Michael Ende
Erzählung
Für das Wahrheitskind
Vor vielen Hundert Jahren, als die Menschen noch wussten, dass es Engel und Dämonen gibt, lebte in einem wilden Gebirgstal mitten im Wald ein frommer Einsiedler. In seiner Jugend war er einmal sterblich verliebt gewesen, und zwar in eine junge Dame, die allgemein als das Muster von Tugend und Schönheit galt. Sie hatten sich ewige Liebe und Treue geschworen, doch einen Tag vor der Hochzeit hatte sie ihre heiligen Eide gebrochen und war mit einem anderen auf und davon gegangen.
Vielleicht hing das damit zusammen, dass sein Vater, ein bis dahin reicher und angesehener Kaufmann, durch einen Sturm all seine Schiffe verloren hatte und von einem Tag auf den anderen zum Bettler geworden war. Jedenfalls waren es diese beiden Ereignisse, die in dem Jüngling die Überzeugung befestigten, dass alle irdischen Dinge nichts als Schein und Trug seien. Er zog sich von der Welt zurück und wandte sich ganz dem Studium heiliger Bücher zu.
Viele Jahre lang saß er lesend und grübelnd über den Schriften des Augustinus und des Hieronymus, des Dionysius und des Albertus, den man den Großen nennt. Und als er schließlich sogar sämtliche Werke des Thomas von Aquin durchstudiert hatte (wer sie kennt, wird den Eifer des Jünglings bewundern), da stieß er endlich auch auf die Beschreibung der Todesstunde dieses Heiligen und auf dessen letztes Wort, dass all seine Bücher in Wahrheit nichts als leergedroschenes Stroh enthielten.
Ein Schauder erfasste den jungen Mann. Ihm war, als ob die Erde sich unter ihm auftäte und ein eisiger Windhauch aus dem Abgrund sein Herzblut zu Eis erstarren ließe. Noch zur selben Stunde, mitten in der Nacht, verließ er für immer seine Studierstube und seine Bücher und ging davon.
Lange Zeit irrte er ohne Ziel in der Welt umher, bis er zuletzt in jenes abgelegene Gebirgstal geriet und mitten im Wald eine Felsenhöhle entdeckte. In ihr legte er sich zum Schlaf nieder und träumte von einem Feuerwirbel, aus dem eine Stimme zu ihm sprach: »Bleibe hier, denn hier will ich dir begegnen!« So war er geblieben und hatte gewartet.
Wie lange das alles schon her war, wusste er selbst nicht mehr, denn sein Geist war nun ganz der Ewigkeit zugewandt. Sein irdischer Leib, inzwischen alt und ausgezehrt, nahm die Tage und Nächte, die wie ein unablässiges Spiel von Licht und Schatten über ihn hingingen, kaum noch wahr. Seine Haare und sein Bart waren weiß und so lang, dass sie ihn wie ein Mantel einhüllten. Nur selten ging er im Wald umher, um Beeren und andere wilde Früchte, Kräuter und Wurzeln zu sammeln, die ihm als Nahrung dienten. Meist saß er im Eingang seiner Felsenhöhle, die Augen geschlossen und in tiefer Versenkung, ohne sich zu regen. Bären kamen und lagerten sich neben ihn, giftige Schlangen ringelten sich in seinem Schoß zusammen, Vögel nisteten in seinem Haar, und Spinnen webten ihre kunstvollen Netze zwischen seinen Beinen – er bemerkte es nicht. Sein Geist weilte in anderen Welten, die so hoch erhaben über der unseren sind, dass man sie mit nichts vergleichen kann, was wir kennen, nicht einmal mit unseren Träumen. Regen fiel auf ihn, Sonnenglut versengte ihn, Sturmwinde peitschten seine Haut, doch nichts vermochte ihn in seiner Zwiesprache mit der Ewigkeit zu stören. Der Friede seiner Seele war so tief, dass sogar die wilden Tiere des Waldes etwas davon fühlten und sich im Umkreis jener Felsenhöhle gegenseitig nichts zuleide taten, sondern harmlos miteinander spielten wie einst im Paradies.
Doch der Einsiedler hatte das Versprechen aus jenem Traum der ersten Nacht nicht vergessen und wartete noch immer auf dessen Einlösung.
Nun wollte es das Schicksal, dass gerade in dieses abgelegene Gebirgstal eines Tages ein anderer Mensch kam, dessen Leben nicht weniger einsam war als das des frommen Eremiten, wenn auch aus ganz anderen Gründen. Es handelte sich da um einen, der aus der menschlichen Gemeinschaft ausgestoßen worden war, einen wilden, rothaarigen Kerl, stark wie ein Ochse und starrköpfig wie ein Esel. Zwar gab es nichts, wovor er Furcht hatte, doch gab es auch nichts, was ihm Ehrfurcht einflößte.
Er hatte einst in seiner Jugend einen anderen jungen Mann, der ihm seine Liebste entehrt hatte, in jähem Zorn erschlagen. Dieser andere junge Mann stammte aus vornehmer Familie, da er selbst aber und sein Mädchen durchaus geringer Herkunft waren, hatten die Richter ihm keinen Anspruch auf Stolz und Ehre zugestanden. Er sollte aufs Rad geflochten werden. Doch war es ihm gelungen, in der Nacht vor seiner Hinrichtung in die Wälder zu fliehen.
Dort hatte er sich zunächst einer Räuberbande angeschlossen, die sich aus ähnlichen Vogelfreien zusammensetzte. Mit ihnen zusammen stahl er goldene Kelche und silberne Räucherbecken aus Kirchen, plünderte reisende Kaufleute aus, steckte Klöster in Brand und nahm sich alle Weiber, die ihm gefielen, ohne sich darum zu kümmern, ob es adelige Damen oder Bauernmädchen, Nonnen oder Zigeunerinnen waren. Er lernte, gotteslästerlich zu fluchen und zu saufen und im Übrigen den lieben Gott einen guten Mann sein zu lassen.