Terje Tvedt · Wasser

Terje Tvedt

Wasser

Eine Reise in die Zukunft

Aus dem Norwegischen von
Andreas Brunstermann

Diese Übersetzung wird veröffentlicht mit finanzieller Unterstützung von NORLA (Norwegian Literature Abroad), Oslo.

Titel des norwegischen Originals: EN REISE I VANNETS FREMTID

© Kagge Forlag AS, Oslo 2007
Die deutsche Ausgabe wird veröffentlicht mit
freundlicher Genehmigung von Hagen Agency, Oslo.

Die Übersetzung basiert auf dem vom Autor 2009 durchgesehenen und aktualisierten norwegischen Text. Für die deutsche Ausgabe 2013 wurde der Epilog aktualisiert.

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über www.dnb.de abrufbar.

1. Auflage, Dezember 2013 (entspricht der 1. Druck-Auflage von September 2013)
© der deutschen Ausgabe: Christoph Links Verlag GmbH
Schönhauser Allee 36, 10435 Berlin, Tel.: (030) 44 02 32-0
www.christoph-links-verlag.de; mail@christoph-links-verlag.de
Umschlaggestaltung unter Verwendung eines Fotos von Wim Westfield
(Vorderseite) und eines Fotos vom Elbe-Hochwasser 2013 in Meißen
von Claudia Hübschmann / Sächsische Zeitung (Rückseite)
Satz: typegerecht, Berlin
Druck und Bindung: Druckerei F. Pustet, Regensburg

ISBN 978-3-86284-258-2

Inhalt

Prolog: Eine Reise in die Welt des Wassers

Die neue Wasserunsicherheit

Zu den Flüssen des Himmels und an den Mittelpunkt der Erde

Auf Pumpentour in den Niederlanden

Die Eiswüste als Hotspot der Welt

Von der Acqua Vergine in die Stadt, die nicht untergehen will

Das aztekische »Land am Wasser« und die unterirdische Wasserwelt der Maya

Das Zeitalter der Wasserfürsten

Sun City und Südafrikas kurzer »Wasserkrieg« mit Lesotho

Wüste, Wasserfest und Wassergericht in Spanien

Eine Reise zum Nil und in einen verletzbaren Staat stromabwärts

Am Zusammenfluss von Blauem und Weißem Nil

Dämme und Taufen in Äthiopien

Private Wasserfälle an der skandinavischen Regenküste

Der Staat, der den Monsun entmachten will

Eine Flussebene im Griff des Wassers

Himalaja und der »Krieg im Himmel«

Gift im heiligsten Fluss

Auf dem Dach der Welt

»Cooles« Wasser in Paris und heiliges Wasser in Lourdes

Ein neues Wasserzeitalter

Wasserüberfluss in der Wüste, Wasserfabriken in Florida

Ein künstliches Niltal in der Sahara

Das größte Ingenieurprojekt der Geschichte und Gedanken an Kaiser Yu

Ändert den Lauf der sibirischen Flüsse!

Das unterirdische »große Wasser« im alten Indianerland

Eine »geheimnisvolle Insel« im Zeitalter des Wassers

Epilog: Die Macht des Wassers

Anhang

Anmerkungen

Literatur

Dank

Geografisches Register

Prolog: Eine Reise in die Welt des Wassers

Eigentlich ist unsere Erde ein Planet des Wassers. Das wird ganz deutlich, wenn man sich die aus dem Weltraum aufgenommenen Bilder der Erde ansieht. Mir wurde das bereits 1968 bewusst, als ein Astronaut der Apollo 8 – des ersten Raumschiffs, das den Mond umkreiste – eine Aufnahme von unserem gesamten Himmelskörper anfertigte. Darauf ist klar zu erkennen, dass die Erde im Gegensatz zu allen anderen Planeten überwiegend aus Wasser besteht.

Wir sehen blaue Meere, die zwei Drittel der Erdoberfläche bedecken, weiße Pole und riesige Wolkenformationen. All dieses Wasser prägt die Besonderheit des Planeten und bildete über Millionen von Jahren die Grundlage für die Entstehung des Lebens. Wie sich das Wasser in der Erde, in Pflanzen und Organismen bewegte, hat die Evolution der Arten und den Charakter der Landschaften geformt. Im Laufe der letzten hunderttausend Jahre hat das Wasser auch die Geschichte der Gesellschaften entscheidend beeinflusst, bis hin zu ihren religiösen Zeremonien, kulturellen Ritualen und politischen Verhältnissen. Dennoch hat sich die soziale Bedeutung des Wassers nur in erstaunlich geringem Maße im gesellschaftlichen Bewusstsein niedergeschlagen, ja ich möchte fast von einer »Wasserblindheit« bei der bisherigen Behandlung von Geschichte sprechen.

Mich dagegen hat das Wasser immer fasziniert, und meine Studien befassen sich seit Jahrzehnten vor allem mit diesem Element. Dabei geht es mir besonders darum, wie sich das Verhältnis von Wasser und Gesellschaft in unserem Globalzeitalter verändert hat und sich der Mensch selbst veränderte, indem er versuchte, Herr über das Wasser zu werden. Was ich auch immer zu diesem Thema finden konnte, habe ich gelesen: 3000 Jahre alte chinesische Traktate über den Charakter des Wassers, Herodots wegweisende Berichte aus Ägypten und dem antiken Griechenland, die Schilderungen in den Texten der Weltreligionen über Gottes Erschaffung der Welt mithilfe des Wassers, unzählige trockene Ingenieurrapporte über die Kontrolle verschiedenster Wasserläufe sowie die Szenarien heutiger Klimaforscher über künftige Überschwemmungen und Dürren. In verstaubten Archiven von Khartoum bis Kansas habe ich mir die entsprechenden Dokumente angesehen. Und schließlich bin ich in über 70 Länder gereist – um die Vielfalt des Wassers zu sehen, die verschiedenen Bauten zu seiner Beherrschung kennenzulernen und die kulturellen und religiösen Mythen über das Wasser begreifen zu können. Dieses Buch ist ein Bericht über einige dieser Reisen in die faszinierende Welt des Wassers.

Das Wasser und der Kampf um seine Kontrolle und Nutzung haben alle Gesellschaften geformt – angefangen bei der Entstehung der ersten Zivilisationen im Mittleren Osten und in Asien vor 5000 Jahren bis hin zu den modernen städtischen Gesellschaften. Deshalb will ich meine Reiseeindrücke auch in eine historische Entwicklungslinie einordnen.1 Das betrifft sowohl die unterschiedlichen Arten des Wassermanagements und der dazugehörigen Bauten – Kanäle, Rohre, große und kleine Staudämme, veränderte Wasserläufe – als auch die verschiedenen Denkstrukturen, die mit dem Wasserumgang verbunden sind. Die Geschichte ist der einzige Schlüssel zur Zukunft, und die Prognosen – auch im Hinblick auf Wasser und Gesellschaft – sind abhängig von einem Wissen, das aus der Vergangenheit gespeist ist.

In diesem Buch soll daher das Scheinwerferlicht auf Flussufer, Staudämme und Springbrunnen gerichtet werden und nicht auf Reiserouten und touristische Anziehungspunkte. Es geht mir darum, das Gewohnte und Alltägliche mit neuen Augen zu sehen.

Bis Ende der 1990er Jahre haben sich nur wenige Wissenschaftler dafür interessiert, welche Rolle das Wasser bei der Ausformung der heutigen Gesellschaften spielte und wie es die Zukunft beeinflussen wird. Seitdem ist Wasser eine Art Hauptdarsteller in den gesellschaftlichen Horrorszenarien über die Zukunft geworden. Die Hurrikane in den USA, die Überschwemmungen in Europa und die Dürren in Afrika haben Wasser plötzlich ins Rampenlicht geholt – genährt von der neuen Angst vor globaler Erwärmung und Klimaveränderung. Die Diskussionen über den Klimawandel und seine Folgen drehen sich in erster Linie um mögliche Veränderungen der Wasserlandschaft, um Menge und Form des Wassers. Schmilzt das Eis an den Polen, auf Grönland und im Himalaja, in den Alpen und den Anden, und wird daher mehr Wasser ins Meer fließen? Führt dies zu einer deutlichen Erhöhung des Meeresspiegels? Sind massive Überschwemmungen in Europa, den Südstaaten der USA und in Indien nur Vorboten künftiger Extremwetterlagen? Oder wird es, wie einige Wissenschaftler behaupten, weniger Regen geben und sich ein Drittel der Erde bis zum Jahr 2100 in eine Wüste verwandeln? Werden in Zukunft Kriege um das Wasser geführt, weil der Mensch ohne Wasser nicht existieren kann? Grundlegende und tagesaktuelle Fragen über die Zukunft der Menschheit werden überall gestellt, und zum ersten Mal in der Geschichte drehen sich diese um die Rolle des Wassers und unsere Fähigkeit, es zu kontrollieren.

Wenn es darum geht, die Rolle des Wassers in der Gesellschaft und die Folgen für die soziale Entwicklung zu begreifen, ist das Reisen unumgänglich. Johann Wolfgang von Goethe sagte, dass den Geruch Chinas kennen müsse, wer das Land verstehen wolle. Mit weitaus größerem Recht ließe sich sagen, dass es zweckdienlich ist, mit eigenen Augen – und offenen Sinnen – zu betrachten, wie die Flüsse sich ihren Weg bahnen, wie der Niederschlag die Vegetation prägt und wie die Menschen versuchen, ihr Leben dem vorhandenen Wasser anzupassen und es möglichst zu kontrollieren. Reisen ist meine Methode, um die Besonderheiten des Wassers zu erfassen und um zu begreifen, dass es sich dabei sowohl um Natur als auch um Kultur handelt.

Die großen klassischen Flussreisen sind noch immer von einer märchenhaften Aura umgeben. Man denke zum Beispiel an die Flussexpedition in Joseph Conrads Erzählung »Herz der Finsternis« (1899) – eine den Kongo hinaufführende Reise, die zugleich eine Fahrt ins Zentrum des Bösen symbolisiert. Oder an Mark Twains Abenteuer von Tom Sawyer und Huckleberry Finn (1876/84), die mit ihrem Floß den Mississippi hinunterfuhren. Ganze Regale werden von Reisebeschreibungen über die großen Ströme der Welt wie den Amazonas, den Jangtse, den Ganges oder den Rhein gefüllt. Flussreisen sind noch immer äußerst faszinierend – und da die Hälfte der Menschheit an irgendeinem Flusslauf lebt, der mehr als nur ein Land durchschneidet, kann das »Sich-mit-dem-Stromtreiben-Lassen« durchaus Wichtiges über die Welt vermitteln.

Die Wasserreisen in meinem Buch hingegen haben einen anderen Ansatz. Sie folgen durchaus nicht nur einem Fluss, lassen diesen nicht Rahmen und Verlauf der Geschichte bestimmen, sondern orientieren sich an Kontrasten, die durch Reibungen zwischen der Geografie des Wassers und dem Charakter von Gesellschaften erkennbar werden. Von Las Vegas und dem Wasserlauf des Colorado bis zu den Quellen des Brahmaputra in Tibet und dem DreiSchluchten-Damm in China, von verarmten Nomadengesellschaften in Afrika und Asien zu den europäischen und amerikanischen Großstädten, von der Regenküste Skandinaviens bis zur Sahara und den Wüsten in Oman, von den die Schönheit des Wassers preisenden Fontänen bis zu den größten Staudämmen der Welt: In all seinen Formen habe ich das Wasser aufgesucht, bin durch große Flusstäler gewatet, habe mit Wasserexperten und Politikern auf der ganzen Welt gesprochen. Besessen von der Vielfalt und Schönheit des Wasser bin ich umhergereist, fasziniert von seinen charakteristischen Eigenheiten: ewig pulsierend, mehr oder weniger unaufhaltbar in eine Richtung fließend, jedoch mit scheinbarer Ehrfurcht allen Hindernissen ausweichend.

Ich beginne diese Reise so trivial wie möglich, auf einer Bank im Londoner Hyde Park. Seine Speakers’ Corner hat ihn weltberühmt gemacht, doch heute sind es vor allem die Rasenflächen, die Bäume und sein See, der Serpentine, welche die Menschen anziehen. Obwohl die Wolken regenschwer über den Baumwipfeln hängen und die Tauben leicht verfroren über den Asphalt trippeln, bin ich nicht der Einzige, der hier sitzt und gedankenverloren den Blick über das Gewässer schweifen lässt. Angelegt wurde der 11,34 Hektar große Serpentine im Jahre 1730, ursprünglich um den River Westbourne einzudämmen, einen Nebenfluss der Themse, der nun jedoch durch unterirdische Rohre verläuft und circa 300 Meter oberhalb der Chelsea Bridge in die Themse mündet. Alle im Park scheinen sich von dem Wasser angezogen zu fühlen. Ich weiß nicht, ob es an der ruhigen Oberfläche liegt, in der sich Wolken und Bäume spiegeln, oder an den sich wiederholenden, aber niemals identischen Bewegungen der Wasserstrahlen im Springbrunnen. Zu allen Zeiten und an allen Orten fühlten sich die Menschen zum Wasser hingezogen, dichteten Verse darüber oder besangen es, wiesen ihm zentrale Rollen in der religiösen Kosmologie und in kulturellen Ritualen zu. Während ich hier sitze, gibt es wahrscheinlich rund um die Erde Millionen von Menschen, die einen Brunnen, eine Quelle, einen Fluss oder einen Wasserfall bestaunen. Liegt die Ausstrahlung des Wassers darin, dass es uns wieder und wieder mit seiner Wirkung daran erinnert, wie es Land, Meere, Luft und Menschen in einem lebendigen, endlosen Kreis vereint – mehr, als jedes andere Element auf der Erde?

Das Wasser in meinem Café Latte könnte vor einem Jahr in einem klaren Gebirgsbach geflossen sein oder im nächsten Jahr – hoffentlich gut gereinigt – in einem See wieder auftauchen, es kann ein Bestandteil des Gifts in Sokrates’ Becher oder im Bad der chinesischen Kaiser gewesen sein oder demnächst von der Fontäne inmitten des Sepentine in die Luft gewirbelt werden.2 Auf ganz besondere Art verbindet es daher alle Menschen zu allen Zeiten. Das Wasser, das sich in ewiger Bewegung befindet, ist sowohl das Eigentum aller als auch das einer bestimmten Person, es ist ganz es selbst, weist zugleich über sich hinaus, als Voraussetzung allen Lebens. Diese Variationen über ein Thema, das genuin universell ist, machen meine Reisen so erforderlich.

Mit der Rolltreppe fahre ich später hinunter zu den Zügen der Victoria Station. Der Bahnhof ist voller Menschen, ein Straßenmusikant spielt Songs von Neil Young in einem Durchgang zwischen den Bahnsteigen, ein Bobby grüßt mich freundlich. Ein ganz gewöhnlicher Tag also, und ich bin sehr wahrscheinlich der Einzige, der den Kopf voller Gedanken an Wasser hat, während wir in die Tiefe hinunter und an Reklameplakaten für Theateraufführungen im West End vorbeifahren.

Zweifellos wäre die Atmosphäre wohl weniger angenehm, ja klaustrophobisch, wenn ich ausriefe: »Der Bahnhof ist in Gefahr, überschwemmt zu werden!« Die Menschen auf den Bahnsteigen würden vermutlich von ihrer Zeitung aufblicken und einen Moment nervös werden. Doch ich könnte sie sogleich wieder beruhigen: »Aber es gibt Pumpen, die das Wasser abhalten. Sie sehen sie nicht, aber sie retten Ihnen das Leben.« Wahrscheinlich würden mir die Leute einen misstrauischen Blick zuwerfen, sich wieder ihrer Zeitung zuwenden und mit den Schultern zucken – noch eines von diesen Originalen, die die Londoner Unterwelt bevölkern.

Doch in Victoria Station gibt es tatsächlich Pumpen, die Stunde um Stunde, Tag für Tag circa 35 Liter Wasser pro Sekunde abführen. Ein absolut erforderlicher Vorgang, der verhindert, dass Wasser durch die Wände dringt und den Untergrund überschwemmt. Während Menschen über die Bahnsteige hasten und sich Zugtüren öffnen, arbeiten diese Pumpen. Und ebenso, wenn der Zug die Station verlässt und in den nächsten Tunnel einfährt. Der Grund dafür ist nicht etwa, dass es heute in London mehr regnet als früher oder das Meer von Osten her in die Stadt dringt, sondern dass der Grundwasserspiegel unter London steigt. Die Brauereien und die Papierindustrie, die hier während und nach der industriellen Revolution entstanden, verließen in den 1960er Jahren den Stadtkern. Dadurch hat sich der Wasserverbrauch reduziert, und infolgedessen ist das Wasser gestiegen – unerbittlich. Tatsächlich liegt Victoria Station heute unter Wasser. Sollten die Pumpen jemals aufhören zu arbeiten, würde das Wasser auf Bahnsteige und in Züge laufen und große Teile der Londoner Untergrundbahn überschwemmen.3

Die graue und langweilige Victoria Station zeigt daher in ihrer alltäglichen Trivialität eine Wahrheit über das Wasser, die große theoretische wie praktische Konsequenzen hat: Der Mensch kann es zeitweilig kontrollieren, es in Rohre zwingen und hinter Staudämme sperren, er kann es konsumieren, doch er kann es nicht gänzlich beherrschen. Im Gegensatz zu allen anderen natürlichen Ressourcen entzieht sich Wasser letztlich immer wieder dem Zugriff des Menschen. Alle Gesellschaften sind darauf angewiesen, das Wasser zu kontrollieren. Zu jeder Zeit haben das Gesellschaften auf unterschiedliche Art und Weise getan und werden es auch weiterhin tun. Doch jede Gesellschaft muss im Laufe ihrer Geschichte feststellen, dass sich das Gleichgewicht, welches irgendwann zwischen Wasser und Gesellschaft geschaffen wurde, zu einem anderen Zeitpunkt in ein Ungleichgewicht wandelt. Der Kampf um die Beherrschung des Wassers wird somit niemals enden.

Das Grundwasser in London steigt aufgrund gesellschaftlicher Veränderungen, aber die Stadt und die Themse sind gleichzeitig ein anschauliches Beispiel dafür, wie Veränderungen in der Natur auch die Wasserlandschaft beeinflussen. Jahrhundertelang bildete die Themse die Grundlage für Londons Stellung als Zentrum des Welthandels. Die Lastensegler konnten vom offenen Meer aus weit ins Land hineinfahren. Insofern erschuf der Fluss auch ein Stück Weltgeschichte. Doch sollte der Fluss bei verändertem Meeresgeschehen schiffbar bleiben und die Stadt nicht gefährden, waren Veränderungen notwendig. Ein wenig stromabwärts von London hat man quer über den Fluss eine fantastische hydraulische Konstruktion errichtet, die ich mir viele Male angesehen habe. Die Thames Barrier wurde in den 1970er Jahren zum Schutz gegen jene physischen Eigenschaften des Flusses erbaut, die in vormodernen Zeiten einen großen strategischen und handelsbezogenen Vorteil ausmachten. Eine versenkbare, beschützende Wand aus Stahl zwischen der Stadt und dem Meer entstand. Zwischen neun schneckenförmigen Kuppeln, jede an die dreißig Meter hoch, kann innerhalb weniger Minuten die gesamte Themse abgesperrt und so das weitere Eindringen des Meerwassers in den Fluss verhindert werden. Aufgrund des steigenden Meeresspiegels und weil sich England neigt – die südlichen Landstriche der Insel sinken infolge der letzten Eiszeit jedes Jahr ein bis zwei Millimeter tiefer ins Meer – steigt die Gefahr von Überschwemmungen. In den ersten zehn Jahren seit ihrer Inbetriebnahme musste die Thames Barrier elf Mal wegen Sturmflutgefahr geschlossen werden. Im Jahrzehnt darauf, zwischen 1993 und 2003, musste sie den Fluss 79 Mal absperren. Das große Unsicherheitsmoment ist die Frage, ob die Barriere ausreichen wird, wenn der Meeresspiegel stärker ansteigt als vorausberechnet. Manche meinen, dass die Thames Barrier bereits in 20 bis 25 Jahren nicht mehr in der Lage sein wird, die Stadt zu schützen. Trifft diese Annahme zu, würde sich die Thames Barrier von einem regionalen Symbol der menschlichen Fähigkeit zur Kontrolle des Wassers in ein universelles Mahnmal verwandeln, das von der Unzulänglichkeit des Menschen zeugt, diese fließende und stets variierende Ressource vollständig zu beherrschen.

Als ich aus England abfliege und den Atlantik und den Ärmelkanal unter mir sehe, wird mir einmal mehr bewusst, wie paradox der Name unseres Planeten ist. Im Englischen wird er the earth genannt, auf Afrikaans spricht man von aarde, im Arabischen heißt es al-ard (das Land oder die Erde), auf Hebräisch ertz, im Deutschen Erde und in den skandinavischen Sprachen jord. Das Wort Earth entwickelte sich aus dem altenglischen eorðe, was Grund, Boden, trockenes Land bedeutet. Die Erde erhielt also ihren Namen, indem sie als Widerpart des nassen Elementes definiert wurde – ein natürlicher Vorgang, denn als der Planet vor vielen hundert Jahren seinen Namen erhielt, war das menschliche Verständnis von der Erde noch äußerst begrenzt, hatte sie niemand aus der Luft betrachtet und war sie keineswegs komplett erkundet. Heute ist uns klar, dass die Einseitigkeit des Namens unseren Blick auf die große Besonderheit unseres Planeten – das ewige und veränderliche Verhältnis zwischen Erde und Wasser, Gesellschaft und Wasser, Mensch und Wasser – lange Zeit verstellt hat.

Das Buch besteht aus drei Kapiteln. Das erste handelt vom neuen Zeitalter der Unsicherheit – einer Unsicherheit sowohl in Bezug auf die weitere Entwicklung des Klimas, als auch auf die künftigen Wasserkreisläufe. Das zweite beschäftigt sich mit dem Kampf um die Herrschaft über das Wasser. Unsere Existenz in einem Zeitalter der Wasserunsicherheit wird dazu führen, dass sich die Auseinandersetzung um die Herrschaft über das Wasser zu einer zentralen Frage der Zukunft entwickeln wird. Da alle Menschen Wasser benötigen, resultiert daraus ein Machtkampf, dem sich niemand wird entziehen können. Das dritte Kapitel beschreibt, wie große Teile der Erde in den nächsten Jahren radikal von Wasserprojekten verändert werden, die umfassender und folgenreicher sind als jedes andere Projekt in der Geschichte der Menschheit. Hier geht es um Chancen und Risiken zugleich. Im aktualisierten Epilog gehe ich kurz auf die jüngsten Überschwemmungen in Mitteleuropa ein und greife die daraus resultierenden Anforderungen für die Zukunft auf.

Die neue Wasserunsicherheit

Die Art und Weise, wie die Menschen heute überall auf der Welt vom »Wetter« reden, hat sich radikal verändert. Als ich Mitte der 1990er Jahre für eine Forschungsarbeit und eine Fernsehserie über die historische Rolle des Wassers umherreiste, redete so gut wie niemand über globale Erwärmung. Mittlerweile deuten die Menschen überall ungewöhnliche Wetterlagen als Ausdruck drohender Klimaveränderungen. Zwischen afrikanischen Lehmhütten in Lesotho, fast 3000 Meter über dem Meeresspiegel, begegne ich einer alten Frau, die über das schlechte Wetter der letzten Zeit redet und dieses mit »globaler Erwärmung« erklärt. An der Rezeption eines Strandhotels im mexikanischen Cancún beklagt sich ein Elvis-Imitator darüber, dass das Wetter heute aufgrund von zu viel Kohlendioxid in der Atmosphäre anders sei als früher. Und am Ufer des völlig zugrundegerichteten Bagmati-Flusses in Nepal steht ein alter Ingenieur, der sich entschieden hat, die letzten Jahre seines Lebens damit zu verbringen, den heiligsten Strom des Landes vor weiterer Verunreinigung und somit dem Sterben zu retten. Mit großen, traurigen Augen steht er da und verkündet: Der bescheidene Wasserstand des Flusses in diesem Jahr ist der globalen Erwärmung geschuldet. Überall, wohin ich komme, werden die unzähligen Meinungsumfragen bestätigt: Die neue Unsicherheit über künftige Niederschläge, Dürren, den Zustand der Gletscher und des Meeresspiegels hat sich in das kollektive Bewusstsein unserer globalisierten Welt eingebrannt.

Innerhalb weniger Jahre ist die klimawissenschaftliche Sprache in den Alltag der Menschen eingezogen und werden überall Spekulationen über die Zukunft der Erde angestellt. Kaum je zuvor in der Geschichte haben so viele Menschen ihre Ansichten über derart fundamentale Fragen wie das Klima in so kurzer Zeit geändert. Am meisten diskutiert wird die Frage, wie sich der Wasserfluss in Zukunft gestalten wird4. Mit Fug und Recht kann man sagen, dass die Menschheit in das Zeitalter der Wasserunsicherheit eingetreten ist.

Dieses Zeitalter wird von der Unsicherheit und dem Kampf um die Gestaltung der künftigen Wasserlandschaft geprägt sein. Stehen wir am Beginn eines Jahrhunderts der Dürren? Wird sich ein Drittel des Planeten in hundert Jahren in eine Wüste verwandelt haben? Oder leben wir in einem Jahrhundert der Überschwemmungen und der Eisschmelze? Wird der Spiegel der Weltmeere um mehrere Meter ansteigen? Und wenn ja, wann wird dies geschehen? Die Unberechenbarkeit des Wassers ist zu einem zentralen Thema der Menschheit geworden.

Zwischen meinen Reisen lese ich immer wieder die alten Flut- und Überschwemmungsmythen: das Gilgamesch-Epos über das Land zwischen Euphrat und Tigris, die Geschichte von Noahs Arche in der Bibel, den durch eine Flut verursachten Weltuntergang in buddhistischen Schilderungen und zahlreiche weitere Varianten in beinahe allen Religionen der Welt.5 Auch mit künstlerischen Darstellungen habe ich mich beschäftigt, und hier nicht nur mit den bekannten Zeichnungen und Gemälden Leonardo da Vincis oder Michelangelos über die Sintflut. Mein Favorit ist Gustave Dorés 1865 entstandene Grafik »Die Sintflut – das Steigen der Gewässer«, ein widersprüchliches, von existenzieller Düsternis geprägtes Bild, das jedoch gleichzeitig verdeutlicht, wie die Katastrophe das Beste im Menschen hervorbringt. Die ungefähr siebzig abgebildeten Personen versuchen verzweifelt, sich vor der ansteigenden Flut zu retten. Ein Mann bemüht sich, seine Frau und sein Kind über Wasser zu halten. Direkt über ihm versucht ein Elternpaar, seine Kinder auf sicheren Grund zu bringen. Im Zentrum des Bildes sieht man die Arme einer Mutter oder eines Vaters bei dem Versuch, im Ertrinken das Kind noch für einen Moment am Leben zu halten. Die Schuldigen opfern sich, um die Unschuldigen zu retten. Diese Endzeitschilderungen sind erschütternd, erscheinen jedoch überholt, weil ihnen fehlt, worauf sich heutige Prophezeiungen stützen: die moderne Wissenschaft.

Im Dogonland in Mali, am Rande der Sahara, haben sich die Menschen über Generationen hinweg einem Leben mit wenig Wasser und stark variierenden Niederschlägen angepasst. Das Stabile am Kreislauf des Wassers ist hier das Instabile, das Normale ist die Gewissheit des Unnormalen: dass die Katastrophe kommen und die Gesellschaft treffen wird. Ein jährlich wiederkehrendes Phänomen ist das Entstehen und Verschwinden von Seen – was ein natürliches Barometer für das Klima darstellt.

Einmal pro Jahr ist der Antogo-See Schauplatz eines ganz besonderen Ereignisses: Von weither reisen die Menschen an, um an einem traditionellen Fischfang teilzunehmen. Die Ortsansässigen glauben, dass die Fische aus dem Nachbargebirge kommen. Wenn der jährliche Regen fällt, steigt das Wasser und bildet den See. Die Fische werden aus den verborgenen unterirdischen Reservoirs in den Bergen herausgepült und landen im Antogo-See. Am großen Tag versammeln sich Tausende um das kleine Gewässer. Schweigend sitzen sie auf den niedrigen Hügeln, die den See umgeben. Alle warten auf das Signal, das gegeben wird, wenn der Wasserstand optimal ist und die Fische mit den Händen gefangen werden können. Zu Tausenden stürzen die Menschen ins Wasser und stehen dicht an dicht. Im Laufe weniger Minuten ist kein einziger Fisch mehr im See. Die Menschen klettern ans Ufer zurück, und mitunter ist nach einer Stunde auch der See wieder verschwunden.

Aus klimahistorischer Perspektive kann dieser kurze Fischfang die Machtlosigkeit des Menschen gegenüber dem Kreislauf des Wassers symbolisieren. Mögen auch die klimatischen Bedingungen der letzten zehntausend Jahre einen einzigartigen paradiesischen Zustand darstellen, dessen Fortbestehen überaus zweifelhaft ist, befindet sich die Menschheit insgesamt doch in derselben Situation wie die Fischer am Antogo-See, wenn der ideale Wasserstand erreicht ist. Dieser festliche Fischfang ist ein Fruchtbarkeitsritual, das ein weiteres Paradox der Geschichte zusammenfasst: die Abhängigkeit der Gesellschaft von der Macht des Wassers und der Natur. Auch wenn der See zeitweilig verschwindet, ist die Existenz der dortigen Gesellschaft nicht gefährdet. Die Menschen können schlicht etwas anderes tun oder mit ihren wenigen Habseligkeiten an einen anderen Ort ziehen. Die moderne Gesellschaft mit ihren Millionenstädten hat diese Möglichkeit hingegen nicht.

Zu den Flüssen des Himmels und an den Mittelpunkt der Erde

»Ganz sicher«, sagt er, ohne zu zögern und mit festem, etwas düsterem Blick. Es sei unzweifelhaft, dass viele der Gletscher in Tibet schmelzen werden. Ich sitze mit Yao Tandong zusammen, einem der führenden Glaziologen Chinas. Wir befinden uns in seinem Büro in Peking, etwas außerhalb des Stadtzentrums. Seine Freundlichkeit und seine angenehme Ausstrahlung verstärken nur die Dramatik seiner Forschungsergebnisse. Er weiß sicherlich – so denke ich, während ich einige seiner Berichte ansehe –, dass seine Analysen die Zukunft von drei Milliarden Menschen beeinflussen.

Ein halbes Jahr später reise ich nach Tibet – und zwar so, wie man dorthin fahren sollte, wenn man an der strategischen Bedeutung des Landes für die Zukunft der Welt interessiert ist: nicht mit dem Flugzeug, das die topografischen Proportionen verrückt und mit dem man sich am Ende zu einem Hochgebirgsplateau hinunterbegibt, sondern mit dem modernen Zug, der Meter für Meter hinaufsteigt, von Peking bis auf 5000 Meter Höhe. 2006 ist die Bahnstrecke fertiggestellt worden.

Am ersten Tag fahren wir durch die Landschaft des Gelben Flusses, Wiege und zugleich großer Sorgenquell der chinesischen Zivilisation. Der Fluss ähnelt keinem anderen, denn er ist durch und durch braun und enthält an einigen Stellen sieben Teile Schlamm und nur drei Teile Wasser. Ich blicke auf den Strom, der über tausende von Jahren an der Erschaffung der chinesischen Zivilisation beteiligt war, der aber auch gewaltig und grausam ist und mehr Menschen in den Tod gerissen hat als alles andere in der Weltgeschichte. Allein 1887 nahm der Fluss zwischen 900 000 und zwei Millionen Menschen das Leben, im Jahr 1931 zwischen einer und 3,7 Millionen. Doch Chinas Geschichte hat sich stets um diesen Fluss gerankt, der die Grundlage für die Geburt des chinesischen Kaiserreiches Xian bildete und an dem man vor einigen Jahren ein Grab mit Tausenden von Terrakottakriegern fand, die alle mit individuellen Zügen geformt sind. Der Fluss windet sich um unzählige Hügelspitzen, die von fein säuberlich aufgebauten Terrassen gesäumt sind – Zeugnisse des tausendjährigen Kampfes der Chinesen gegen die Natur des Wassers. Sie sollen die fruchtbare Erde festhalten, damit nicht noch mehr davon in den Fluss gewaschen wird, was die Überschwemmungsgefahr auf den Ebenen am Chinesischen Meer erhöhen würde.

Am zweiten Tag erreicht der Zug das Hochgebirgsplateau. Hier wird deutlich: Ich bin am Wasserturm Asiens angelangt. Stundenlang sitze ich im Zugrestaurant, verzaubert von einer Landschaft, die keiner anderen ähnelt – sanfte, baumlose Hügelkämme, an denen das Wasser herunterfließt, so dass es beinahe den ganzen Horizont einnimmt; als kämen uns Flüsse direkt aus dem Himmel entgegengeströmt. In der Ferne erkenne ich Teile des mächtigen Kunlun-Gebirges, das die physische Trennlinie zwischen dem Gelben Fluss und dem Jangtse, zwischen dem südlichen und dem nördlichen China darstellt. In der chinesischen Mythologie ist dieser Ort das taoistische Paradies, denn hier soll König Mu der Sage nach den Jadepalast des Huangdi entdeckt haben, des mythischen Gelben Kaisers und Erschaffers der chinesischen Kultur. Wir passieren den Bahnhof Tanggula mit seinem Stationsgebäude, das sich in Konkurrenz zu den fernen Bergen in die Höhe streckt. Es ist die höchstliegende Eisenbahnstation der Welt, 5072 Meter über dem Meer.

»Sie sitzen hier den ganzen Tag?«, fragt mich der Chef des Zugrestaurants etwas ungeduldig. Er will schließlich Umsatz machen. »Ja, den ganzen Tag«, erwidere ich und bestelle noch ein Nudelgericht, um meinen Platz am großen Panoramafenster behalten zu können. Auf der Karte, die ich zwischen Reisbällchen und Essstäbchen auf dem Restauranttisch ausgebreitet habe, versuche ich, die Flüsse zu identifizieren, und folge ihren Wegen, die sich als blaue Streifen auf der Landkarte über den asiatischen Kontinent ziehen. Die Namen sind verwirrend, denn wie die meisten langen Flüsse hat der Jangtse verschiedene Bezeichnungen: Hier heißt er Tuotuo und Tongtian, was so viel bedeutet wie »Fluss, der den Himmel trifft«, während er im Tibetischen Drichu genannt wird, was mit »Fluss des weiblichen Yaks« übersetzt werden kann.

»Wie kulturell verbohrt und theoretisch begrenzt sind doch die intellektuellen Vorstellungen, wonach die gesellschaftliche Entwicklung unabhängig von der Macht der Geografie verlaufen könnte.« Ich hätte nicht übel Lust, dies durch das ganze Wagenabteil zu rufen, aber hier sitzen nur ein paar Chinesen, die in ihren Zigarettenrauch eingehüllt sind und kein Englisch verstehen.

Die tibetische Hochebene ist die Quelle der zivilisationsstiftenden großen Flusssysteme: Jangtse und Gelber Fluss. Aber auch Indus, Ganges, Brahmaputra, Saluen und Mekong entspringen hier – Flüsse also, die im Laufe von tausenden Jahren die Geschichte Asiens bestimmt haben und deren wirtschaftliche, kulturelle und politische Bedeutung in China, Indien, Pakistan, Vietnam, Kambodscha, Laos, Thailand, Nepal, Bangladesch, Burma und Bhutan noch zunehmen wird – ganz unabhängig von den Entwicklungen des Klimas.

Diese Region ist der Schlüssel für die Zukunft großer Teile Asiens. Tibet wird unweigerlich zu einem der wichtigsten strategischen Gebiete werden. Diese Landschaft mit ihrer klaren Luft, ihren blauen Bergen und eisbedeckten Gipfeln, mit ihren kalten, hellgrün leuchtenden Seen und ihrem Wasser, das in unendlich vielen kleinen und großen Nebenflüssen dem Meer entgegenstrebt, erhält eine verhängnisvolle Bedeutung. Vor 40 bis 50 Millionen Jahren kollidierte der indische Subkontinent mit dem Rest der asiatischen Landmasse. Die Gipfelspitzen erhoben sich in den Himmel und schufen eine Landschaft, die im vergangenen Jahrhundert nicht nur durch exotische Reiseberichte, sondern auch durch die Abenteuer Donald Ducks und seiner drei Neffen in der Begegnung mit dem »abscheulichen Schneemenschen« populär wurde. Sie ist zum weltbekannten Symbol für »Schnee und ewiges Eis« geworden. Dieses Eis ist die Wasserbank Asiens – 15 000 Gletscher, deren Gesamtfläche im Himalaja ungefähr 30 000 Quadratkilometer ausmacht. Die Frage, die sich inzwischen die gesamte Menschheit stellt, lautet: Schmelzen die Gletscher, und wenn ja, wie schnell?

Während die Sonne über den Himmel zieht, blättere ich in meinen Aufzeichnungen des Gesprächs, das ich im Jahr zuvor mit Yao geführt habe, und in den von ihm verfassten Artikeln und Interviews.6 In jedem Jahr vermindern sich demnach die Gletscher um so viel Wasser, wie der Gelbe Fluss führt. Viele Gletscher werden bereits im Jahr 2035 verschwunden sein, der Rest bis zum Jahr 2100. Die Temperatur ist seit 1950 um ein Grad gestiegen.

Es heißt, dass nur Historiker mächtiger als Gott seien, weil sie die Vergangenheit verändern können. Doch die Prognosen Yaos und seiner Forscherkollegen können auch die Zukunft entscheidend beeinflussen, denn sie wirken darauf ein, was die globale Gesellschaft mit ihren Milliarden von Menschen tun wird, um diese vorausgesagte Zukunft zu bewältigen. Was die Forscher herausfinden und wie sie ihre Daten interpretieren und welche Szenarien sie entwerfen, kann dramatische und unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen – unabhängig davon, ob sie recht haben oder nicht. Wenn Yao behauptet, dass 64 Prozent der chinesischen Gletscher schon 2050 Geschichte sind, sofern die derzeitigen Trends anhalten, dann warnt er vor einer Umweltkatastrophe von unbegreiflichen Ausmaßen, die nicht mehr verhindert werden kann wenn die durch vermehrten Kohlendioxidausstoß hervorgerufene globale Erwärmung so anhält. Die Gletscher im Himalaja könnten schon verschwunden sein, bevor die derzeitige Temperaturerhöhung verringert oder gestoppt ist.

Wenn Yao und seine Kollegen sowie all die anderen recht behalten, die noch eindringlicher behaupten, dass die Gletscher im Himalaja schmelzen werden, dann wird die Zukunft Asiens chaotisch. Denn schwinden die Gletscher, so werden die großen Flüsse ihren Charakter vollständig verändern. Zunächst wird es eine Periode mit Überschwemmungen geben. Bangladesch wird noch häufiger als schon jetzt unter Wasser stehen. Pakistan wird mit einer massiven Katastrophe konfrontiert werden, da das meiste Wasser des Indus aus den Gletschern kommt. Aus dem Himalaja, beziehungsweise aus Tibet, kommt auch der Mekong, der Teile Chinas und Vietnams sowie Kambodscha, Laos und Gebiete Thailands mit Wasser versorgt. Was wird flussabwärts geschehen, beispielsweise mit dem Tonle Sap, dem schönen See nahe des Tempels von Angkor Wat in Kambodscha, über den ich vor einigen Jahren im Morgengrauen segelte und über dessen fischreichem Wasser die Fischer in Pfahlbauten wohnen? Große Teile Indiens werden zunächst mit Hochwasser und danach mit Dürren zu kämpfen haben, weil 37 der großen Flüsse des Landes aus dem Himalaja kommen und 45 Prozent des Wassers im Ganges aus den dortigen Gletschern stammen.7 Man hat errechnet, dass der Ganges von Juli bis September zwei Drittel weniger Wasser führen wird, wenn die Gletscher verschwinden. Dies würde für eine halbe Milliarde Menschen zu extremer Wasserknappheit führen und über ein Drittel der Gebiete Indiens, die künstlich bewässert werden, in Mitleidenschaft ziehen. Auch in China wird es heftige Konsequenzen geben: Wenn Jangtse, Brahmaputra und Mekong weniger Wasser führen, werden das ökonomische Wachstum und die politische Stabilität des Landes gefährdet. Erhalten sie jedoch wesentlich mehr Wasser, so ist fraglich, ob die riesigen Staudämme, die die Chinesen im Jangtse und im Gelben Fluss errichtet haben und weiterhin erbauen, die dann auftretenden Hochwasser bewältigen können; Prognosen gehen davon aus, dass sich der normale Wasserabfluss in der Schmelzperiode radikal erhöhen wird. Sind die Gletscher geschmolzen, werden die Flüsse nur noch ein Schatten ihrer selbst sein. Chinas Wassertransferprojekte werden möglicherweise als tragische Überreste eines naiven Klimaoptimismus gelten. Für die 23 Prozent der Bevölkerung, die im westlichen China in Oasen leben, ist dies höchst alarmierend. Viele der zentralasiatischen Staaten auf der Nordseite des Himalaja, die einst zur Sowjetunion gehörten und die jetzt bereits den Wassermangel als wichtigstes Entwicklungsproblem ihrer jungen Staaten erleben, stehen ebenfalls vor völlig neuen Herausforderungen, weil viele der dortigen großen Flüsse im Himalaja entspringen.

Die Rolle, die die Forscher als Interpreten künftiger Wasserverhältnisse zugewiesen bekommen, wird dazu führen, dass sie ständig mehr Macht gewinnen, aber auch mehr Verantwortung übernehmen müssen. Im Gegensatz zu Wahrsagerinnen oder den vierzeiligen Prophezeiungen des französischen Arztes und Astrologen Nostradamus aus dem 16. Jahrhundert sind die Analysen der Wissenschaftler mit der Legitimität der modernen Wissenschaft ausgestattet. Unabhängig davon, welche Daten sie erheben und wie sie diese deuten, werden sie aufgrund dieser neuen Unsicherheit eine ungekannte Macht über die Zukunft erlangen, da niemand mit Sicherheit sagen kann, was geschehen wird, und niemand lange genug lebt, um zu erfahren, ob sich ein bestimmtes Szenario als richtig oder falsch erweist.

Darüber hinaus nähren auch neue Forschungsergebnisse über die Vergangenheit des Klimas die Unsicherheit über die künftigen Wasserverhältnisse. Vor einiger Zeit wurde bekannt, dass sich vor gut eintausend Jahren im Himalaja quer über dem Brahmaputra massive Eisdämme bildeten. Zwischen den Jahren 600 und 900 durchbrach das Wasser diese Eiswände, was zu einer der größten Flutkatastrophen nach der letzten Eiszeit führte – in Indien. Vorhersagen über die Zukunft werden in immer größerem Maße in den Interpretationen der Vorgeschichte verankert sein.

Am späten Abend kommen wir in Lhasa an. Nach einem kurzen Ausflug in die Altstadt – ein Muss für alle Lhasa-Touristen – sitze ich an einer Straßenecke und beobachte die gläubigen Buddhisten beim Drehen ihrer Gebetsmühlen, während sie ihre traditionellen Runden durch die Stadt absolvieren, die sich im Laufe eines Jahrzehnts in ein verkehrsreiches, lärmendes Chaos verwandelt hat. Am nächsten Morgen folge ich dem Brahmaputra mit dem Wagen flussaufwärts bis zum Gebirgspass Kamba La, fast 5000 Meter über dem Meer. Einer der größten Gletscher in diesem Teil Tibets erstreckt sich hier, überzogen von Schmutz, bis fast zur Straße herunter. Dort, wo er endet, sind ein paar verblasste Gebetsfahnen aufgestellt. Ich klettere auf den Gletscher, um das Eis anzufassen, denn sollten die Voraussagen über die Zukunft dieses und anderer Gletscher im Himalaja und in Tibet zutreffen, dann berühre ich hier eine Art Versicherungspolice für eine Zivilisation, die schon bald Geschichte sein wird.

Was dieser Reise durch die tibetische Landschaft allerdings die größte Bedeutung verleiht und alle anderen Eindrücke überragt, ist der Augenblick, in dem ich hier ganz allein herumlaufe, umgeben von sechstausend Meter hohen Bergen in einer brennend heißen Hochgebirgswüste an den Ufern des Brahmaputra, der Lebensader Asiens. Wie viele andere bin ich fasziniert von den religiösen und philosophischen Traditionen Tibets, habe im »Tibetischen Totenbuch« aus dem 8. Jahrhundert gelesen, das wörtlich übersetzt »Emanzipation durch das Wissen vom Leben nach dem Tod« heißt und habe mich mit der Symbolik der Tsa-Tsa-Statuen beschäftigt, die aus heiligem Lehm geformt sind und in den Straßen Lhasas mitunter noch angeboten werden. Wie jedem Historiker, der sich mit der Region beschäftigt, ist mir klar, dass die Tibeter bereits um das Jahr 600 ein phonetisches Alphabet entwickelt und im 10. Jahrhundert einen feudalistisch-theokratischen Staat aufgebaut hatten, mit Priestern – oder Lamas – als Herrschern über ein Heer von Sklaven, die für sie das Land kultivierten. Die verfallenen buddhistischen Klöster, die sich an Tibets Berge klammern, die zitternden Mönche mit ihren dünnen, typisch dunkelroten Roben, die sie eng um den Körper schlingen, der nach innen gewandte Blick der Gläubigen, die sich inmitten des Verkehrs und der chinesischen Touristen unzählige Male in den Staub werfen, wieder aufstehen und erneut zu Boden fallen, um sich auf dem Bauch kriechend und mit nach unten gewandtem Gesicht weiterzubewegen, die Himmelbegräbnisse, bei denen die Toten, deren Seele den Körper bereits verlassen hat, in Stücke gehackt auf die Felsspitzen gelegt werden, damit die Geier das Fleisch von den Knochen nagen können – all das interessiert mich momentan nur am Rande. Denn ich bin etwas viel Wichtigerem auf der Spur.

Meine »tibetische Reise« wird genau hier, an der Grenze zwischen Asiens lebensspendenden Quellen und der Hochgebirgswüste, zu einem konkreten Erlebnis. Jede bedeutsame Reise in unserer Zeit – 750 Jahre nach Marco Polo und 50 Jahre nach »Das dritte Auge« (ein Buch, das offiziell von Tuesday Lobsang Rampa verfasst war, als authentische Erzählung über den tibetischen Mystizismus vermarktet und millionenfach verkauft wurde, bevor man herausfand, dass es von Cyril Henry Hoskin, einem Klempnersohn aus Devon, geschrieben worden war, der Tibet niemals betreten hatte) – muss mit dem Versuch verbunden sein, sich von dem mit exotischer Mystik behafteten Blick der traditionellen Reiseliteratur zu befreien. Bevor ich also nach Tibet fuhr, las ich keinen einzigen Reisebericht. Einzige Ausnahme waren Sven Hedins Bücher über seine drei Reisen nach Tibet und Zentralasien zwischen 1893 und 1909, auf denen er mehrere hunderttausend Quadratmeter Land vermaß, indem er die Schritte des Kamels zählte, auf dem er ritt.8 Ich konzentrierte mich vielmehr auf Bücher und Berichte über Hydrologie, Topografie und Glaziologie.

Während ich auf den schönen, an die Sahara erinnernden Sanddünen umherwandere, den wegen der dünnen Luft ganz nahe wirkenden Brahmaputra entdecke – oder Yarlung Tsangpo, wie er auf Chinesisch heißt – und dunkelblaue, mit Eis überzogene Felswände erblicke, komme ich der Wahrheit über das Schicksal Tibets so nahe wie nur eben möglich. Die Region verfügt über tausende Quadratkilometer Sandwüste sowie riesige Gebiete, die von Versteppung bedroht sind, und ist doch zugleich der Wasserturm für die Hälfte der Menschheit auf diesem Planeten.9 Der Himalaja und die Gebirge, die Sir Edmund Hillary und andere im 20. Jahrhundert unter Lebensgefahr bestiegen haben, fungieren heute als Barriere gegen den hiesigen Niederschlag: Sie beschützen Tibet vor dem Monsun, verwandeln aber gleichzeitig große Teile der Region in eine Wüste. In Zentraltibet regnet es nur 25 bis 50 Millimeter pro Jahr (die globale Definition des Wüstenklimas liegt bei Werten unter 200 Millimetern pro Jahr).

Der Manasarovar-See, der mit fast 4600 Metern über dem Meer am höchsten gelegene See der Welt, den man von Lhasa aus nach ein paar Tagesreisen mit dem Auto über das Hochgebirgsplateau erreicht, ist im klassischen Buddhismus die Mutter aller Flüsse und sowohl für Buddhisten als auch für Hindus heilig. Im mythologischen Universum der Pilger kann er von den Sünden befreien und Glück verheißen, wenn man ihn umrundet und an vier heiligen Plätzen in ihm badet. Ganz in der Nähe liegt das Kailash-Gebirge, das die Tibeter als Gang Rinpoche kennen und das für die Hindus den Ort repräsentiert, an dem der Gott Shiva wohnt. Während das Gebirge im Hinduismus und im klassischen tibetischen Buddhismus einen wesentlichen mythologischen Ort darstellt, ist es im Zusammenhang mit Wasserpolitik eines der wichtigsten geopolitischen Zentren der Zukunft. In dieser Region entspringen vier Flüsse und fließen auf die trockenen Ebenen zu, in denen eine Milliarde Menschen leben: der Karnali in Richtung Süden auf den Ganges zu, der Indus nach Norden, der Satluj, der in westliche Richtung fließt und in den Indus mündet sowie der Brahmaputra gen Osten. Der Manasarovar-See und das Kailash-Gebirge, in der Reiseliteratur häufig von Mystizismus gefärbt, symbolisieren für mich Tibets immer wichtiger werdende Rolle als regionaler Wasserturm und globales Klimathermometer. Ein ganzer Kontinent wird ängstliche Blicke auf dieses Gebirge werfen, dem die Tibeter vor Hunderten von Jahren den Namen »das kostbare Juwel im Schnee« gaben.

Zurück in Lhasa, sitze ich im Park gleich unterhalb des Potala-Palastes, der von König Songtsen Gampo im 7. Jahrhundert angelegt, durch Krieg und Blitzschlag zerstört und dann vom fünften Dalai Lama im Jahre 1645 wieder aufgebaut wurde und seitdem das politische Zentrum Tibets ist. Ich bin umgeben von einer Atmosphäre aus Religiosität und Frommheit, die von den Tibetern durch tiefe, konzentrierte Gebete vor dem Palast hervorgerufen wird, und hänge dem deplatzierten ketzerischen Gedanken nach, dass die Zukunft dieser Region von so etwas Prosaischem wie der Entwicklung des Eises auf dem Dach der Welt bestimmt werden wird.

Auf Pumpentour in den Niederlanden

Jedes Mal, wenn ich über die Niederlande fliege, beuge ich mich zum Fenster und versuche eines jener Gebilde zu entdecken, die dieses Land so einzigartig machen: den 63 Kilometer langen Entwässerungskanal, der vor über einhundert Jahren von Hand gegraben wurde und heute den Flughafen einkreist. Um das Jahr 1850 ließen sich die Niederländer die zu jener Zeit weltgrößte Dampfmaschine aus England kommen, um viele hundert Millionen Kubikmeter Wasser aus dem sogenannten Haarlemermeer abzupumpen. Dort entstand dann jenes Land, auf dem sich heute der Flughafen befindet. Die Kanäle wurden nicht etwa gegraben, um – wie an vielen anderen Orten der Welt – trockene Landstriche mit Wasser zu versorgen, sondern um Wasser loszuwerden und es ins offene Meer abzuleiten. Die Pumpen und Entwässerungskanäle waren die Grundvoraussetzung für Schiphol, und wenn ich auf dem verkehrsreichen Flughafen an den Hugo-Boss- und Jack&Jones-Geschäften vorbeihaste, denke ich immer daran, dass ich mich auf mühsam gewonnenem Land bewege – sechs Meter unter dem Meeresspiegel.

Möglicherweise sind diese katastrophal anmutenden Voraussagen über die Alpen ja völlig falsch. Doch die Angst vor einem Abschmelzen des Eises und vor vermehrten Niederschlägen hat in Zentraleuropa schon jetzt große politische Bedeutung erlangt. Die niederländische Regierung rechnet damit, dass das Wasser in den Flüssen im Laufe weniger Jahrzehnte um mehrere Dezimeter ansteigen wird, ein Szenario, das außergewöhnliche Maßnahmen erfordert, da 60 Prozent des Landes durchschnittlich 3,5 Meter unter dem Meeresspiegel liegen.