Else Ury
Professors Zwillinge
2. Band: Professors Zwillinge in der Waldschule
In Sprache und Schreibweise modernisiert
Impressum
Covergestaltung: Silvia Ceplichal
Illustrationen: Silvia Ceplichal
Digitalisierung: BROKATBOOK Verlag
ISBN: 9783955018252
2015 andersseitig.de
info@new-ebooks.de
andersseitig Verlag
Helgolandstraße 2
01097 Dresden
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Inhalt
Impressum
1. Kapitel. Geografiestunde
2. Kapitel. Eine große Neuigkeit
3. Kapitel. Umzug
4. Kapitel. Die neue Wohnung
5. Kapitel. Als Vater fortfuhr
6. Kapitel. Waldschulkinder
7. Kapitel. Wieder Sonnenschein
8. Kapitel. Wie es Professors Zwillingen weiter in der Waldschule erging
9. Kapitel. »Schuss für ewig«
10. Kapitel. Die Backpfeife
11. Kapitel. Kleine Gärtner
12. Kapitel. Was Vater schreibt
13. Kapitel. Pfingstferien
14. Kapitel. Muttis Heinzelmännchen
15. Kapitel. Schulausflug
16. Kapitel. Traumsuse
17. Kapitel. Am Meeresstrand
18. Kapitel. Die verschlossene Klassentür
19. Kapitel. Waldschulfest
20. Kapitel. »Unser erster November«
21. Kapitel. Im Schnee
22. Kapitel. Winter ade
»Klinglinglingling« machte die Schulglocke. Da war die Frühstückspause zu Ende. Flinke Beine hielten mitten im Laufen auf dem Schulhof inne. Kleine Schreihälse dämpften plötzlich ihre hellen Stimmen. Ganz geschwind noch einmal vom Frühstücksbrot abgebissen, dann verschwanden die Brote in Blechbüchsen und Ledertäschchen.
»Zu zweien antreten«, rief die Lehrerin, Fräulein Giesicke, die an der Treppe heute die Aufsicht führte. Ja, Fräulein Giesicke hatte gut rufen. Immer wieder erwischte sie ein dreiblätteriges, ja sogar vierblätteriges Freundschaftskleeblatt, das sich nicht einmal auf der Treppe trennen mochte. Besonders die Mädel hingen wie die Kletten zusammen, während es den Jungen gleichgültiger war, neben wem sie gingen.
»Die nächsten schreibe ich unter Tadel.« Fräulein Giesicke war mit Recht ungehalten.
»Suse Winter, was habe ich eben gesagt? Kannst du denn nicht hören, Kind?« Die Lehrerin hielt ein kleines, etwa neunjähriges Mädchen, das, zu vieren eingehakt, gerade an ihr vorbeischlüpfen wollte, fest.
Die Braunaugen der Kleinen sahen erschreckt zu der erzürnten Lehrerin auf. Nein, die Suse, Traumsuschen, wie sie oft genannt wurde, hatte mal wieder nichts gesehen und gehört.
»Ja, ich muss dich jetzt unter Tadel ins Klassenbuch als ungehorsam schreiben, Suse Winter.«
In den braunen Augen des kleinen Mädchens begann es zu flimmern. Tränen stiegen heiß empor, und da überfluteten sie auch schon das rosige Kindergesicht.
»Meine Suse kann ja gar nichts dafür, dass wir zu vieren gehen«, rief da der kleine Junge, der sie untergeärmelt hatte, mit blitzenden blauen Augen. »Wenn wir doch Zwillinge sind! Die gehören immer zusammen. Und jeder hat einen Freund und eine Freundin, den Klaus und die Steffie, das macht vier«, erklärte er eifrig.
Um die Lippen der Lehrerin zuckte es belustigt. »Ei, Herbert, wenn du dich nicht von deiner Schwester trennen magst, dann müssen eben der Klaus und die Steffie allein zu zweit gehen. Hör' nur jetzt auf zu weinen, Suse. Diesmal werde ich dir den Tadel noch schenken«, begütigte Fräulein Giesicke.
Dankbar drückte Suse die Hand des neben ihr gehenden Bruders. »Wie gut, dass wir Zwillinge sind, Herbert«, sagte sie, die Tränen trocknend.
»Du hättest auf keinen Fall den Tadel bekommen, Suse. Dann hätte ich ihn mir geben lassen. Es kann Fräulein Giesicke doch gleich sein, wer den Tadel kriegt, du oder ich. Jungs müssen gegen Mädels immer ritterlich sein, sagt Vater.«
Damit nahmen sie ihre Plätze nebeneinander auf der Schulbank ein.
Die nächste Stunde war Geografiestunde. Die große Landkarte von Deutschland hing an der Wand. Die Klasse erhob sich. Dr. Tiedemann, der Geografielehrer, war erschienen. Er griff nach dem großen Zeigestock und fragte wie stets zu Anfang der Stunde: »Na, Kinder, wohin wollen wir heute reisen?«
»Ins Riesengebirge.« – »Nein, lieber in den Harz.« – »Nach München.« – »An der Ostsee ist's noch viel schöner.« – »Im Schwarzwald, da ist's am allerfeinsten«, überschrie einer den andern.
»Kinder, macht nicht solchen Krach – mein Trommelfell platzt.« Der Lehrer hielt sich die Ohren zu. »Ruhe – mäuschenstill! So – nun werde ich euch mal einen Vorschlag machen. Erst nehmen wir uns eine Rundreisekarte durch Deutschland und wiederholen dabei zur Klassenarbeit für die Osterzensuren. Denn wir wollen doch alle gute Zeugnisse bekommen. Und dann – ja, dann habe ich als Belohnung eine Überraschung für euch.«
»Au fein.« – »Was ist es denn?« – »Herr Tiedemann ist der allernetteste!« so schwirrte das wieder von Jungen- und Mädchenstimmen durcheinander.
Aber als der Lehrer jetzt mit dem Zeigestock gegen die Tafel klopfte, waren sie wirklich mäuschenstill. Denn alle hatten sie den netten Lehrer, der ihnen manche Freiheit ließ, dafür aber auch volle Aufmerksamkeit forderte, gern.
Und nun ging's los. Schneller als der Blitzzug fuhr der Zeigestock durch Deutschland. Jetzt war er an der Ostsee, segelte von Stettin die Oder hinab nach Breslau – hopp, ins Riesengebirge hinauf zur Elbquelle – weiter gesaust an den Rhein. Nun machte er in Köln Station.
»Welches herrliche Bauwerk wollen wir hier in Köln besuchen? Das kann uns mal die Suse Winter sagen.«
Traumsuschen fuhr empor. Es war mit seinen Gedanken im Riesengebirge, im Elbgrund, den es im letzten Sommer mit den Eltern und dem Bruder durchwandert hatte, kleben geblieben. Nun hatte es den Anschluss bei der eiligen Reise verloren. Hilflos blickte es zu dem danebensitzenden Bruder. Von dort pflegte immer Rettung zu kommen.
Suse irrte sich nicht. Herbert ließ sein Zwillingsschwesterchen nicht im Stich.
»Den Dom – Dom«, raunte er ihr zu.
»Rom«, sagte Suse erleichtert.
Unbändiges Gelächter folgte. Die Klasse wieherte vor Vergnügen, besonders die Jungen wollten nicht aufhören. Suse war ein wenig empfindlich. Die Tränen hingen schon wieder locker.
Da klopfte zum Glück Dr. Tiedemann mit dem Stock auf den Klassentisch. »Ich kann das gar nicht lustig finden,« sagte er, nachdem wieder Ruhe eingetreten war, »wenn einer vorsagt und der andere falsch versteht. Ich finde es traurig, dass ihr euren Lehrer täuschen wollt.«
Herbert machte ein bestürztes Gesicht. Er hatte doch den netten Herrn Tiedemann nicht täuschen wollen – nein, ganz gewiss nicht! »Die Suse ist doch mein Zwilling«, stieß er zu seiner Entschuldigung hervor.
»Ich wollte nur hören, was der eine Zwilling weiß, nicht, was sie alle beide zusammen wissen«, sagte Herr Tiedemann, mit dem Finger drohend. »Sonst muss ich euch beide auseinander setzen.«
»Das geht nicht«, sagten die Zwillinge wie aus einem Munde. Nein, das erschien ihnen ganz unmöglich. Hatten sie doch vom ersten Schultage an als kleine Abc-Schützen immer getreulich nebeneinander gesessen.
Der Zeigestock sauste weiter durch Deutschland; Suses Gedanken jetzt eifrig hinterdrein. Sie war ein fleißiges kleines Mädchen und bemühte sich, ihre Unaufmerksamkeit wieder gutzumachen.
Da gab es noch manche Entgleisung auf der Reise. Steffie verlegte Hamburg an den Rhein, und der Peter gar die Schneekoppe in den Harz. Lenchen meinte, die Wartburg sei berühmt durch Luthers Tintenfleck. Und von Wittenberg wusste der Hans nur, dass es dort besonders guten Apfelkuchen gab. Aber im ganzen konnte Herr Tiedemann mit der Klasse zufrieden sein. Sie hatten etwas gelernt.
»Nun die Belohnung – jetzt kommt die Belohnung!« riefen die Kinder, als der Zeigestock reisemüde haltmachte.
»Richtig.« – Der Lehrer rollte eine Karte, die auf dem Klassentisch lag, auseinander und hängte sie an den Landkartenständer. Darauf sah man lauter Kreise, Linien und Punkte. Viele Hunderte, große und kleine.
Die Jungen und Mädchen machten enttäuschte Gesichter. Das war doch keine Belohnung!
»Wer kann mir sagen, was diese Karte vorstellt? Nehmt mal all euren Grips zusammen, Kinder«, sagte Dr. Tiedemann.
»Das ist ein Irrgarten.« – »Das sind lauter Flüsse mit großen Schiffen und kleinen Booten.« – »Ach wo, das ist der Zoo mit großen und kleinen Tieren«, überschrie sie Rudi, der mit seinen Gedanken stets im Zoologischen Garten war.
»Immer nur einer, Kinder. Wer es weiß, der melde sich, wie es sich gehört. Bis jetzt hat es noch keiner geraten«, sagte der Lehrer.
Herbert und Suse Winter sahen sich beide an. »Das ist doch –.« »Ja, natürlich –,« und da durchbohrten auch schon beider Zeigefinger die Luft.
»Na, Suse oder Herbert, wer von euch weiß es richtig?«
»Das ist der Sternenhimmel«, riefen die Zwillinge wie aus einem Munde.
»Richtig! Es wäre ja auch eine Schmach, wenn Professor Winters Zwillinge das Handwerkszeug ihres Vaters nicht kennen würden. Habt ihr beim Vater schon solche Himmelskarten gesehen?«
»Ach, wie viele!« rief Herbert. Und Suse setzte wichtig hinzu: »Unser Vater zeichnet doch selber welche.«
»Schön. Da werdet ihr am Ende schon ganz gut da oben Bescheid wissen. Die andern Kinder in der Klasse und ich, wir wollen aber auch was vom Sternenreich kennenlernen. Darum nehmen wir uns jetzt ein Luftschiff, und hast du nicht gesehen, geht's durch die Lüfte. So – angelangt! Aussteigen, meine Herrschaften! Nun sind wir mitten im Sternenland. Da gibt's Sterne, die fest angewachsen sind, die nennt man Fixsterne. Wer weiß, welches der bekannteste Fixstern ist, um den sich alle anderen Sterne bewegen?«
»Der Abendstern.« – »Der große Bär«, rief es hier und dort, während die meisten Kinder ziemlich dumme Gesichter machten.
»Falsch! – Ei, Suse und Herbert Winter, wisst ihr es auch nicht?« Suse sah fragend auf den Bruder. Wenn der es nicht wusste, dann brauchte sie es auch nicht zu wissen. Er war ja zwei Stunden älter. Herbert dachte eifrig nach, so dass er ganz rot wurde vor Anstrengung, und sagte schließlich: »Die Sonne.«
»Hahaha – hahahaha! –« Tumultartiges Lachen folgte. Diesmal war es Herbert, der von der Klasse ausgelacht wurde. Suse blickte beschämt drein, als ob es ihr selbst gelte. Es war doch ihr Zwilling, den man auslachte.
»Hahaha! – Die Sonne – das ist doch überhaupt kein Stern, die scheint doch am Tage. Ist der Herbert aber dumm!« rief ein vorlauter kleiner Bursche.
»Seid ihr jetzt fertig mit lachen?« fragte der Lehrer. »Dann will ich euch erzählen, dass ihr euch alle selbst ausgelacht habt. Was der Herbert gesagt hat, war gar nicht dumm, sondern ganz richtig. Die Sonne ist der bekannteste Fixstern, obgleich sie am Tage scheint. Die andern Sterne scheinen auch am Tage – ja, ja, wenn ihr auch so ungläubige Gesichter macht, Kinder. Das ist kein Scherz von mir. Es ist wirklich so. Wir können die Sterne nur nicht sehen, weil das Licht der Sonne viel heller strahlt als das Licht der Sterne. Na, was willst du noch fragen, Max?« Ein tintenbeschmierter Zeigefinger hatte sich zweifelnd erhoben. Bei Herrn Tiedemann durfte man stets Fragen stellen. Der wurde nie überdrüssig, sie zu beantworten.
»Dann müsste die Sonne doch auch in der Nacht heller sein als die Sterne, so dass man die Sterne auch nachts nicht sehen könnte«, gab Max zu bedenken.
Schon wieder machte die Klasse Miene, in Lachen auszubrechen.
Aber der Lehrer bändigte zum Glück noch den Sturm. »Ilse Kunze, warum lachst du?«
»Weil die Sonne doch nachts überhaupt nicht zu sehen ist.«
»Warum ist sie nicht zu sehen?«
»Weil sie abends untergeht«, rief die Klasse wie aus einem Munde.
»Was bedeutet das, wenn wir sagen, die Sonne geht unter? Ist sie wirklich nicht mehr am Himmel?« fragte der Lehrer.
Da gingen die Meinungen wieder sehr auseinander.
»Die Sonne liegt nachts im Meer drin – ich hab's ganz deutlich gesehen, wie wir letzten Sommer in Horst waren«, rief der Klaus.
»Ist ja gar nicht wahr, ganz hinten im Wald ist sie untergegangen; der Wald sah aus, als ob er brannte«, ließ sich eine andere hören.
»Nun, Steffie, was hast du noch dazu zu sagen?«
»Hinter den Bergen ist die Sonne nachts. Im Riesengebirge konnte man das ganz deutlich sehen«, sagte das kleine Mädchen eifrig.
»Und ich war neulich mit meinem Vater in Mecklenburg, und da ist die Abendsonne in den Wiesen untergegangen«, meldete sich wieder einer.
»Ja, das ist doch eine höchst merkwürdige Geschichte, Kinder«, meinte der Lehrer lächelnd. »Der eine sagt, die Sonne sei nachts im Meer, der andere, hinter den Bergen. Die Lisbeth hat sie im Walde untergehen sehen und der Fritz in den Wiesen. Wie mag das wohl nun zusammenhängen?«
»Die Sonne geht überall unter«, sagte die Klassenerste.
»Du meinst das Richtige, Anneliese, wenn du es auch noch nicht ausdrücken kannst. Die Sonne geht nicht überall unter, sondern wir sehen sie nach unserem jeweiligen Standpunkt verschieden, bald im Meer, bald hinter den Bergen oder auch in Wald und Wiesen untergehen. Nun, was haben die Winterschen Zwillinge noch dazu zu äußern?«
Herbert und Suse renkten sich schon seit geraumer Zeit die Arme aus. Aber der Lehrer hatte mit Willen erst die Ansicht der anderen Kinder eingeholt. Da der Vater der Zwillinge Professor der Sternenkunde war, mussten die zwei ja besser Bescheid wissen als die anderen.
Wie aus einem Munde riefen sie jetzt: »Die Sonne geht überhaupt nicht unter, die steht immer am Himmel fest. Wir nennen das bloß so, weil wir sie nicht mehr sehen«, setzte Suse noch erklärend hinzu.
»Schön. Wenn ihr so schlau seid, müsst ihr uns aber noch verraten, warum wir die Sonne des Nachts nicht sehen können, wenn sie am Himmel feststeht«, verlangte Dr. Tiedemann.
Das war eine schwierige Frage. So weit gingen Suses Kenntnisse nicht. Sie erinnerte sich wohl, dass der Vater ihnen das mal erklärt hatte, aber Traumsuschen hatte wohl nicht genügend aufgepasst.
Ob Herbert besser Bescheid wusste? Ja, Herbert meldete sich. »Weil die Erde sich dreht und der Sonne des Nachts die andere Hälfte zuwendet, auf der wir nicht sind.«
»Wie heißt denn die Erdhälfte, die des Nachts von der Sonne beschienen wird, Herbert?«
»Amerika!« Das riefen die Zwillinge wieder zusammen.
»Stimmt. Also nun wissen wir's. Die Sonne steht fest, ist also ein Fixstern. Die Erde dreht sich, daher haben wir Tag und Nacht. Wenn es bei uns Tag ist, haben die Menschen in Amerika Nacht, weil die Sonne dann unserer Erdhälfte ihr Licht zukommen lässt. Habt ihr das alle begriffen?«
»Ja – natürlich – bloß –«
»Na, was gibt's da noch für ein bloß?«
»Ist's denn in Amerika auch dunkel, wenn es dort Nacht ist?« fragte einer, der noch nicht ganz klug daraus geworden war.
»Wer will dem Hans das erklären?«
»Ich.«
»Nein, ich.«
»Also schön, unsere Erste, die Anneliese.«
»Bei Nacht ist es immer dunkel, weil die Sonne dann die andere Seite der Erde bescheint, wo es Tag ist.«
»So ist's. Nun will ich euch noch zum Schluss verraten, dass unsere Erde kein Fixstern ist, sondern ein Planet, auch Wandelstern genannt. Und jetzt seid ihr für heute klug genug, Kinder. Das nächste Mal haben wir wieder Himmelskunde. Da gehen wir dann auf Fixsterne, die man in Sternbilder einteilt, und auf Planeten näher ein. Ich bin sicher, ihr kennt schon eine ganze Menge davon. Nicht nur der Herbert und die Suse Winter. Na, Herbert, hast du immer noch etwas auf dem Herzen? Schnell, schnell – unser Luftschiff geht gleich wieder ab. Wir müssen zurück auf die Erde.«
»Unser Vater hat gesagt, es gibt ein Sternenbild bei den Fixsternen, das gehört mir und der Suse. Es heißt nach uns«, teilte Herbert wichtig mit.
»Der Tausend«, lachte der Lehrer, während die Klasse halb bewundernd, halb neidisch lauschte. »Davon ist mir ja gar nichts bekannt.«
»Die Zwillinge – das sind zwei Sterne, die immer beieinander stehen. Die gehören uns beiden und heißen nach uns«, gab Herbert Auskunft.
»Na, mein Junge, ich glaube, dass die Zwillinge am Himmel doch etwas älter sind als ihr beide hier unten. Die haben schon vor Tausenden von Jahren am Himmel gestanden, als ihr noch nicht auf der Welt wart. Aber wenn das euer Namensstern ist, dann will ich wünschen, dass es ein Glücksstern für euch bedeutet.«
Klinglingling – war das die Glocke des Luftschiffes, die zur Abfahrt läutete? Nein, es war ja bloß die Schulglocke, die den Schluss der Stunde anzeigte. Was war die Himmelskunde heute für eine hübsche Unterrichtsstunde gewesen. Die ganze Klasse freute sich schon auf die nächste Geografiestunde bei dem netten Herrn Dr. Tiedemann, wo sie wieder ins Sternenreich reisen würden.
Aus der Grundschule draußen in Treptow strömten die Schüler und Schülerinnen. Den Schulranzen auf dem Rücken, die Mütze schief auf dem Kopf, so drängten sie sich durch das breite Tor hinaus in den Frühlingssonnenschein. Eigentlich war es noch gar nicht richtiger Frühling. Man schrieb erst den dritten März. Aber die Sonne schien heute so lustig und warm, dass die Buben bereits Pläne machten, am Nachmittag auf der großen Sportwiese zum ersten Mal wieder Drachen steigen zu lassen.
»Ach, lieber Murmeln spielen im Park, Herbert, da können wir Mädel auch dabei sein«, bat Suse leise den Bruder.
»Ihr könnt auch ruhig mit Drachen steigen lassen«, sagte Herbert großmütig. »Ich bringe meine Schwester mit.«
»Ich auch.« – »Ich auch«, rief es hier und dort.
»Nee, ach nee, das ist gar nicht schön, wenn die Mädchen wieder dabei sind. Die sind ja aus Marzipan und heulen, wenn man bloß mal ein bisschen doller mit ihnen boxt.«
»Der Herbert Winter muss immer seine Schwester dabei haben. Als ob wir Männer nicht auch mal unter uns sein können!« rief ein Knirps, sich in die Brust werfend.
»Schön, dann gehen wir eben Murmeln spielen, Suse«, bestimmte Herbert.
»Wenn es dir aber mehr Freude macht, Drachen steigen zu lassen?« wandte Suse als gute Schwester ein.
»Ohne dich macht's mir keine Freude.« So war das schon immer bei den Winterschen Zwillingen gewesen. Einer ohne den andern war undenkbar.
»Wir spielen auch lieber Murmeln im Park.« – »Wir auch.« – »Also um vier heute nachmittag!« Herbert und Suse Winter erfreuten sich besonderer Beliebtheit. Der Knirps und sein Freund blieben schließlich allein zum Drachensteigen zurück. Aber auch die Winterschen Zwillinge sollten heute trotz des schönen Sonnenscheins nicht zum Spielen im Park kommen.
Die Geschwister hatten den gleichen Heimweg von der Schule wie ihre Freunde Klaus und Steffie. Jetzt gingen sie nicht zu vieren untergeärmelt, sondern rannten durch die Wege des Treptower Parkes. War das stundenlange Stillsitzen in der Schule oder der erste Vorfrühlingstag mit seinem lustigen, von der nahen Spree herüberjagenden Wind daran schuld, sie jagten sich mit dem Winde um die Wette. Wie Vögel, die dem Käfig entronnen, flogen sie hinaus in das Sonnenlicht.
An der Treptower Sternwarte trennten sich die vier Freunde. Hier pflegten die Winterschen Kinder jeden Mittag auf den Vater zu warten, der dort als Professor der Sternkunde tätig war. Darum glaubte Steffie, der Name Sternwarte käme daher, weil Herbert und Suse stets dort ihren Vater erwarteten.
Heute warteten die beiden umsonst. Der Vater kam nicht zum Vorschein. So oft sich auch die große Tür zur Sternwarte auftat, wenn auch die Kinder jedes Mal einen Anlauf nahmen, ihm entgegenzustürzen. Es war immer ein anderer. Fünfmal hatten sie bereits das beliebte Spiel »Himmelhops« gespielt, und noch immer erschien er nicht. Wo blieb der Vater denn heute nur?
Ein befreundeter Kollege des Vaters kam vorbei und nickte den Kindern freundlich zu.
»Geht nur heim, Kinderchen. Euer Vater ist heute schon lange zu Hause. Es gibt eine Überraschung.« Damit schritt Dr. Schwarz vorüber. Herbert sah Suse an, und die Suse den Herbert. Eine Überraschung – was konnte das bloß sein? Überraschungen gab es doch nur zu Geburtstagen oder zu Weihnachten.
»Ich weiß, Herbert,« sagte Suse pfiffig, »unsere kleine Omama ist zu Besuch gekommen.« Denn das war jedes Mal eine freudige Überraschung für die Kinder, wenn sie den weiten Weg nach Treptow herauskam.
»Glaub' ich nicht«, entschied Herbert. »Deshalb geht der Vater nicht früher aus der Sternwarte fort. Dann muss es schon die große Omama aus Freiburg sein.« Die Kinder nannten die Großmütter väterlicher- und mütterlicherseits zum Unterschiede die kleine und die große Omama.
Jedenfalls ging es jetzt im Trab heim. Denn sie waren beide sehr neugierig, was das wohl mit der Überraschung für eine Bewandtnis habe. Die Schulmappe auf ihrem Rücken hopste bei jedem Schritt mit.
Ganz frühlingsmäßig war es heute im Park. Kinderwagen mit munter krähenden Kleinen, Spaziergänger, Kreisel peitschende Kinder. Ja, selbst der Luftballon-Mann, der sich den ganzen Winter nicht hatte sehen lassen, stand mit seinen bunten Ballons wieder da. Plötzlich brach Suse in einen Jubelruf aus: »Veilchen – ach, sieh bloß mal, Herbert. Die ersten Veilchen! Die nehme ich Mutti mit.« Wirklich, da lugte es blau am Wegrande, wo die Sonne besonders warm hinschien, hervor. Suse pflückte die ersten Frühlingsboten zu einem winzigen Sträußchen.
Auch das Haus, in dem sie wohnten, sah heute ganz frühlingsmäßig drein. Der blanke Wetterhahn auf dem Dach funkelte nur so in der Sonne. Die rote Zipfelmütze von dem Steinzwerg, der im Winter irgendwo im Keller geschlafen, leuchtete heute den Kindern wieder aus dem Vordergärtchen entgegen. Am Dachfirst piepsten die Sperlinge, und im Hintergarten gackerten die Hühner.
Und da war ja auch wieder der Papagei der Frau Lehmann auf dem Balkon. All ihre guten Freunde hatte der warme Sonnenschein herausgelockt.
Die Treppe hinaufgestürmt. Herbert nahm sogar immer zwei Stufen auf einmal, damit es schneller ging. Sturm geläutet an der Eingangstür. Die Überraschung winkte ja – was war das bloß für eine Überraschung?
Lautes Hundegekläff kam als Echo. Man hörte vier Beine den Gang entlangrasen – das war Bubi, Herberts Hündchen. Der erwartete seine kleinen Freunde jeden Mittag mit Sehnsucht.
»Tag, Lene. Ist die Omama gekommen?« begrüßte Suse das öffnende Mädchen.
Das schüttelte den Kopf. »Nee, Besuch is keiner nich da, aber 'ne jroße Neuigkeit jibt's.« Lene machte ein geheimnisvolles Gesicht.
»Eine Neuigkeit? Ich denke eine Überraschung.« Herbert ließ den vierfüßigen Bubi, dessen glattes, schwarzes Fell er väterlich geklopft hatte, laufen und stürmte weiter ins Wohnzimmer. Suse und Bubi hinterdrein.
»Tag, Mutti – Tag, Vati. Was ist denn los?« riefen sie schon in der Tür.
Vater saß am Schreibtisch und schrieb. Mutti hatte gerötete Augen. Ihre lustige Mutti traurig – nein, das konnte keine schöne Neuigkeit sein, wenn die Mutti deswegen geweint hatte. Die noch eben so lebhaften Kinder sahen betreten drein. Bubi sprang mit fragendem Bellen von einem zum anderen. Selbst der Hund merkte, dass da irgend etwas nicht in Ordnung war.
»Ruhig, Bubi – kusch dich!« befahl sein kleiner Herr. Dann machte er dem drückenden Schweigen beherzt ein Ende. Während Suse sich an Vaters Arm schmiegte, trat er zur Mutter.
»Warum hast du geweint, Muttichen? Und was ist das für eine Neuigkeit?«
»Nee, eine Überraschung«, rief Suse dazwischen.
»Also ihr wisst es schon?« fragte der Vater, das Töchterchen auf das Knie ziehend.
»Wir wissen noch gar nichts. Aber Herr Dr. Schwarz sagte, weil du nicht mehr in der Sternwarte warst, es gäbe eine Überraschung.«
»Unser Vater hat eine Aufforderung bekommen, an einer anderen Sternwarte in Italien zu arbeiten«, erklärte die Mutter mit zuckender Lippe.
»Au fein!« Mit einem Satz war die Suse vom Knie des Vaters. »Famos!« schrie auch Herbert. »Da können wir uns Apfelsinen von den Bäumen pflücken, und Palmen gibt es da nicht nur in Blumentöpfen –, und da ist es auch im Winter schön warm.« – Die Kinder hatten sich bei den Händen gefasst und vollführten einen wilden Freudentanz, zu dem Bubi mit lautem Gebell die Musik machte.
Vater und Mutter sahen sich an. Selbst die Mutter musste wieder lächeln. »Glückliche Kinder!« sagte sie leise.
»Nun hört mal mit dem Radau auf, ihr Gören«, dämpfte der Vater den lauten Freudenausbruch. »Vorläufig reise ich erst mal für ein Jahr allein nach Italien. Sollte meine Tätigkeit dort länger notwendig sein, so lasse ich Mutti und euch nachkommen.«
»Nimm uns doch lieber gleich mit, Vatichen«, schmeichelte Suse, wieder auf ihrem gewohnten Sitz, Vaters Knie, Platz nehmend. »Dann bist du da in dem großen Italien nicht so allein.« Eigentlich aber waren es die Apfelsinen, die sie dort lockten.
»Warum können wir nicht alle gleich mit?« erkundigte sich auch Herbert angelegentlich.
»Weil ich erst mal meine Tätigkeit und das Leben in Neapel kennen lernen muss. Ich weiß nicht, wie die Schulen dort sind, ob wir gleich Wohnung bekommen, und manches andere noch. Wenn ich nur ein Jahr dort bleibe, lohnt es nicht, euch alle erst dorthin zu verpflanzen.«
»Schade!« sagte Suse mit tiefem Seufzer.
»Wird dir denn die Trennung so schwer, mein Mädichen?« Manchmal nannten die Eltern ihre Zwillinge noch wie früher mit den Kleinkinder-Kosenamen »Bubi« und »Mädi«. Herbert liebte das nicht. Er fühlte sich dadurch in seiner neunjährigen Mannesehre beeinträchtigt. Aber Suse ließ sich gern ein bisschen verzärteln.
»Natürlich wird mir die Trennung schwer, doll schwer. Und dann ist es schade, dass wir nicht nach Italien verpflanzt werden, weil da doch alles so schnell wächst. Das haben wir in Naturgeschichte gehabt. Meine Freundin Steffie ist schon einen ganzen halben Kopf größer als ich.«
Die Eltern mussten schon wieder lachen. Es war doch merkwürdig, sobald die Kinder heimkamen, hielten trübselige Stimmung oder gar Sorgen vor dem Sonnenschein, den sie verbreiteten, nicht stand.
»Ganzer halber Kopf ist Quatsch«, belehrte inzwischen der gründliche Herbert die Schwester. »Entweder ist es ein ganzer Kopf oder ein halber. Und wachsen tust du noch lange nicht in Italien. Das gilt nur von Pflanzen und Bäumen.« Man merkte doch gleich, dass der Herbert zwei Stunden älter war als die Suse.
»Wann reist du, Vatichen?« erkundigte sich diese inzwischen.
»Zum ersten April soll ich schon mein neues Amt antreten. Es sind also nicht mehr als vier Wochen bis dahin. Und da gibt es noch kolossal viel zu erledigen. Eine andere Wohnung für euch, der Umzug, eure Umschulung – springe jetzt wieder ein bisschen herum, Suschen. Es sind wichtige Briefe, die ich zu schreiben habe.«
Aber Suse dachte gar nicht daran, Vaters Knie zu verlassen. Die Neuigkeiten waren viel zu interessant.
»In eine andere Schule kommen wir, Vater?«
»Warum können wir nicht in unserer Wohnung bleiben?« Herbert fand sich ebenfalls beim Vater ein. Beide Kinder hatten heiße Backen.
»Mein Nachfolger im Amt bezieht diese Wohnung. Wir haben aber schon eine andere in Aussicht am anderen Ende von Berlin, in Westend. Da hättet ihr ebenfalls gute Luft und seid nicht allzu weit von der Omama«, erklärte der Vater.
»Und unser Radio, Vater, was wird aus dem?« Der lag dem Herbert am meisten am Herzen. Aber nicht etwa der große Röhrenapparat des Vaters, nein, sein kleiner Detektorapparat, den er sich selbst an Galeriegitter und Kinderstubenbeleuchtung angelegt hatte.
»Den nehmen wir mit in die neue Wohnung.«
»Hurra – wir ziehen um! Hurra – wir kommen in eine andere Schule!« Wieder gab es einen wilden Freudentumult, bei dem der arme Bubi leider einen Fußtritt abbekam, so dass er sich winselnd unter einem Stuhl verkroch.
»Kinder, mir brummt mein Kopf. Seid bloß nicht so wüst. Frau Lehmann unter uns beschwert sich sonst wieder«, beschwichtigte die Mutter. »Ich bin traurig, sehr traurig, dass unser Vater auf so lange Zeit von uns fortgeht, dass wir unsere hübsche Wohnung, in der einem jedes Eckchen lieb und vertraut ist, hergeben müssen.« Tränen ließen sie nicht weiter sprechen.
»Mutti –, liebes Muttichen!« Da waren die Zwillinge bei der Mutter und umfingen sie liebevoll. »Nicht traurig sein. Ein Jahr ist ja gar nicht lang. Dann holt uns der Vater auch nach Italien«, tröstete Herbert. Man hätte dem lebhaften, wilden Jungen gar nicht diese Zärtlichkeit zugetraut.
»Ein Jahr ist sehr lang«, sagte die Mutter leise vor sich hin.
»Und ein Umzug ist famos, da gibt's so viel zu sehen. Und in der neuen Wohnung ist sicher keine Frau Lehmann, die immer raufschickt, wenn wir mal Krach machen. Ach, wird mich die Steffie beneiden«, rief Suse begeistert.
»Eine andere Schule ist noch viel famoser! Was wird der Klaus bloß dazu sagen!« überschrie sie Herbert.
»Und an die Trennung von euren Freunden und von der Schule denkt ihr gar nicht?« fragte die Mutter. »Wird es euch denn nicht schwer, von ihnen fortzugehen?«
»Die Steffie und der Klaus können uns ja besuchen, jede Woche«, meinte Suse nun doch ein wenig nachdenklich.
»Und in der Schule wird es mir bloß schwer, von Herrn Dr. Tiedemann fortzugehen, weil der der allernetteste ist und uns jetzt Himmelskunde in Geografie gibt. Vater, die Suse und ich, wir haben heute am allermeisten von den Sternen gewusst. Wir haben dir keine Schande gemacht«, berichtete Herbert eifrig.
»Der Tausend!« Professor Winter ließ seine wichtigen Briefe liegen und wandte sich den Kindern wieder zu. »Was habt ihr denn von der Sternenlehre durchgenommen?« Sein Interesse war geweckt.
»Ach, man bloß, warum es nachts dunkel ist und am Tage hell«, meinte das Töchterchen so nebenbei. Suses Interesse galt jetzt anderen Dingen – dem bevorstehenden Umzug.
»Und dass die Sonne ein Fixstern ist, und die Erde ein Wandelstern oder Planet!« Der Herbert war ganz bei der Sache. »Und nächstes Mal lernen wir die Fixsterne und Planeten näher kennen. Aber dass die Zwillinge, die beiden Sterne oben am Himmel, nach Suse und mir heißen, hat Dr. Tiedemann nicht geglaubt.«
»Kann ich dem Herrn Doktor auch nicht verdenken, Herbert«, lachte der Vater. »Die Hauptsternbilder unter den Fixsternen habe ich euch doch schon gezeigt, Kinder. Aus dem Tierkreis – wisst ihr nicht mehr?«
»Doch – doch, ich weiß noch! Widder, Stier, Zwillinge –«
»Zwillinge sind doch keine Tiere«, lachte Suse den Bruder aus.
»Herbert hat recht – die Zwillinge gehören auch dazu, es sind nicht nur Tiernamen. So, Herbert, das waren die Fixsterne, die im Frühling gut sichtbar sind. Nun kommen die, welche im Sommer besonders hell leuchten. Na, Suschen, hast du alles vergessen? Weißt du gar nichts mehr?«
»Doch – der große Bär.« Die Suse wollte nicht dümmer sein als ihr Zwilling.
»Nein, Suschen, der gehört nicht dazu. Wenn es auch ein Tiername ist. Also, dann sage du es uns, Herbert.«
»Steinbock, Wassermann, Fische –, Vater, Krebs und Löwe gehören doch auch dazu, nicht wahr?«
»Freilich, aber du bringst alles durcheinander, Junge. »Krebs, Löwe und Jungfrau sind die Zeichen des Sommers. Im Herbst sieht man Wage, Skorpion und –«
»Schütze« – schrie Herbert dazwischen.
»Stimmt. Und nun kommt der Winter.«
»Im Winter sieht man Steinbock, Wassermann und Fische am deutlichsten. Weißt du's jetzt, Suse?« Herbert fühlte sich für die Kenntnisse seiner Zwillingsschwester mit verantwortlich.
»Ja, jetzt weiß ich's. Aber morgen habe ich es wieder vergessen,« sagte Suse ehrlich.
»Weil du unser Traumsuschen bist«, scherzte der Vater. »Meine Kinder müssen doch die Fixsterne kennen, wenn ich an dem großen Werk ›Geschichte des Fixsternhimmels‹ seit Jahren mitarbeite, und deshalb sogar die ehrenvolle Aufforderung an die Sternwarte in Neapel erhalten habe.«
»Du wirst nicht hinkommen, Paul, wenn du die wichtigen Briefe nach Italien nicht schreibst«, mahnte seine Frau. »Kommt, Kinder, wir wollen den Vater jetzt allein lassen.«
Draußen fiel Suse der Mutter um den Hals. »Ach, Muttichen, sei bloß nicht mehr traurig, weil wir uns doch so freuen. Ich helfe dir auch doll beim Packen.«
»Ich sorge für dich, Mutti, wenn der Vater fort ist«, versprach Herbert. »Gut, dass ich nicht auch ein Mädel bin, dass doch wenigstens ein Mann im Hause ist.«
Da konnte die Mutter nicht länger ernst bleiben. Sie lachte so herzlich wie sonst. »Ihr seid meine guten Kinder – wenn ich euch nicht hätte!«
Beim Mittagessen stand der Mund der Kinder nicht still. »Vati, nimmst du dein großes Fernrohr mit nach Italien?«
»Wird die Lene auch mit umgezogen? Und darf ich auf dem Bock vom Möbelwagen sitzen?« So ging das ohne Ende.
»Kinder, jetzt wird der Mund nur noch zum Essen aufgemacht. Nun wird nichts mehr gefragt«, gebot die Mutter Einhalt. Nach dem Essen machte sich Frau Professor tatkräftig daran, die ganze Wirtschaft einer eingehenden Musterung für den bevorstehenden Umzug zu unterziehen.
Auch in der Kinderstube wurde Musterung abgehalten. In ihrem Puppenwinkel saß Suse zwischen den sie mit erstaunten Glasaugen anschauenden Puppenkindern. »Ja, wundert euch nur, Kinder, wir ziehen um. Den Puppenkoffer packe ich mit Elschens Sachen, und das Reisekörbchen kann die Lilli haben. Wo aber tue ich Lottis Sachen hin?« überlegte sie. »Was meinst du, Herbert, ob es Puppenmöbelwagen gibt?«
»Glaub' ich nicht«, meinte Herbert, der dem vierfüßigen Bubi, der nach ihm, dem zweifüßigen Bubi, seinen Namen erhalten hatte, gerade um seine Meinung befragte, was er wohl zu der großen Neuigkeit sagte. Bubi wedelte mit dem Schwänzchen und ließ ein kurzes Bellen hören. »Er freut sich«, übersetzte sein kleiner Herr dasselbe.
»Und meine Kinder freuen sich auch. Sieh bloß mal, wie die Lotti lacht«, rief Suse.
»Weil sie die Schramme vom Mund bis zum Ohr hat«, entschied Herbert. Der Bruder blickte ziemlich von oben herab auf Suses Puppenwinkel. Er fand, dass man mit neun Jahren entschieden schon zu alt sei, um mit den »dummen, leblosen Dingern« zu spielen. So respektlos pflegte er Suses Puppen zu bezeichnen. Das war aber auch das einzige, worin die Zwillinge nicht eins waren. Suse ließ sich durch Herberts abfällige Kritik nicht in ihren Pflichten als gutes Puppenmütterchen stören. Besonders die Schwarzwald-Lotti, welche die Großmama aus Freiburg ihr einst geschenkt hatte, war ihr Liebling. Jetzt sah das kleine Mädchen Wäsche, Kleider und Strümpfe ihrer Kinder durch, die mit rosa Bändern versehen in der Puppenkommode lagen. Denn wenn man umzieht, muss alles in bester Ordnung sein.
»Kind, Elschen, was bist du für ein Reißteufel«, seufzte sie. »Es wird wirklich bald Zeit, dass du dir deine Strümpfe selbst stopfst.« Elschen schlug beschämt die Klappaugen nieder. Aber noch einer stand beschämt und blickte, das Schwänzchen zur Erde gesenkt, auf den zerlöcherten Puppenstrumpf. Das war Bubi, dessen scharfe Zähne noch deutlich an dem feinen, hellblauen Gewebe sichtbar waren. Elschen war zu edeldenkend, um den vierfüßigen Freund zu verklatschen.
Im allgemeinen waren die Sachen in schönster Ordnung. Denn Suse, die früher, als sie noch die kleine Mädi gewesen, ihre Puppenkinder in recht verwahrlostem Zustand hatte aufwachsen lassen, war inzwischen eine sorgsame, liebevolle Puppenmutter geworden. Die Kinder wurden regelmäßig gewaschen, gekämmt und angezogen. Suse kochte für sie in der großen Puppenküche ihre Leibgerichte: Schokoladensuppe, Rosinenbraten und Mandelspeise. Sie führte sie in dem schönen, weißen Puppenwagen im Park spazieren. Und sie sorgte als gute Puppenmutter dafür, dass die Kinder zeitig ins Bett kamen, denn das war gesund. Die Puppen waren jetzt sehr zufrieden mit ihrer kleinen Mutter.
Einen ganzen Berg Puppenwäsche hatte sie in einem niedlichen Wäschekorb aufgeschichtet. »Da gibt es noch viel Arbeit, Kinder. Das muss alles noch gewaschen und gebügelt werden.«
»Suse, lass doch die langweiligen Puppen. Komm doch mal her und hilf mir lieber. Ich mache alles schon zum Umzug zurecht.«
»Ich auch«, sagte Suse nicht weniger wichtig. Ließ aber als gute Schwester ihr Puppenzeug im Stich, um Herbert zu helfen.
Ja, was hatte denn der Junge inzwischen alles angestellt? Die Bücherschwinge über seinem Arbeitspult, in der die Märchen- und Geschichtenbücher der Kinder ihren Platz hatten, war bereits geleert. Die Bücher lagen teils auf dem Fußboden verstreut, teils waren sie mit Bindfaden, den Herbert für alle Fälle immer in der Hosentasche hatte, bereits zu Paketen zusammengeschnürt. Auch sämtliche Spiele, die Anker-Baukästen, die Eisenbahn nebst Schienen und Signalstangen, waren aus den Kästen herausgerissen und türmten sich auf der Erde.
»So weit bin ich schon«, frohlockte Herbert. »Die Schulbücher müssen wir noch zurücklassen, denn die brauchen wir noch«, überlegte er. »So, jetzt hilf mir meinen Laubfrosch verpacken. Die Maikäferschachtel vom vorigen Jahr hat Löcher. Da kriegt er Luft und kann nicht ersticken.«
Jetzt zeigte sich Suse, obgleich sie zwei Stunden jünger war, als die verständigere. »Willst du den armen Frosch beinahe vier Wochen lang in dem alten Kasten lassen? Dann stirbt er sicherlich, Herbert. Oder er wird gemütskrank, wie der Papagei von Frau Lehmann unten, der spricht jetzt gar nicht mehr.«
»Frösche können nicht sprechen, also können sie auch nicht gemütskrank werden«, behauptete Herbert. »Aber ich kann ja erst unsere Schmetterlingssammlung verpacken und unser Mätzchen.«
»Wo kommt denn Mätzchen hin?« Suse sah mit etwas misstrauischen Blicken von dem Kanarienvögelchen, das, Unheil ahnend, im Bauer umherflatterte, auf den geschäftigen Bruder.
»Vielleicht in deinen Puppenwagen, Suse. Da liegt er weich und warm.«
»Nee, ach nee, da haben meine Puppen Angst, wenn er da drin rumflattert. Und überhaupt, da kann er doch wegfliegen«, gab die Schwester zu bedenken.
»Im Möbelwagen? Der ist doch geschlossen«, lachte Herbert sie aus.
»Aber wenn er aufgemacht wird. Lass ihn doch lieber in seinem Bauer.«
Aber Herbert schüttelte den Kopf. »Dann weiß Mätzchen ja überhaupt nicht, dass er umzieht. Aber halt – ich hab's. Ich schlinge ihm eine Leine ans Bein und binde ihn damit am Kutscherbock vom Möbelwagen fest. Da hat er schöne frische Luft und kann gleich ziehen helfen.«
»Das kleine Vögelchen den großen, schweren Möbelwagen? Das tut ihm weh, Herbert.« Suse liebte Blumen und Vögel besonders.
»Na, dann können wir ihn ja auch vor deinen Puppenwagen spannen. Der ist nicht so schwer.« Mit dieser Lösung war auch Suse einverstanden.
»Und wo kommt Bubi hin?« erkundigte sie sich.
»Der hat sich bereits seinen Platz gesucht, sieh mal«, lachte Herbert und wies auf das Hündchen, das es sich in Suses Puppenwaschkorb bequem gemacht hatte.
»Meine schöne Puppenwäsche – willst du wohl raus, Bubi!« Eine wilde Jagd tobte durch die Kinderstube.