grundlegenden Sachverhalten wie Ernährung und sportlichem Training, aber das soll nicht bedeuten, dass wir hier in gängiger Weise Ratschläge erteilen wollen – nach dem Motto: Tu das! oder: Iss nicht jenes! Vielmehr wollen wir auf bestimmte grundlegende Einsichten hinwirken, auf eine neue innere Einstellung zur menschlichen Lebensweise. Darauf aufbauend sollen weitere Verhaltenssituationen und Aspekte betrachtet werden, wie Schlaf, Achtsamkeit, Gemeinschaft, menschliche Beziehungen und Biophilie. Im weiteren Verlauf werden Sie sehen, dass eine ganze Reihe von Themen zur Sprache kommen, und Sie werden schnell feststellen, dass unsere Untergliederung, die Eingrenzungen und Abgrenzungen zwischen verschiedenen Teilen des Buches durchlässig sind, sich überschneiden und wiederholen. So werden wir uns als Erstes mit Ernährungsfragen beschäftigen. Dabei kommt man fast unausweichlich auf Dinge wie Hirnfunktion oder Immunsystem zu sprechen, die jedes für sich ein eigenes Thema bilden können. Darin spiegelt sich eben auch die Realität in all ihrer Komplexität.

Viel wichtiger aber ist es zu sehen, dass jedes dieser Themen einen bestimmten Verlauf hat und jeder dieser Verläufe irgendwann im Gehirn und im Bewusstsein endet. Das ist keineswegs überraschend. Schließlich ist das Wohlbefinden eine Sache des aktiven Bewusstseins. Dies wiederum führt zu einer Reihe von Grundsätzen oder Theorien, die den weiteren Gedankengang prägen. Manche dieser Theorien oder Behauptungen widersprechen einander. Aber jede hat etwas für sich, und man kann viel daraus ableiten und lernen.

Der erste Grundsatz taucht in der einen oder anderen Form immer wieder auf. Seine beste Formulierung findet sich in einem Satz, der amerikanischen Ureinwohnern zugeschrieben wird: »Jedes Tier weiß mehr als wir Menschen.« Die gegenteilige Behauptung hat eine lange, ungebrochene Tradition im westlichen Denken: Es ist die Vorstellung vom Menschen als »Krone der Schöpfung«, die in der jüdisch-christlichen Tradition tief verwurzelt ist. Danach stehen die Menschen an der Spitze der Evolutionspyramide, deutlich getrennt vom Tierreich und allen anderen überlegen.

Vielleicht ist es am besten, für den erstgenannten Standpunkt die Stimme eines Feldbiologen zu hören. Oftmals haben solche Forscher das beste Verständnis dafür, ähnlich einst die Indianer. Die genaue Beobachtung einer beliebigen Wildtierart ermöglicht vor allem ein tiefes Verständnis für die im Tier angelegten subtilen Möglichkeiten, wie es sich an seine Umgebung anpasst. Ein Biologe hat dieses Konzept der bestmöglichen Anpassung an eine gegebene Umwelt einmal als treffsichere Replik auf die herausfordernde Frage »Wenn Eulen angeblich schlau sind, wie Sie behaupten, warum bauen sie dann keine Häuser, Autos oder Computer?« auf den Punkt gebracht: »Sie sind so schlau, dass sie diese Dinge nicht brauchen.«

Die gleiche Vorstellung lässt sich aus viel alltäglicheren Zusammenhängen ableiten. Man muss nicht unbedingt studierter Biologe sein, um das Verhalten von Tieren zu beobachten. Viele Menschen machen das im normalen Leben ganz unwillkürlich, indem sie beispielsweise ihre Hunde beobachten. Schon viele Hundehalter haben gesehen, wie ihr Haushund einen Wurf Junge zur Welt brachte. Als verantwortungsbewusste Hunde-Übereltern bereiten wir uns so gut wie möglich auf das Ereignis vor. Wir konsultieren den Tierarzt, wir lernen etwas über die verschiedenen Möglichkeiten, wie man sicherstellt, dass die Jungen anfangen zu atmen; man muss eine Reihe von Dingen beachten, damit die Ankunft der Kleinen auf dieser Welt gelingt: etwaige Gegenstände, die die Atemwege verstopfen und Schleim wegwischen und dann durch sanftes Streicheln und Massieren den kleinen Körper so stimulieren, dass die Atmung in Gang kommt, dieser magische Augenblick, wenn sie erstmals Luft holen. Wir glauben, dass wir selbst all diese Vorbereitungen treffen müssen, weil unsere Hündin, auch wenn sie noch so schlau ist, beim ersten Wurf ihres Lebens nicht allein zurechtkommt, da sie ja vorher keine Ratgeberbücher oder Internetausdrucke lesen kann. Doch kaum sind die Jungen auf der Welt, führt diese angeblich so unwissende junge Tiermutter ohne zu zögern und mit traumwandlerischer Sicherheit sogleich alle notwendigen Schritte zur Atemstimulierung durch. Dann sieht sie ihr Herrchen oder Frauchen mit einem fragenden Blick an, der zum Ausdruck bringt: »Und was habt ihr hier zu schaffen?« Unsere Hündin braucht kein Handbuch zu lesen, denn jedes Tier weiß längst mehr als wir. Dieses Beispiel ist unter anderem deshalb besonders wichtig, weil hier Hormone eine Rolle spielen, in diesem Fall vor allem Oxytocin. Bei Hunden kommt es genauso vor wie bei allen anderen Tieren, einschließlich beim Menschen. Das »Geburtshormon« Oxytocin wird in diesem Buch noch öfter erwähnt werden – und zwar in Zusammenhängen, wo man es nicht erwarten würde, wie Geschäftstransaktionen, Sporttraining und Gewalt.

Wenn wir das Instinktwissen hinsichtlich dessen, was für einen gut ist, berücksichtigen, brauchen wir uns keine Beschränkungen auferlegen. Das ist übrigens eine unserer Kernthesen. Anscheinend sind wir heute an einem Punkt angelangt, wo viele glauben, für ihr Wohlbefinden alle möglichen Maßnahmen ergreifen und Verrenkungen machen zu müssen. Davon zeugen ganze Regale voller Ratgeberbücher, Mitgliedschaften in gleich mehreren Fitness-Studios, weltraumtaugliche Kleidung, neuerdings Self-Tracking, Lektüre der Gesundheitstipps in den Zeitschriften, Selbsthilfegruppen und ständiges Kalorienzählen. Stellen Sie sich im Gegensatz dazu eine Gruppe Massai-Männer vor – die legendenumwobenen Viehnomaden Afrikas –, wie sie in leichtem Trott über die Serengeti traben, durchtrainierte Körper mit perfekter Ausdauerkondition und einer Schönheit und Ökonomie der Bewegung, um die sie jeder Fitness-Freak beneiden würde. Hat man je gehört, dass die Massai Kalorien zählen oder Gesundheitsratgeber lesen? Oder dass sie Personal-Trainer beschäftigen? Wie erklärt man sich eigentlich den offenbar völlig zufriedenstellenden Gesundheitszustand von Jäger- und Sammler-Gruppen, wie er schon in der Kolonialzeit von Anthropologen immer wieder untersucht und überall auf der Welt bestätigt wurde: Diese Menschen seien fit, schlank und glücklich. Jäger und Sammler sind »Wilde« im wohlverstandenen Sinn des Wortes. Ebenso wie wilde Tiere wissen sie sehr viel mehr, als wir wissen: ein schlagender Gegenbeweis gegen die »Krone der Schöpfung«-Sichtweise. Auch wir wenden uns gegen diese Sichtweise, zumindest am Anfang. Der Schaden, den wir uns selbst und anderen und nicht zuletzt der Natur zufügen, hat seinen Ursprung zu einem Großteil in dem überheblichen Postulat von der Ausnahmestellung des Menschen.

Ob das menschliche Gehirn wirklich den Höhepunkt der Evolution darstellt, ist noch keineswegs endgültig geklärt. Dieses Experiment der Natur ist nämlich erst seit vergleichsweise wenigen Millionen Jahren in der Erprobung, und wir haben noch längst nicht alle Nachteile erkannt, auch wenn einige nun deutlicher in Erscheinung treten. Selbstverständlich bestreitet niemand die Tatsache, ja das Wunder, dass es sich beim menschlichen Gehirn um das komplexeste Organ überhaupt handelt. Seitdem die verschiedenen Aspekte der menschlichen Evolution ernsthaft erörtert und weiter erforscht werden, stehen bis zum heutigen Tag die kognitiven Fähigkeiten unseres Gehirns im Mittelpunkt – also Werkzeuggebrauch, die Fähigkeit zu vorausplanendem Denken, die menschliche Intelligenz; all diese Dinge, welche unsere Ausnahmestellung begründen. Natürlich sind das ganz einzigartige und wunderbare Fähigkeiten. Wir wollen sie keineswegs unterschätzen oder kleinreden, aber es könnte hilfreich sein, auch einmal intensiver über andere Fähigkeiten des Gehirns nachzudenken. Sinn und Zweck aller Gehirne, nicht nur der des Menschen, sondern aller empfindungsfähigen Wesen, ist es, Bewegung und Ortsveränderung zu ermöglichen sowie Koordination und »Handhabung« im ursprünglichen Sinn des Wortes. Auch diese Dinge beherrschen wir außerordentlich gut.

Dabei sind Gehirnfunktionen wie Intelligenz, Erinnerung, Lernen und das geistige Erfassen von Tatsachen gar nicht so übermäßig vielschichtig, wie man vielleicht denkt. Mittlerweile wissen wir dank raffinierter Mess- und Beobachtungsmethoden, dass bestimmte Fähigkeiten, die wir für selbstverständlich halten (Empathie, Sprache, alltägliche soziale Kompetenzen), viel komplexerer Natur sind. Wenn es um diese Dinge geht, ist das gesamte Gehirn involviert, da summen die Drähte und sprühen die Funken in unvorstellbar dichten neuronalen Netzwerken. Diese Dinge beherrschen wir im Gegensatz zu allen anderen Spezies. Wir werden das noch eingehender analysieren, können aber jetzt schon die Feststellung vorausschicken, dass unsere sonst nirgendwo zu findende Fähigkeit, Gemeinschaften zu bilden, das wesentliche Kriterium des Menschlichen ausmacht. Dass Menschen mit anderen Menschen zurechtkommen, ist unsere größte Leistung.

Solche Phänomene bilden die Parameter für unseren Ansatz, der diesem Buch zugrunde liegt. Wir werden uns mit bestimmten Aspekten menschlichen Verhaltens wie Ernährung, Schlaf und Bewegung näher befassen. Jede dieser Aktivitäten unterstützt das Gehirn. In konkret messbarer, geradezu begreifbarer und benennbarer Weise wird das Gehirn von solchen eher rein körperlich anmutenden Aktivitäten beeinflusst und unterstützt und seinerseits aktiviert, indem die neuronalen Verbindungen ständig befeuert werden. Sie sind der eigentliche Ort unseres Wohlbefindens und damit letztlich unserer Fähigkeit, uns mit anderen Menschen zu verbinden. Wenn Sie dieses ganze System anregen, dann werden Sie sich besser fühlen.

Die einzelnen Kapitel folgen diesem grundlegenden Gedankengang. Wir beginnen mit einer Zusammenfassung dessen, was man über die ursprünglichen Lebensbedingungen und über die wichtigsten Stufen der Evolution des Menschen weiß. Wodurch ist die Lebensweise des Menschen im Grundsätzlichen bestimmt, und welche Erkenntnisse ziehen wir daraus für die Bestimmung der menschlichen Art oder der menschlichen Natur? Ein themenübergreifender Ansatz wird sein, das seit etwa hundert Jahren diskutierte Thema »Zivilisationskrankheiten« auf den neuesten Stand zu bringen und neu zu beleuchten. In der Tat liegt die Ursache für das, was uns krank macht, in unserer Zivilisation, in der Missachtung grundlegender Einsichten und Regeln unserer ursprünglichen, evolutionsgerechten Lebensweise. Heutzutage leiden wir nämlich hauptsächlich unter Zivilisationskrankheiten. In einem abschließenden, zusammenfassenden Kapitel werden wir praktische Ratschläge zum persönlichen Gebrauch geben.

Momentan kann man überall auf der Welt einen Trend beobachten, durch Rückbau nach ökologischen Gesichtspunkten wieder ursprüngliche Lebensbedingungen herzustellen. Die Europäer nennen diesen Prozess »Renaturierung«. Das ist eine sinnvolle und notwendige Bewegung, die immer mehr Anhänger gewinnt. Wir übernehmen gerne dieses Bild und stellen uns den menschlichen Körper genauso komplex und artenreich vor wie andere im Naturzustand belassene Ökosysteme. Wie diese funktioniert auch der Körper am besten, wenn er in seinem Ursprungszustand belassen wird. Betrachten Sie dieses Buch daher gerne als Anleitung zur Renaturierung Ihres Lebens. Vielleicht können Sie ihm sogar ein paar Gedanken entnehmen, die Ihre innere Einstellung zum Leben verändern wird.

Für den Anfang dürfte es allerdings genügen, wenn Sie sich drei verschiedene Situationen vorstellen. Es wird Ihnen helfen, wenn Sie sich bei der Lektüre ab und zu daran erinnern. So wie bei der früher üblichen chemischen Entwicklung von Fotos die Details erst allmählich zum Vorschein kamen, sollten durch das Buch immer mehr Details wahrnehmbar werden, je weiter die Lektüre voranschreitet. Zunächst mögen diese Bilder ganz verschwommen und zusammenhanglos erscheinen. Aber wenn wir unseren Job auf den nachfolgenden Seiten richtig gemacht haben, enthüllen sie sehr viel über die Lebensumstände des Menschen. Das erste Bild zeigt eine Gruppe von Khoisan, das sind Buschleute im südlichen Afrika, also typische Jäger und Sammler, damals noch im sozusagen urwüchsigen Zustand, unberührt von der Zivilisation. (Nachdem sie stärker mit der Zivilisation in Berührung kamen, wurden diese Menschen in kurzer Zeit genauso krank wie wir alle.) Diese Khoisan haben sich zu einem Palaver versammelt oder, noch wahrscheinlicher, lauschen sie einem Geschichtenerzähler. Das Zusammenrücken, um einem Erzähler zuzuhören, ist eine von den zutiefst menschlichen Aktivitäten, die uralt sind und sehr charakteristisch für unser Menschsein.

Was uns auf dem Foto als Erstes auffällt, ist, dass die Menschen nackt sind. Nacktheit war über den weitaus längsten Teil der Menschheitsgeschichte der vollkommen natürliche Zustand. Achten wir ab jetzt auch darauf, was uns der unbekleidete Zustand alles vor Augen führt: Wir sehen schlanke, geschmeidige Körper, in aufrechter Haltung, gut durchtrainiert. Betrachten wir den Geschichtenerzähler etwas eingehender: seine Lebendigkeit und ausdrucksvolle Gestik, die innere Erregung, wie er völlig in der Erzählung aufgeht. Insbesondere sein Gesichtsausdruck hat eine ganz besondere Ausstrahlung, mit der er die Gruppe in Bann schlägt und den gesamten Zuhörerkreis eng zusammenhält. Wer von uns heutigen Menschen könnte so gut kommunizieren? Und die Gruppe selbst? Die meisten sind Kinder. Ganz offensichtlich besteht zwischen den Zuhörern eine enge innere Verbindung, ein gemeinsames Band. Hier herrscht Vertrauen.

Unser zweites Bild stammt aus einem Video auf Youtube; jeder, der sich schon einmal mit Entwicklungspsychologie beschäftigt hat, kennt es. Es zeigt und erklärt einen zentralen Vorgang in der Entwicklung des Menschen. Die Szene ist völlig alltäglich und kommt bei jedem Kleinkind vor, sofern es sich ganz normal entwickelt. Man kann es sich leicht vorstellen: Eine Mutter und ihr Kleinkind befinden sich alleine in einem Raum voller Dinge, die eine magische Anziehungskraft auf Kleinkinder haben – leuchtend buntes Spielzeug und was diese Kleinen sonst so fasziniert. Trotzdem hat der Raum eine etwas unheimliche Atmosphäre. Der Kleine klammert sich an seine Mutter, schaut aber immer wieder zu den faszinierenden Spielsachen. Allmählich fasst er etwas Mut und Zutrauen, ermuntert von seiner Mutter. Schließlich löst er sich von ihr, um nach einem der Gegenstände zu greifen, beispielsweise einem großen Würfel. Aber der Würfel poltert mit dementsprechender Geräuschentwicklung zu Boden, und der Kleine rennt zurück zu seiner Mutter. Sie beruhigt und tröstet ihn eine Weile, bis er wieder genug Mut fasst, es erneut zu probieren, erneut zur Erkundung des Unbekannten aufbricht.

Das ist ein ganz elementarer Vorgang, wie er sich immer abspielt und immer schon abgespielt hat, seit Anbeginn der Menschheit. Hier zeigt sich das Grundmuster, wie unser Gehirn arbeitet und sich entwickelt, indem das Gleichgewicht zwischen Sicherheitsgefühl und Geborgenheit auf der einen Seite und Neugier und abenteuerlustigem Forscherinteresse immer neu austariert wird. Die in der Gegenwart der Mutter verkörperte Zuneigung und Unterstützung ist dafür unerlässlich. Das ist der ganz normale Gang der Entwicklung; wir werden auf dieses Bild später zurückkommen, weil es nicht nur auf Kleinkinder zutrifft, sondern auf uns alle.

Das dritte Bild scheint auf den ersten Blick nur ganz wenige Menschen zu betreffen – ein Sonderfall. Unserer Auffassung nach ist Wohlbefinden eine allgemein menschliche Kategorie, Autismus jedoch ist kein universelles Phänomen. Die meisten kennen es nur indirekt und betrachten es als Schicksalsschlag einiger weniger Menschen, möglicherweise verursacht durch einen Gendefekt. Was hat das mit mir zu tun?, fragen sie. Wir sind der Auffassung, dass die Bedeutung dieser neurologischen Störung den Aufwand, den die Gesellschaft treibt, bei Weitem übersteigt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass es sich bei Autismus ebenfalls um eine Zivilisationskrankheit handelt, weswegen er zu den Kernthemen dieses Buches gehört.

Ein Besuch im Center for Discovery außerhalb von New York hat uns tief beeindruckt; es handelt sich um ein Pflegeheim für etwa 360 autistische Menschen, die so gewalttätig oder verhaltensauffällig sind, dass sie in einer normalen familiären Umgebung nicht leben können. Bei unserem Besuch wurden wir durch verschiedene Klassenzimmer geleitet und kamen auch mit einigen ins Gespräch. Die Mitarbeiter des Heims erklärten uns, dass ein solch offener Zugang nur einen Monat früher gar nicht möglich gewesen wäre; man hätte immer damit rechnen müssen, dass der eine oder andere plötzlich ausrastet. Die Ursache für diese geradezu dramatische Veränderung der Gesamtsituation lag wohl hauptsächlich in einem neuen Bewegungsprogramm für die Insassen: Es bestand in einem Lauf- und Hüpftraining, bei dem auch miteinander getanzt wurde. Dieses neue Element in der Behandlung trat zu der in diesem Heim bereits seit Langem angebotenen besonders gesunden Ernährung und vielen Aktivitäten in der freien Natur.

Eine Schlüsselszene trug sich in einem winzig kleinen Klassenzimmer zu, wo vier Teenager gegenüber einer Glocke und einem Klangholz nebeneinander saßen. Abwechselnd spielte jeder von ihnen mit diesen Instrumenten. Eine schlanke Frau mit einem engelsgleichen Gesicht und Pagenhaarschnitt saß an einem kleinen Elektroklavier, klimperte eine einfache Melodie und sang dazu einen immer gleichen kurzen Refrain; die unendliche Melodieschleife brachte die Jungen dazu, aufzustehen und selbst die Glocke zu läuten oder auf das Klangholz zu schlagen; jeder hielt sich dabei streng an den einfachen Rhythmus, der von der Melodie der Klavierspielerin vorgegeben war. Auch der Refrain, das unablässig wiederholte »Läute die Glocke, läute die Glocke« forderte die Jungen dazu heraus und unterstütze sie dabei. Rhythmus und Musik, Melodie, Takt, Zeitmaß. Mit dieser einfachen Rhythmus-Übung lässt sich ein Geist wiedererwecken, der wie alle mitmenschlichen Regungen durch den Autismus gekappt wurde.

Bei der Klavierspielerin fiel uns auf, dass sie die einfache Tonfolge immer und immer wieder spielen musste – stundenlang, tagelang, dafür war sie angestellt. Dann fiel uns bei ihr aber auch auf, dass sie die kleine Melodie nicht einfach stur wiederholte, sondern jedes Mal etwas Eigenes hineinlegte, kleine Improvisationen oder Verzierungen, dass sie aus ihrer inneren Mitte heraus sang, wie alle guten Sänger aus innersten Gefühlen heraus. Sie versah ihr Spiel mit einem Hoffnungsschimmer – nicht nur Töne oder Geräusche, nicht nur Melodie und Rhythmus, sondern wahrhafte Musik. Sie tat es wieder und wieder, noch dazu in einer Situation, die die meisten Menschen als hoffnungslos ansehen würden. Sie war gegenüber ihren Zuhörern genauso engagiert und brachte sich genauso ein wie der Geschichtenerzähler der Khoisan.

Noch im Nachhinein hielten wir es für vollkommen richtig und angemessen, welchen nachhaltigen Eindruck diese Szene im Center for Discovery auf uns gemacht hatte. Es war für uns einer der beiden Wendepunkte in unserem eigenen Leben. Wir waren uns immer einig, dass es keinen Sinn ergibt, ein Buch zu schreiben, wenn sich dadurch nicht auch im Leben des Autors etwas ändert. Wir werden später darüber berichten, wie es für jeden von uns dazu kam. Nur so viel sei bereits verraten, dass Richard Manning 25 Kilo Gewicht verloren hat und Ultramarathonläufer geworden ist. John Ratey hat ebenfalls einiges an Gewicht verloren und hat seine Essgewohnheiten umgestellt – doch bei ihm bestand die größte Veränderung in einer grundlegenden Erweiterung dessen, worüber er sich Gedanken macht und worüber er schreibt. Bisher war er als Autor über Themen wie Sporttraining und Hirnforschung bekannt; aber seit dem Besuch im Center for Discovery interessiert er sich viel umfassender für Themen wie Schlaf, Ernährung, Natur, Achtsamkeit und vor allem wie all diese Faktoren zusammenwirken, um uns ein Gefühl des Wohlbefindens zu geben. Aber nicht nur der Besuch im Center for Discovery wirkte auf John Ratey bewusstseinserweiternd. Es gab noch ein weiteres Ereignis, eine spontane rein zufällige Begegnung mit ähnlicher Wirkung. Auch darauf werden wir noch zu sprechen kommen.