Kelly Stevens, Stefanie London, Lisa Childs, Debbi Rawlins

TIFFANY EXTRA HOT & SEXY BAND 63

IMPRESSUM

TIFFANY EXTRA HOT & SEXY erscheint in der HarperCollins Germany GmbH

Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe TIFFANY EXTRA HOT & SEXY
Band 63 - 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2017 by HarperCollins Germany
Originalausgabe in der Reihe: TIFFANY EXTRA HOT & SEXY,
Band 63 – 2017 by HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

© 2016 by Stefanie Little
Originaltitel: „A Dangerously Sexy Affair“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: BLAZE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Sandra Roszewski

© 2016 by Lisa Childs
Originaltitel: „Hot Seduction“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: BLAZE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Alina Lantelme

© 2016 by Debbi Quattrone
Originaltitel: „Come Closer, Cowboy“
erschienen bei: Harlequin Enterprises Ltd., Toronto
in der Reihe: BLAZE
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.
Übersetzung: Johannes Heitmann

Abbildungen: Conrado / Shutterstock, alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 03/2017 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733752651

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, MYSTERY

 

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KELLY STEVENS

Das Einmaleins der Sünde

Supersexy – und superklug: Weil Mathegenie Abby die Männer mit ihrem Wissen in die Flucht jagt, gibt sie sich beim Online-Dating als Sekretärin aus. Doch Unternehmer Cameron schöpft Verdacht …

STEFANIE LONDON

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LISA CHILDS

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DEBBI RAWLINS

Nur eine heiße Nacht in Hollywood

Sex mit der besten Freundin? Gunner sagt nicht Nein, als es in einer heißen Nacht in Hollywood immer stärker zwischen Mallory und ihm knistert. Ein Fehler? Danach geht Mallory ihm plötzlich aus dem Weg …

Das Einmaleins der Sünde

1. KAPITEL

„Was sagst du zu der, Cam? Die ist echt heiß!“

Cameron Sinclair drehte sich um und betrachtete die Frau, die an der Bar stand. Im schummrigen Licht sah man vor allem lange blonde Locken und sehr viel Dekolleté. „Dein Beuteschema, John. Viel Glück.“

Sein Freund und Geschäftspartner stolzierte Richtung Bar, wo die Blondine sich inzwischen auf einen Hocker gesetzt hatte. Der dunkle Minirock war dabei bis zur Mitte ihrer Oberschenkel hochgerutscht und gab den Blick auf schlanke, wohlgeformte Beine frei. Ihre Schuhe konnte er von hier aus nicht sehen, aber er war sich sicher, dass sie Mörderabsätze tragen würde.

Blond, kurvig und wahrscheinlich strohdumm. Wie es das Blondinenklischee versprach. Von dieser Sorte schien es hier an diesem Abend einige zu geben.

Cam nahm einen Schluck aus seiner Bierflasche und sah sich um. Es war John gewesen, der diesen Schuppen in San Francisco vorgeschlagen hatte. Er selber bevorzugte die Bars und Clubs im Silicon Valley, vor allem an einem Freitagabend nach einer anstrengenden Arbeitswoche, wenn er keine vierzig Meilen zu einer drittklassigen Bar fahren wollte.

Aber John hatte feiern wollen, und für John bedeutete Feiern „auf Beutezug gehen“. Bei seinem Frauenverschleiß hatte er die meisten Frauen im Valley wahrscheinlich schon durch, dachte Cam zynisch, obwohl er selbst seinem Freund in dieser Hinsicht kaum nachstand.

Während John allerdings immer nach der perfekten Masche vorging und sich für den größten Aufreißer in Kalifornien hielt, bevorzugte Cam die höflichere Annäherung in gegenseitigem Einvernehmen. Gerne auch auf Augenhöhe, aber er hatte in den letzten Jahren feststellen müssen, dass es wenige Frauen gab, die ihm diesbezüglich das Wasser reichen konnten. Das mochte arrogant klingen, aber er war nicht umsonst mit Anfang dreißig CEO einer der erfolgreichsten Firmen im Silicon Valley.

Seine Flasche war leer. Cam warf einen Blick Richtung Bar, wo John sich gerade neben der Blondine in typische Pick-up-Artist-Positur geworfen hatte. Die Frau hatte den Kopf leicht geneigt, als höre sie ihm zu, sah ihn dabei aber auch nicht an. Noch schien sein Freund ihr Interesse nicht geweckt zu haben.

Ungewöhnlich. Meistens erlagen ihnen beiden die Frauen schnell. Dass sie gut aussehend und erfolgreich waren, half sicher, da machte er sich nichts vor. Oft genug waren es sogar die Frauen, die den ersten Schritt machten.

Eine Bedienung war nicht zu sehen. Cam drängte sich zum Tresen durch, nur wenige Schritte von den beiden entfernt, und bestellte ein weiteres alkoholfreies Bier. John hatte gleich mit den harten Drinks angefangen, und einer von ihnen musste schließlich zurückfahren.

Oder auch nicht. Cam ließ seinen Blick über die Menge schweifen, während er auf seinen Drink wartete. Ein typischer Abschleppschuppen, wie ihm schien. Obwohl es noch relativ früh am Abend war, hing eine Atmosphäre von Verzweiflung in der Luft, ein Hauch von Gefallen-Müssen, Jemanden-Finden-Müssen, was ihm zuwider war. Ja, er schleppte gerne und oft Frauen ab. Aber nicht solche, die es so dringend nötig hatten, dass sie sich auf das tiefe Niveau begeben mussten, das hier vorherrschte.

Das war mehr Johns Welt. Mit gemischten Gefühlen hörte Cam, wie sein Partner der Frau abwechselnd erzählte, wie toll er sei, und sie disste. Ein Alphamännchen auf Beutezug.

Cam verstand nicht, wieso manche Männer Frauen bewusst verbal herabsetzen, um sich in ihren Augen interessanter zu machen. Meistens hatte sein Freund damit Erfolg. Für Männer wie John waren Frauen in solchen Etablissements ein gefundenes Fressen. Zu vielen von ihnen mangelte es an Selbstbewusstsein, und sie ließen sich von einem widerlichen Kerl nach dem anderen zur Schnecke machen, während sie verzweifelt nach Liebe suchten.

Nun, diese Art von Frauen brauchte er nicht. Sollte John sie haben. Er selbst bevorzugte selbstsichere Frauen, die wussten, was sie wollten, und durchaus auch mal Kontra geben konnten.

Bisher schlug die Blondine sich allerdings wacker. Er sah sie zwar nur von hinten, aber er merkte, dass John sich mehr als sonst anzustrengen schien. Geschah ihm ganz recht.

Endlich schob ihm der Barkeeper sein Bier rüber. Gerade, als er den ersten Schluck trank, bekam Cam mit, wie die Frau laut und deutlich „Danke, es reicht, ich habe kein Interesse an Ihnen“ sagte.

Eine klare Ansage. Da schien John sich wohl mit seiner Beute verspekuliert zu haben. Cam grinste und trat unauffällig einen Schritt näher. Wenn es ums Geschäft ging, gehörte auch er zu den Männern, die bei einem „Unmöglich“ nicht klein beigaben, sondern die Herausforderung annahmen, doch noch eine Lösung zu finden. Wenn es aber um Frauen ging, war er Gentleman und akzeptierte ein Nein.

Nachdenklich betrachtete Cam die Blondine: von den blonden Locken über ihre üppige Oberweite bis zur Kurve ihrer Hüften, die in ihrer sitzenden Position gut zur Geltung kam. Schlank und kurvig, fast ein Widerspruch in sich. Die Haut ihrer Arme schimmerte in der schummrigen Beleuchtung. Kurz fragte er sich, wie es sich wohl anfühlen würde, ihre nackte Haut unter seinen Händen zu spüren, ihre Kurven entlangzufahren, sie unter sich stöhnen zu hören. Obwohl er normalerweise eher den klassischeren Frauentyp bevorzugte, hatte die Kleine etwas, das ihn anmachte.

John jedenfalls schien ihre Abfuhr erst recht anzustacheln, denn er trat einen Schritt näher, bis er die Frau fast berührte. Sie drehte sich instinktiv weg, glitt vom Barhocker und brachte das Möbelstück zwischen sich und John. Dadurch stand sie nun fast genau neben Cam. Er spürte einen Hauch ihres Parfums, überraschend frisch, ein Duft, der so gar nicht zu ihrem barbiehaften Auftreten passte.

„Du bist bloß eine kleine, unbedeutende Sekretärin, die nachts davon träumt, jemanden wie mich in ihrem Bett zu haben!“, warf John ihr voller Wut an den Kopf.

Möglich, dass auch das zu seiner Taktik gehörte, aber Cam hatte eher den Eindruck, als habe sein Partner eindeutig schon zu viel Alkohol intus. Sein Beschützerinstinkt regte sich. Jemanden, der in ihr nur eine weitere Kerbe in seinem Bettpfosten sah, hatte die Blondine nicht verdient, selbst wenn sie stark geschminkt und aufreizend gekleidet in einer schmierigen Bar saß.

Schnell trat er neben John. „Die Lady hat Nein gesagt. Lass uns gehen.“

Die Blondine drehte sich kurz zu ihm und wandte sich dann wieder an seinen Partner. „Danke, ich komme schon alleine klar.“

Sie hatte anscheinend doch mehr Selbstbewusstsein, als er ihr zugetraut hatte.

„Bis morgen, Partner“, zischte John ihm zu, doch Cam blieb stehen. Nicht, dass die Situation eskalierte. Oder war er vielleicht nur neugierig, wie die Unbekannte sich jetzt verhalten würde?

„Was hättest du mir im Bett schon zu bieten?“ Ihr Blick wechselte von John zu Cam. Allerdings sah sie ihnen nicht in die Augen, sondern in den Schritt …

Cam wurde heiß. Er hatte in seinem Leben schon viele Frauen abgecheckt. Die umgekehrte Situation hatte er noch nie erlebt. Unter ihrem Blick fragte er sich unwillkürlich, ob sie wohl zufrieden war mit dem, was sie sah. Ob sie sich im Bett auch nahm, was sie brauchte und wie sie es brauchte? Vielleicht hatte er sie völlig falsch eingeschätzt, und sie war hier diejenige, die auf Beutezug war, und nicht die Beute. Sie wirkte wie eine Frau, die wusste, was sie wollte. Ihn jedenfalls machte ihre offene Art extrem an, selbst wenn ihre Worte sich an seinen Geschäftspartner richteten.

Zum Glück richteten sich ihre Worte an seinen Geschäftspartner, korrigierte Cam seine Gedanken, denn er selbst hätte bei so einem verbalen Angriff auf seine Männlichkeit wahrscheinlich mit verletztem Stolz reagiert.

Aus den Augenwinkeln sah Cam, wie John schluckte. Vermutlich hatte die Frau genau diese Reaktion beabsichtigt. Sie schien dieses Spiel nicht zum ersten Mal zu spielen.

Im nächsten Moment griff sie ihm – Cam! – zwischen die Beine, und er merkte, wie er augenblicklich reagierte. „Deinen Freund hingegen würde ich jederzeit gerne im Bett haben, und nicht nur dort“, schnurrte sie und blickte dabei John an, während sie Cam durch den Stoff seiner Anzughose massierte.

Die Kleine traute sich was! Stocksteif blieb Cam stehen. Ihre Finger fühlten sich unglaublich an, selbst durch den Stoff seiner Hose. Kurz war er in Versuchung, sie sich selbst zu schnappen, John hin oder her.

Nur mühsam gelang es ihm, sich wieder zu fokussieren. Sie stand inzwischen direkt vor ihm, sodass er nur auf ihren Kopf sehen konnte, nicht in ihr Gesicht. Von Nahem betrachtet, wirkten ihre blonden Haare stumpf. Wahrscheinlich zu oft gefärbt und mit dem heißen Lockenstab malträtiert, dachte Cam, der das Problem von seiner jüngeren Schwester und deren Freundinnen kannte. Obwohl kein dunkler Haaransatz zu erkennen war, glaubte er nicht, dass ihre Haarfarbe echt war. Sie war wohl gerade erst beim Friseur gewesen.

Und sie war klein – selbst mit Absätzen ging sie ihm noch nicht einmal bis zum Kinn. Aber sie wusste ganz genau, was sie tat, denn unter ihren Fingern war er sofort steif geworden. Verdammt, er wollte, dass sie weitermachte, was sie angefangen hatte, selbst wenn sie es nur getan hatte, um seinen Freund in seine Schranken zu weisen!

Nur vage bekam Cam mit, dass John auf ihn einsprach. Mühsam löste er sich aus seiner Erstarrung. Wenn die Frau nicht wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses und er wegen einer Schlägerei mit seinem Partner verhaftet werden wollten, sollte er besser gehen, egal, wie schwer es ihm fiel.

Cam brauchte all seine Willenskraft, um den halben Schritt zurückzutreten, der ihn den Fingern der Blondine entzog. Mit einem Ausdruck von Bedauern betrachtete er ihre schlanken Finger mit den kurz gefeilten, rosa lackierten Nägeln. Zu gerne hätte er gewusst, was sie mit diesen Fingern sonst noch anstellen konnte – und ob sie den Rest ihres Körpers auch so clever einsetzen konnte. Aber sich deshalb mit seinem Freund überwerfen wollte er auch nicht.

„Ich warte im Wagen auf dich, genau fünf Minuten!“, sagte er mühsam beherrscht an John gewandt und bahnte sich den Weg Richtung Ausgang. Seine halb volle Bierflasche ließ er zurück.

Genau wie die Frau.

Die kühle Nachtluft tat ihm gut. Er zog seine Jacke über und machte sich auf den Weg zu seinem Wagen, der auf einem bewachten Parkplatz nicht weit entfernt stand. Wie er seinen Geschäftspartner kannte, würde er entweder schnell nachkommen oder gar nicht.

Auf jeden Fall würde John die Nacht nicht mit der Blondine verbringen. Die Kleine hatte Chuzpe. So effektiv hatte noch keine Frau sich seinen Geschäftspartner vorgeknöpft.

Auch wenn sie ihn selbst dabei wie einen kompletten Idioten hatte aussehen lassen!

Das war so was von überhaupt nicht nach Plan gelaufen!

Typisch für sie. Sie hatte einfach kein Händchen für Männer. Da wollte sie sich schon mal aufreißen lassen, und mit welchem Ergebnis? Den ersten Typen machte sie lächerlich, und den zweiten belästigte sie!

Abby betrachtete ihre Hände mit den praktisch kurz gefeilten Nägeln. Vor wenigen Minuten hatten sie sich noch auf einem sehr privaten Körperteil eines Mannes befunden.

Normalerweise hätte sie sich so etwas nicht getraut. Aber der Wunsch, diesen Mann anzufassen – und ihn aus seiner Reserve zu locken –, war plötzlich übermächtig geworden.

Es war lange her, dass sie so auf einen Mann reagiert hatte. Ja, er hatte gut ausgesehen, zumindest, soweit sie dies aus den Augenwinkeln beurteilen konnte. Groß, schlank, dunkelhaarig. Aber es war mehr als das gewesen. Er hatte eine Präsenz, die sie schon wahrgenommen hatte, als er noch Meter von ihr entfernt stand. Sie hatte seine Blicke auf sich gespürt, als würde er sie berühren.

Sie hatte wirklich gedacht, dass er es auch gespürt hatte. Dass zwischen ihnen eine Verbindung war.

Nur deshalb hatte sie sich getraut, ihn in aller Öffentlichkeit zu berühren. Auch, um seinen Freund zu ärgern, aber vor allem, weil sie es wollte. Ihn wollte.

Und er hatte auf sie reagiert, sie hatte es genau gespürt. Sie war sich sicher gewesen, dass er sie in diesem Moment genauso begehrte wie sie ihn.

Trotzdem hatte er sie abgewiesen.

Ging ihm eine Männerfreundschaft über das, was sie vielleicht haben könnten? Das wäre mal wieder typisch Mann. Bevor es ernst werden konnte, kniffen sie.

Kaum, dass sein Kumpel verschwunden war, war sie auf die Straße gelaufen, in der Hoffnung, den dunkelhaarigen Fremden vielleicht doch noch zu sehen. Aber er war verschwunden.

Was blieb, waren die Zweifel, wieso sie es immer wieder schaffte, alle Männer zu vergraulen, bevor sie überhaupt eine Chance hatten, sie kennenzulernen.

2. KAPITEL

Missmutig blickte Cam auf seinen Bildschirm. Die Zahlenkolonnen nahm er kaum wahr. Obwohl er heute Morgen schon eine Runde Laufen gewesen war und sich vorhin in der Firmenkantine ein spätes Frühstück mit frisch gepresstem Orangensaft, Kaffee, Pfannkuchen und Obst gegönnt hatte, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Anstatt bei der Arbeit waren seine Gedanken immer noch beim gestrigen Abend und bei der Blondine.

Obwohl sie doch so gar nicht in sein Beuteschema passte, hatte sie ihn beeindruckt. Im Nachhinein ärgerte er sich, dass er einfach so gegangen und seinem Partner das Feld überlassen hatte. Zumindest ihre Telefonnummer hätte er schon gerne gehabt. Ob er sie dann angerufen hätte, konnte er nicht sagen, aber zumindest hätte er die Möglichkeit gehabt.

So hatte er nichts. Keinen Namen, keine Nummer, noch nicht einmal ein Gesicht, da sie ihn nicht angeschaut hatte. Zumindest nicht in die Augen …

Und John würde er auf keinen Fall auf sie ansprechen!

Sein Geschäftspartner war tatsächlich nach fünf Minuten am Wagen aufgetaucht, allerdings nur, um ihm mitzuteilen, dass er in den nächsten Club weiterziehen würde.

Cam hatte keine Ahnung, ob John letzte Nacht noch zurückgekommen war oder den Rest der Nacht mit irgendeiner anderen Frau, die leichter zu beeindrucken war, in San Francisco verbracht hatte. Auf jeden Fall war er nicht hier.

Zugegeben, es war Samstag, aber die Mitarbeiter hatten rund um die Uhr, sieben Tage die Woche Zugang zur Firma. Im Valley war es Teil des Lifestyles, dass sich jeder seine Arbeitszeit selbst einteilen konnte, solange er seine Aufgaben termingerecht erledigte. In Zeiten, wo jeder ständig und überall online war, erwartete Cam auch von seinen Vorstandskollegen, dass sie am Wochenende zumindest ansprechbar waren, sollte es etwas Dringendes geben.

Und das, was er gerade sah, war dringend.

Zumindest für ihn.

Sie waren zu dritt im Vorstand: Cam als Vorsitzender, John für Vertrieb und Personal und Daniel für Finanzen und IT. Bisher hatte das gut funktioniert. Aber seit eine gegenseitige Überwachungs- und Kontrollfunktion eingeführt worden war, hatte Cam auch das Thema Finanzen zu überwachen, und genau das war das Problem.

Bisher war alles in seinem Leben relativ glatt gelaufen. Mit sechzehn hatte er seine erste eigene Firma gegründet, neben der Highschool. Nach dem Abschluss war er aufs College gegangen, um Wirtschaft zu studieren. Das Thema interessierte ihn wirklich, aber die Ablenkungen in Form von Partys und Frauen waren stärker. Er bekam zunehmend Schwierigkeiten, schwänzte Kurse und legte sich mit seinen Dozenten an.

Dass er das Wirtschaftsstudium schon nach dem ersten Jahr aufgegeben hatte, hatte er seinen Eltern gegenüber damit begründet, dass seine Firma inzwischen so gut lief, dass er seine Zeit lieber dem Firmenaufbau widmen wolle. Die nicht ganz so ruhmreiche Wahrheit war, dass er diverse Kurse nicht bestanden hatte – Mathematik, Statistik, Finanzen, alles, was mit Zahlen zu tun hatte. Programmieren konnte er, und er war geschickt darin, neue Geschäftsideen zu entwickeln, zu netzwerken und wertvolle Deals abzuschließen, aber sobald ihm jemand Zahlen oder gar eine Bilanz vorlegte, hätte er am liebsten Reißaus genommen.

So wie jetzt.

Es half alles nichts. Er wählte die Nummer von Daniel, der sich auch direkt meldete. „Daniel, hast du einen Moment Zeit, um mit mir über den vorläufigen Quartalsbericht zu sprechen?“

Keine drei Minuten später trat der Finanzchef in sein Büro. Daniel war ein paar Jahre älter als Cam, sah aber immer noch aus wie der typische All-American-Boy: blond, sportlich, hilfsbereit, mit strahlendem Lächeln und immer gut gelaunt, selbst am Samstag. Er war mit seiner Jugendliebe verheiratet, und die beiden hatten zwei Jungen im Grundschulalter, richtige Wirbelwinde.

Kinder schienen jung zu halten, dachte Cam manchmal. Während Daniel Wert darauf legte, die Abende im Kreise seiner Familie zu verbringen, lebte er selbst mehr nach dem Motto „work hard, play hard“.

Obwohl er immer wieder gesagt bekam, dass er gut aussah, merkte Cam, wie er allmählich älter wurde. Seine Haare waren immer noch so dunkel wie eh und je, seine Haut leicht gebräunt, sein Körper durchtrainiert. Aber nach einem Sportunfall hatte er eine Narbe am linken Oberschenkel, beim Joggen machte ihm eine alte Knieverletzung zu schaffen, und nach einer durchfeierten Partynacht ging er nicht mehr wie früher direkt in die Firma, sondern nach Hause und legte sich erst einmal ein paar Stunden schlafen.

Verdammt, er wurde alt!

Vielleicht wäre es doch keine so schlechte Idee, sich eine feste Beziehung zu suchen. Ein Haus hatte er schon, eine Villa mit Pool in Mountain View, nur wenige Autominuten von der Firma entfernt. Er hatte sowohl menschlich als auch materiell einiges zu bieten.

Die richtige Frau wäre er bereit auf Händen zu tragen. Eine, mit der er lachen, über seine Arbeit reden, aber auch mal diskutieren konnte. Keine, für die das Leben nur aus Shoppen und Besuchen in Schönheitskliniken bestand. Frauen, die es nur auf gutes Aussehen und sein Geld abgesehen hatte, waren Cam zuwider.

Die meisten Frauen im heiratsfähigen Alter hier in der Gegend wussten, wer er war. Obwohl er sich nicht ins Rampenlicht drängte, war er ein gefragter Sprecher bei Konferenzen oder als Interviewpartner. Eins der Wunderkinder des Silicon Valley, und damit war sein Gesicht bekannt.

Ob er es wieder mit Online-Dating versuchen sollte? Zuerst einmal unverbindlich schauen, ob man gemeinsame Interessen hatte, und dann erst Fotos austauschen? Sein Account bei einer Dating-Website – allerdings einer, bei der es eher um unverbindliche Treffen als um ernsthafte Heiratsabsichten ging – war seit Wochen ungenutzt.

„Was gibt’s denn so Dringendes? Ich muss übrigens in zwanzig Minuten los, mein Ältester hat ein Spiel, und ich will ihn hinfahren und zusehen“, begrüßte Daniel ihn.

Cam riss sich zusammen. „Tut mir leid, es geht hoffentlich schnell. Ich habe mich gefragt, wieso diese Zahl so niedrig ist?“ Er deutete auf seinen Bildschirm.

Daniel beugte sich über seine Schulter und runzelte die Stirn. „Ich dachte, du freust dich darüber?“

Diesmal war es an Cam, die Stirn zu runzeln. „Wieso sollte mich das freuen?“

„Na, weil die Projektkosten deutlich unter dem veranschlagten Soll liegen.“

Da ging es wieder los. Soll und Haben, Plan und Ist, Einnahmen und Ausgaben, was auch immer. „Das ist also gut?“

Daniel sah ihn seltsam an. „Klar, genau das steht da doch.“

Cam kam langsam ins Schwitzen. „Okay. Danke.“

„Alles okay?“, fragte Daniel. „Wart ihr gestern noch lange auf der Piste?“

„John ja, ich nicht.“

„Hast du zu Hause weitergefeiert?“

Sein Partner kannte ihn zu gut. „Ausnahmsweise nicht, von einem Scotch und einem halben Film mal abgesehen.“ Über dem er auf der Couch eingeschlafen war. Einer sehr bequemen Couch, die er erst vor ein paar Wochen gekauft hatte. Zusammen mit dem riesengroßen Plasmafernseher und dem ganzen anderen Schnickschnack, zu dem seine Innenarchitektin ihn gedrängt hatte. Er hatte Geschmack, ja, aber nicht die Zeit und Muße, sich selbst um so etwas zu kümmern. Ein Haus in ein Heim zu verwandeln, war vermutlich eher ein weibliches Talent.

Er stellte sich die Blondine von gestern Abend auf seiner Couch vor. Wie sie sich lasziv darauf räkelte, sich den Zeigefinger zwischen die rot geschminkten Lippen schob und ihm verruchte Blicke zuwarf. Heiß!

Dann versuchte er, sie sich an seiner Seite auf einem Business-Empfang vorzustellen. Der Gedanke kühlte seinen Erregungszustand augenblicklich ab. Schon rein optisch würde jemand wie sie kaum in sein Leben passen. Viel zu aufgedonnert, geradezu billig. Sexuell mochten ihn solche Frauen für eine kurze Zeit durchaus reizen, aber um das ganze Leben miteinander zu verbringen, brauchte es schon etwas mehr. Obwohl die Kleine in der Bar durchaus selbstbewusst gewirkt hatte, intellektuell würde sie ihm wahrscheinlich nicht einmal annähernd das Wasser reichen können. Er hatte keine Lust, sein Leben mit einem naiven Dummchen zu verbringen, mit dem er sich nach kurzer Zeit langweilen würde.

Verdammt, schon wieder bewegten seine Gedanken sich auf Pfaden, die ihn in unbekanntes Terrain zu führen drohten!

„Können wir den Quartalsbericht dann am Montag so rausgeben?“, fragte Daniel.

„Wird er denn noch einmal kontrolliert?“

„Hey, du bist der Chef. Sobald du ihn freigibst, geht er raus.“

Diesmal begann Cam wirklich zu schwitzen. „Mir wäre es lieber, wenn da am Montag noch mal jemand anders drüber schauen könnte. Achtaugenprinzip und so.“

„Cam, es ist nur ein Quartalsbericht, kein Hexenwerk.“

„Aber ich bin dafür verantwortlich, was drinsteht.“

„Das Los eines Vorstandsvorsitzenden, mein Lieber. Du hast dir die Position hart erarbeitet.“

Nur war es Ironie des Schicksals, dass es hier immerhin um seine eigene Firma ging. Cam grinste etwas schief, denn ein mulmiges Gefühl blieb. „Ich möchte es einfach nur im Detail verstehen, bevor ich die Zahlen rausgebe.“

Daniel zuckte die Schultern. „Na, dann lies es dir übers Wochenende in Ruhe durch, und wenn du noch Fragen hast, ruf mich an. Wir sind heute Abend bei Freunden eingeladen und morgen auf einer Familienfeier, aber …“

Cam kam sich wie der letzte Idiot vor, mit seinen wahrscheinlich unbegründeten Ängsten seinem Geschäftspartner das Wochenende zu verderben. „Ist schon gut. Ich war nur irritiert, weil der Bericht diesmal anders aussah als letztes Mal.“

„Wir haben ein paar Sachen umgestellt, aber inhaltlich hat sich nichts geändert.“

„Könntest du mir schnell noch zeigen, was genau umgestellt wurde?“ In der Vergangenheit hatte er immer Notizzettel gehabt, auf denen er sich akribisch notiert hatte, was welche Zahl bedeutete und wie er ihre Änderung zu interpretieren hatte. Ohne seine Spickzettel, wie er sie selbst nannte, war er aufgeschmissen. Dann waren Zahlen nur Ziffern ohne Bedeutung.

„Das steht doch oben drüber. Hier, siehst du?“

Daniel zeigte im Abstand von Sekundenbruchteilen auf viele verschiedene Stellen auf dem Bildschirm.

Cam konnte ihm zwar visuell, nicht aber gedanklich folgen. „Langsam, was war das gerade?“

Daniel zog seine Hand zurück und trat einen Schritt zurück, um ihn anzusehen. „Cam? Kann es sein, dass du kein Wort von dem verstehst, was da geschrieben steht?“

Unglücklich starrte Cam auf den Monitor und schwieg.

„Ich fasse es nicht“, sagte Daniel, mehr zu sich selbst. „Ich meine, du leitest diese Firma seit über fünfzehn Jahren!“

„Das weiß ich selbst.“ Weiterhin vermied er es, seinen Geschäftspartner anzusehen.

„Das gibt’s doch nicht! Du leidest unter Dyskalkulie?“

Cam hörte das Wort zum ersten Mal in seinem Leben. „Dys… was?“

„Dyskalkulie. Rechenschwäche. Wie Legasthenie, nur mit Zahlen.“

So etwas gab es, eine Rechenschwäche? Das würde einiges erklären. „Ich weiß nicht … Bisher bin ich immer ganz gut klargekommen.“ Falsch. Schon in der Schule war er in Mathematik keine Leuchte gewesen, und es waren die mathematischen Fächer gewesen, die ihm auf dem College das Genick gebrochen hatten, nicht die Kurse, die mit Management zu tun hatten. Er hatte sich immer irgendwie durchgemogelt und gehofft, niemandem würde es auffallen, dass er, was Zahlen betraf, ein Versager war.

Das hatte ihn trotzdem nicht davon abgehalten, ein erfolgreicher Unternehmer zu werden.

„Schon gut, ich werde am Montag jemanden fragen“, wich Cam aus, während seine Gedanken rasten. Nicht auszudenken, dass irgendjemand außerhalb dieses Raums von seiner Schwäche erfuhr, seine Investoren oder Kunden! Niemand würde ihn noch ernst nehmen.

Daniel warf ihm einen scharfen Blick zu. „Wen willst du denn fragen, wenn nicht den Experten, der neben dir steht?“

„Wozu hat man schließlich Assistenten?“, bluffte Cam.

„Um sie flachzulegen?“

Da hatte Daniel ihn an einem wunden Punkt erwischt. Eigentlich trennte er Arbeit und Privatleben strikt. Aber seine letzte Assistentin war monatelang in knappen Röcken, noch knapperen Blusen, durch die ihr BH blitzte, und High Heels durch sein Büro gestöckelt. Er hätte ein Heiliger sein müssen, ihren Reizen zu widerstehen. Dass sie, als er die Affäre beendete, in Tränen aufgelöst kündigte, hatte ihm sogar einen Rüffel von der Personalabteilung eingebracht, der sie natürlich brühwarm ihre Version des Geschehens berichtet hatte.

„Ich habe meine Lektion gelernt und werde nie wieder etwas mit einer Angestellten anfangen.“ Schließlich gab es außerhalb der Firma genug andere Frauen. „Am besten stellen wir nur noch hässliche alte Männer ein.“

Daniel lachte. „Das wäre ja mal eine ganz neue Art von Diskriminierung.“

Doch Cam war nicht zum Lachen zumute.

„Hey, Cam, kein Problem. Das kriegen wir hin. Morgen auf der Familienfeier spreche ich mal mit meinem Cousin Marc. Der kennt diverse Leute, die sich mit so etwas auskennen. Er kann dir bestimmt einen Nachhilfelehrer vermitteln. Jemanden, der dir in aller Ruhe die Basics erklärt und die Dinge, die du hier jeden Tag brauchst.“

Cam zögerte, aber seinem Geschäftspartner wollte er auch nichts vormachen. Jetzt, wo sein Problem einen Namen hatte, hatte er eine Chance, es endlich in den Griff zu bekommen. „Daniel, das muss unter uns bleiben. Wenn jemand hier im Haus Wind davon bekommt, oder die Konkurrenz …“

Dann wäre er das Gespött im Valley. Vom Wunderkind zum Idioten. Er wagte gar nicht, sich auszumalen, welche Konsequenzen dies nicht nur für seine Karriere, sondern auch für die Firma und die Zukunft seiner Mitarbeiter haben würde.

Abigail wickelte das Handtuch, das sie sich im Turban-Stil um den Kopf gebunden hatte, ab und begann, ihre Haare trocken zu föhnen. Von Natur aus waren sie dunkelblond und glatt, aber die kalifornische Sonne hatte goldglänzende Highlights in ihr Haar gezaubert, ganz ohne Friseur. Der kinnlange klassische Pagenschnitt, den sie trug, stand ihr gut und war ohne großen Aufwand in Form zu bringen.

Auf dem Perückenständer auf ihrer Kommode lagerten die langen blonden Locken, die sie am Wochenende bei ihrer Tour durch die Clubs getragen hatte. Sie warf einen Blick darauf und seufzte. Freitagabend war ein Reinfall gewesen, nur billige Anmachsprüche. Was zugegebenermaßen wahrscheinlich auch an der Lokalität gelegen hatte. Ein typischer Aufreißschuppen – nicht ihr bevorzugtes Terrain.

Inzwischen erkannte sie die Männer, die nach der perfekten Masche der Pick-up-Artists vorgingen, schon von Weitem. Der Typ, der sich dort an sie rangemacht hatte, John, war ein besonders schmieriges Exemplar dieser Gattung gewesen. Es hatte ihr diebische Freude bereitet, sein dummes Gesicht zu sehen, als sie ihn abservierte.

Sein Freund hatte ihr eindeutig besser gefallen. Nicht nur, dass er in dem dunklen Anzug absolut heiß ausgesehen hatte und sich von den anderen Männern, die überwiegend in Jeans und Hemd erschienen waren, abgehoben hatte, er schien auch ein Gentleman zu sein. Eine Mischung, die sie unter normalen Umständen unwiderstehlich gefunden hätte, und in dieser Situation ganz besonders. Nicht nur, dass es eine Möglichkeit gewesen war, John loszuwerden, es war auch eine Chance gewesen, seinen Freund kennenzulernen.

Und sie hatte sie mal wieder vergeigt!

Abigail errötete, weniger von der Hitze des Föns, sondern vor Scham beim Gedanken an ihr Verhalten. Sie hatte sich an einen Fremden rangeschmissen wie eine rollige Katze, mehr noch, ihn unsittlich angefasst! Nachträglich wäre es ein Leichtes, dies auf den einen oder anderen Cocktail zu viel zu schieben, aber da sie ausnahmslos alkoholfreie Cocktails getrunken hatte, konnte sie sich nicht hinter dieser Ausrede verstecken.

Ob er öfters dorthin ging? Eine zweite Chance für den ersten Eindruck würde sie natürlich nicht bekommen, aber vielleicht konnte sie ihm irgendwie zeigen, dass in ihr mehr steckte als die verruchte Blondine auf Männerfang. Es wäre wirklich schade, wenn sie ihn niemals wiedersehen würde.

Nein, es wäre besser so, warnte die Stimme in ihrem Kopf. Du hast dich völlig unmöglich benommen! Ein Mann wie er würde niemals mit einer schamlosen Schlampe wie Abby ausgehen, ihrer Rolle an diesem Abend. Genau wie sie schien er sich in diesen Club verirrt zu haben.

Gut, dass sie am Freitag alleine losgezogen war und nicht mit ihren Freundinnen Kristen und Miranda! Die hätten sie bestimmt noch Jahre später damit aufgezogen. Normalerweise waren sie zu dritt unterwegs, aber Miranda hatte am Freitagabend einen Fortbildungskurs besucht und Kristen ein Date gehabt.

Ihr letztes Date war schon Monate her. Dabei war sie ein Familienmensch und sehnte sich nach einer stabilen Beziehung.

Abigail legte den Fön beiseite und zupfte ihre Frisur mit den Fingern in Form. Dunkelblaue, fast violett schimmernde Augen und ein schmales, herzförmiges Gesicht sahen sie aus dem Spiegel heraus an. Schon oft hatte man ihr gesagt, dass sie gut aussähe, aber in der von Männern beherrschten Welt, in der sie sich bewegte, wurden Frauen kaum wahrgenommen.

Dabei fühlte sie sich durchaus als Frau. Abigail ließ ihren Blick durch den Raum schweifen. Ihr Appartement mochte klein sein, aber sie hatte es selbst eingerichtet und liebevoll dekoriert. Die Mischung aus modernen Möbeln und romantischen Accessoires entsprach ziemlich genau ihrem Charakter. Sie sah auch nicht ein, ihre weibliche Seite zu unterdrücken, bloß, weil einige Männer damit womöglich ein Problem hatten.

Immerhin, der Samstag hatte vielversprechend begonnen. Sie war mit Miranda und Kristen durch die etwas exklusiveren Clubs gezogen, und man hatte ihnen einige Drinks spendiert. Aber während die beiden am Ende des Abends jeweils einen Verehrer gefunden hatten, hatte niemand nach ihrer Telefonnummer gefragt.

Vielleicht war die blonde Sekretärin Abby, als die sie sich ausgab, doch etwas zu billig für diese Clubs gewesen? Dabei hatte sie deutlich weniger Dekolleté gezeigt als am Abend zuvor, und auch deutlich weniger Bein.

Abigail seufzte. Die Familienfeier heute hatte sie geschwänzt, weil sie es leid war, immer wieder gefragt zu werden, wieso eine so nette und intelligente Frau wie sie mit fast dreißig immer noch Single sei.

Aber genau das war das Problem. Nett bedeutete für viele Männer, dass sie sie unterbuttern konnten, und Intelligenz war das rote Tuch schlechthin. Eine Frau hatte gut auszusehen, der Mann hatte klug zu sein. Niemals umgekehrt!

Also unterschlug sie beim Daten ihre zwei Studienabschlüsse und ihren Doktor in Mathematik genauso wie die Tatsache, dass sie als Dozentin an der Uni arbeitete. Nicht, dass die Männerwelt sich bedroht fühlte!

Ihre Gedanken wurden vom Klingeln ihres Telefons unterbrochen. Sonntagabend, so spät? Wollte eine ihrer Freundinnen ihr erzählen, dass sich ihre Verehrer von letzter Nacht bereits gemeldet hatten?

Doch ein Blick aufs Display zeigte, dass sie sich zu früh gefreut hatte.

„Ich habe einen Job für dich, Schwesterlein.“

„Hallo, Marc“, seufzte Abigail als Begrüßung. Außer Marc hatte sie keine Brüder, und der, den sie hatte, nervte sie gerade ganz gewaltig, weil er sich schon seit Monaten in ihr Leben einmischte. Eigentlich seit sie denken konnte, aber in letzter Zeit war es besonders schlimm. „Kein Interesse. Ich habe bereits einen Job.“ Keinen besonders gut bezahlten Job, aber einen, den sie liebte, in dem sie aufging und für den sie hart gearbeitet hatte.

„Es wäre eher so etwas wie ein Auftrag. Ein befristeter Nebenjob.“

„Welchen Teil der Aussage ‚kein Interesse‘ hast du genau nicht verstanden?“

Marc lachte. Vielleicht sollte sie auch mal anzufangen, ihn zu nerven, dachte Abigail missmutig. „Hast du keine Freundin, die du beruflich verkuppeln kannst?“

„Zwei. Aber die können in diesem Fall nicht helfen. Da brauchst du kein gutes Aussehen, sondern Köpfchen.“

Machte Marc sich über sie lustig, oder hatte er tatsächlich zwei Freundinnen gleichzeitig? Sie fand noch nicht einmal einen einzigen Mann! Seit fast einem Jahr war sie inzwischen Single. Das Leben war ungerecht!

Sie entschloss sich, die als Kompliment getarnte Beleidigung zu ignorieren. „Bitte, erspar mir Details aus deinem Liebesleben.“

„Neidisch, Schwesterherz?“

Abigail nahm ihr Smartphone vom Ohr und überlegte, ob sie auflegen oder das Gerät aus dem Fenster pfeffern sollte. Aber Ersteres hätte nur einen weiteren Anruf zur Folge gehabt, und Letzteres würde teuer werden. Mit einem ergebenen Gesichtsausdruck, den Marc glücklicherweise nicht sah, hielt sie es sich wieder ans Ohr und bekam gerade noch einen Satzfetzen mit, der mit „heißer Typ“ endete. Sprach er etwa von sich selber?

„Du weißt, dass Männer für mich keine Sexobjekte sind.“ Nun ja, vielleicht mit Ausnahme des Typen im Club vorgestern. Den hatte sie schon behandelt wie ein Sexobjekt. Was ihr Bruder wohl von ihr denken würde, wenn er davon wüsste? Wenn Männer sich so aufführten, galten sie als tolle Hechte, wenn Frauen sich so aufführten, als Schlampen.

Marc lachte. „Na, das ist in diesem Fall auch besser so.“

Ja, er sprach von sich selber. Abigail schnaufte. So überzeugt von sich, wie viele Männer es waren, wäre sie auch gerne.

„Er ist schon etwas älter.“

Abigail runzelte die Stirn. Marc sprach wohl doch nicht von sich selbst. Sie würde gewiss nicht nachfragen und ihm auf die Nase binden, dass sie Teile der Konversation nicht mitbekommen hatte. Immerhin hatte sie einen Ruf als Genie der Familie zu verlieren.

„Ich habe Daniel gesagt, dass du ihn anrufen wirst.“

„Daniel?“ Versuchte ihr Bruder etwa gerade, sie zu verkuppeln? Der konnte was erleben.

Marc seufzte ungeduldig. „Ja, Daniel. Unser Cousin. Ich habe ihn heute getroffen. Davon habe ich doch die ganze Zeit gesprochen.“

Jetzt bereute Abigail, nicht richtig zugehört zu haben. Aber Daniel würde sie hoffentlich aufklären. Mit ihm würde ihr Bruder sie niemals verkuppeln, schließlich war Daniel glücklich verheiratet. Außerdem gehörte er zur Familie. Abigail mochte ihn. Wenigstens einer, der sie nicht ständig mit ihrem männerlosen Status aufzog.

„Okay. Wann soll ich ihn anrufen?“, fragte sie, um Ruhe vor Marc zu haben.

„Am besten gleich morgen früh. Es klang dringend.“

Mental überschlug Abigail ihre Termine des morgigen Tages. Um neun hatte sie eine Vorlesung, zum Lunch war sie mit zwei Kollegen verabredet, und nachmittags gab sie ein Seminar. Obwohl die private Universität, an der sie arbeitete, zentral gelegen war, brauchte sie mit öffentlichen Verkehrsmitteln fast eine Stunde bis zum Campus. Wenn sie nicht im Bus telefonieren wollte, musste sie entweder sehr früh anrufen oder kurz nach ihrer Vorlesung. „Ich versuche es von der Uni aus.“

„Wenn du dir endlich ein Auto kaufen würdest, könntest du während der Fahrt telefonieren. Das spart Zeit.“

Diese Diskussion führten sie nicht zum ersten Mal. „Du weißt, dass Parkplätze hier rar und teuer sind und San Francisco ein gut ausgebautes öffentliches Verkehrssystem hat.“

„Tja, bald kannst du es dir leisten.“ Mit diesen kryptischen Worten legte Marc auf, und Abigail blieb nichts anderes übrig, als auf den Morgen zu warten.

3. KAPITEL

Sie machte es nur Daniel zuliebe, nicht, weil Marc sie gedrängt hatte, versuchte Abigail sich die Situation schönzureden, als sie zwei Tage später im Zug saß.

Die meisten Menschen hätten sich einen Mietwagen genommen, aber die Bahn brauchte nur etwa eine Stunde von San Francisco nach Mountain View. Je nach Verkehrsaufkommen war das sogar schneller als mit dem Auto. Das gesparte Geld könnte Abigail für eine lang geplante Europa-Reise gut gebrauchen, genauso wie ihr mehr als großzügig bemessenes Honorar. Außerdem konnte sie im Zug lesen oder arbeiten, was am Steuer nicht möglich war.

Während die Ausläufer von San Francisco an ihr vorbeizogen, ließ sie das Telefonat mit Daniel noch einmal Revue passieren.

„Einer meiner Kollegen braucht Nachhilfe in Mathematik, genauer gesagt: Wirtschaftsmathematik und alles, was im Managementbereich mit Zahlen zu tun hat“, hatte er ohne Umschweife gesagt. „Schnell, diskret, zuverlässig.“

Sie hatte zuerst abgewinkt. Schließlich hatte sie einen Job und schon andere Nachhilfeschüler. Wenn überhaupt, argumentierte sie, müsse er zu ihr nach San Francisco kommen.

„Das geht nicht, er hat einen sehr vollen Terminkalender“, war Daniel ausgewichen.

Den hatte sie auch. „Warum sucht er sich denn nicht jemanden, der in der Nähe wohnt?“

Daraufhin hatte ihr Cousin eine Weile herumgedruckst und schlussendlich angedeutet, dass die ganze Angelegenheit absolut vertraulich zu behandeln sei, weil nicht herauskommen solle, dass diese Person überhaupt Nachhilfe benötige. „Ich würde es selber machen, aber ich habe nicht die Ruhe und Geduld, Dinge zu erklären, die du hast.“

Das hatte sie jetzt davon, seinen Söhnen ab und zu in Mathematik geholfen zu haben, dachte Abigail. Erst, als Daniel den Betrag nannte, den ihr Schüler zu zahlen bereit war, damit sie zu ihm kam, ihn unterrichtete, wieder zurückfuhr und niemandem auch nur ein Sterbenswörtchen über ihr Arrangement erzählte, hatte sie nachgegeben. Ihr Schüler musste entweder sehr reich sein – oder sehr verzweifelt. Sie tippte auf Letzteres, und das war schließlich der Grund gewesen, dass sie nachgegeben hatte. Zu oft hatte sie gute, ja sogar hochintelligente Schüler gesehen, die wegen eines einzigen Fachs den Highschool-Abschluss nicht geschafft hatten oder sich an der Uni quälten, weil sich niemand die Mühe machte, ihnen den Stoff in der für sie geeigneten Art und Weise zu vermitteln.

„Danke, Abigail, du hast was gut bei mir“, hatte Daniel das Gespräch beendet und ihr die Daten für ihre erste Nachhilfestunde durchgegeben.

Die Zugfahrt verging schnell. Vom Bahnhof aus musste sie noch eine knappe Meile zu Fuß gehen, aber das machte ihr nichts aus. Von San Francisco war sie es gewohnt zu laufen. Hier in Mountain View, einem kleinen Ort im Silicon Valley, in dem einige der großen Internetfirmen ihren Sitz hatten, schien es eher unüblich zu sein, aber immerhin begegneten ihr einige Fahrradfahrer, Jogger und Skater.

Vor dem Gebäude von Sinclair Corporation blieb sie einen Moment stehen und betrachtete die Fassade aus dunklem Glas, in der sich die Umgebung spiegelte. Die Rasenflächen leuchteten grün. Vor dem Eingang gab es einen kleinen Springbrunnen, an dem zwei junge Männer mit ihren Laptops saßen, Kaffee tranken und in eine Diskussion vertieft waren. Fast wie ein kleiner Unicampus, dachte Abigail beeindruckt.

Dabei gab es die Firma noch gar nicht so lange. Der Gründer, Cameron Sinclair, war kaum älter als sie, schien aber genau zu wissen, wie man ein erfolgreiches Unternehmen aufbaute. Sinclair Corporation gehörte zu den Top-Arbeitgebern im Valley.

Hier arbeitete ihr Cousin also. Sogar bis in den Vorstand hatte Daniel es geschafft. Vielleicht sollte sie doch einmal darüber nachdenken, zu einem jungen Unternehmen mit flachen Hierarchien zu wechseln, das auch Frauen eine Chance gab? Daniel jedenfalls hatte nur Gutes zu berichten.

Grundsätzlich liebte Abigail ihren Job an der Uni, aber nach wie vor herrschten dort verkrustete Strukturen, und als Frau war sie im Bereich Mathematik eher eine Exotin. Der Karriereweg nach oben war durch ältere, erfahrenere Kollegen versperrt. Sie wusste, dass sie keine Chance hatte, jemals eine Professorenstelle zu erlangen.

Für eine Familie hätte sie auch auf eine Professur verzichtet, aber die Frage stellte sich gar nicht erst. Kind und Karriere unter einen Hut bekommen? In ihrem Fall war es wohl eher weder noch, und Hüte trug sie auch nicht. Höchstens Perücken.

Dabei war sie eine hervorragende Mathematikerin. Aus diesem Grunde war sie schließlich heute hier.

Abigail straffte ihre Schultern und betrat die Eingangshalle.

Erst, als der Stift unter seinen Fingern zerbrach, gestand Cam sich ein, dass er doch nervöser war, als er gedacht hatte.

Mathematiknachhilfe, ausgerechnet er! In seinem Alter, in seiner Position!

Erinnerungen an seine früheren Lehrer tauchten vor ihm auf, allesamt ältere Männer, die ihre Schüler oftmals vor der ganzen Klasse blamiert hatten, wenn sie etwas nicht sofort verstanden.

Cam seufzte. Er hatte Daniel extra noch gesagt, dass sie am besten nur noch hässliche alte Männer einstellen sollten! Natürlich hatte er es als Scherz gemeint, aber zuzutrauen wäre es seinem Kollegen, dass er ihm einen ehemaligen Lehrer besorgt hatte, der sich seine Rente etwas aufbessern wollte.

Die Tür öffnete sich, und Cam schnappte überrascht nach Luft. Von wegen älterer Lehrer!

Weiblich und jung war sie, gekleidet in einen grauen Hosenanzug, den sie wie einen Schutzpanzer trug.

Jetzt wich sie sogar einen Schritt vor ihm zurück und schlug die Hand vor den Mund. Was hatte er ihr denn getan, um so eine Reaktion hervorzurufen?

Er war es.

Der Mann von Freitagabend.

Der Mann, von dem sie gedacht hatte, dass sie ihn niemals wiedersehen würde.

Abigail spürte, wie ein Schauer über ihren ganzen Körper lief.

Instinktiv trat sie einen weiteren Schritt zurück. Was nun?

„Kommen Sie ruhig rein, ich habe wahrscheinlich mehr Angst vor Ihnen als Sie vor mir“, sagte die Ursache ihres Schreckens mit einem Hauch von Belustigung in seiner Stimme.

Langsam stieß Abigail die Luft aus, die sie angehalten hatte. Konnte es sein, dass er sie nicht erkannt hatte? Immerhin hatte sie eine Perücke getragen, und die Beleuchtung in der Bar war nicht die beste gewesen.

Ihre Hand zitterte, als sie sie ihm zur Begrüßung reichte. „Abigail. Sind Sie derjenige, der meine Hilfe benötigt?“

Ihre Stimme zitterte ebenfalls, wie sie feststellte. Als Abby sprach sie normalerweise mit etwas rauchigerer Stimme als in ihrem Alltagsleben, weil sie gemerkt hatte, dass die Männer das antörnte.

„Cam.“ Sein Handschlag war fest und warm. Fast schien es ihr, als halte er ihre Hand länger als zur Begrüßung höflich in seiner. „Schön, dass Sie da sind.“

„Die Nachhilfelehrerin“, ergänzte Abigail, da sie nicht wusste, was sie sonst sagen sollte.

Er nickte. „Was für eine Überraschung.“

Wie meinte er das, Daniel hatte den Termin doch arrangiert? Oder hatte er sie doch erkannt? „Ist alles in Ordnung, oder gibt es ein Problem?“

„Kein Problem.“ Er deutete auf den Stuhl. „Setzen Sie sich, Abigail, und erklären Sie mir, was es mit diesen Zahlen so auf sich hat.“

Eine halbe Stunde später musste Cam sich eingestehen, dass es doch ein Problem gab: Sein Nachhilfelehrer hatte Brüste. Die hatte sie zwar unter ihrem Blazer und einer weißen Bluse versteckt, aber bei jedem Atemzug, den sie tat, hoben und senkten sie sich und zogen seine Aufmerksamkeit auf sich.

Aufmerksamkeit, die er definitiv für etwas anderes gebraucht hätte. Denn obwohl sie mit sanfter Stimme sprach, hatte er Schwierigkeiten, sich auf das zu konzentrieren, was sie sagte.

Bisher hatte sie nur eine Bestandsaufnahme seiner Kenntnisse gemacht, sich von ihm erzählen lassen, was er noch aus seiner Schulzeit wusste, mit welcher Art von Unterricht er gut und mit welcher er gar nicht klarkam und was er überhaupt für seine Arbeit hier brauchte.

Er hatte ihr ein paar Dateien und den Quartalsbericht gezeigt, etwas von einer Planungsrechnung erwähnt und gehofft, dass sie ihn nicht verachtete, weil er eine Position bekleidete, für die er so offensichtliche Defizite hatte.

Erst, als sie „Das kriegen wir schon hin“, sagte, entspannte er sich ein wenig und riskierte einen Blick in ihr Gesicht. Ihre Augen hatten eine faszinierende Farbe, irgendetwas zwischen dunkelblau und violett, und sie hatte eine niedliche Stupsnase. Im Verhältnis dazu schien ihr Mund fast ein wenig zu groß. Wenn sie sich konzentrierte, leckte sie sich immer wieder über die ungeschminkten Lippen, und jedes Mal, wenn Cam ihre Zungenspitze sah, fuhr ein Stromstoß durch ihn. Es war selten, dass er so auf eine Frau reagierte, besonders in einer geschäftlichen Situation.