Titel

Eléonore Devillepoix

Die Stadt ohne Wind

Arkas Reise

Aus dem Französischen von Amelie Thoma und Anne Gabler

Insel Verlag

Widmung

»Nach all den Anstrengungen, die ich für dein Buch unternommen habe, solltest du es mir besser widmen.«

Victoire Devillepoix, 2018

Motto

Die Figuren in Die Stadt ohne Wind existierten bereits vor meiner Ankunft am Europäischen Parlament. Jegliche Ähnlichkeit mit realen Beamten ist daher rein zufällig. Das Glossar, das sich auf den letzten Seiten des Buches befindet, ist dagegen wohlüberlegt und soll jenen eine Hilfe sein, deren Fantasie vor den hyperboreischen Ausdrücken in die Knie geht.

1

Schlange und Tod

Lastyanax

Das Leben ist so unvorhersehbar, dass man manchmal erstaunt ist, wenn es sich trotz Zufällen und Ungewissheiten nach einem Plan formt, der Jahre zuvor gefasst wurde. An diesem Tag, während Lastyanax zum Abschluss seines Vortrags ansetzte, schweifte ein Teil seiner Gedanken ab und beschritt noch einmal den Weg, der ihn hierhin geführt hatte, in diesen stillen Saal, in dem nur seine Stimme widerhallte. Und überrascht stellte er fest, dass sich endlich verwirklichen würde, wonach er so lange gestrebt hatte.

»So also ist es dank des Detektors möglich, die Wirkungskraft, die Gestalt und die Bewegung der Animas zu beobachten«, endete er und stellte den Prototyp seiner Erfindung, an dem er während der Präsentation nervös hantiert hatte, auf den Tisch.

»Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.«

Die Juroren auf dem Podium nickten anerkennend. Lastyanax wusste, dass er von ihnen nicht mehr zu erwarten hatte, und trotzdem konnte er, nach einem Jahr harter Arbeit, eine gewisse Enttäuschung über ihre Reaktion nicht unterdrücken. Während er seine Papiere zusammensuchte, bat ihn der Mystograf, den Saal zu verlassen und draußen auf das Ergebnis der Beratung zu warten. Lastyanax übergab den Juroren den Animadetektor, damit sie seine Erfindung in aller Ruhe prüfen konnten, dann verließ er unter den Blicken der vier Professoren den Raum und schloss die Tür hinter sich.

Mit einem Seufzer lehnte Lastyanax sich an die Mauer. Endlich hatte er es geschafft. Langsam wich die Anspannung aus seinen Schultern und hinterließ ein seltsames Gefühl der Leere. Als er an sich hinabschaute, wurde ihm bewusst, dass er seine Schülertunika nicht länger tragen würde. Er würde bald ein hyperboreischer Magier sein, ein Amt bekleiden und Geld verdienen, vor allem aber würde er keinen Mentor mehr haben.

Apropos, wo war er überhaupt, dieser Mentor? Der Arkadengang war menschenleer. Lastyanax steckte seinen Kopf zwischen den von blauem Efeu umrankten Säulen hindurch und blickte zur angrenzenden Terrasse hinüber. Auch dort war niemand zu sehen. Vielleicht war Palates beschäftigt oder er hatte die Abschluss-Disputation seines Schülers schlicht vergessen. Unwillig fuhr Lastyanax sich durch die braunen Haare. In den letzten fünf Jahren hatte er gelernt, dass man nicht allzu viel von Palates erwarten konnte. Als zwanghafter Sammler verbrachte sein Mentor die meiste Zeit damit, auf der Suche nach außergewöhnlichen Fundstücken durch die Stadt zu streifen, statt seinen Pflichten eines Ebnungsministers nachzukommen. Seine jüngste Obsession waren Hühner: Im Laufe eines Monats hatte Palates eine bemerkenswerte Anzahl bemalter Hühnereier, Hühnerfiguren und Hühnerfedern gehortet, zum Glück allerdings keine lebenden Vögel. Bestimmt war er gerade dabei, mit irgendeinem Antiquar der dritten Ebene über das x-te Geflügel-Bildnis zu verhandeln.

Lastyanax war der Einzige, der unter der Sammelwut seines Lehrers litt. Die anderen Minister rieben sich die Hände, denn Palates’ mangelndes Pflichtbewusstsein sorgte dafür, dass sie freie Bahn hatten. Lastyanax vermutete sogar, dass sie die Wahl seines Mentors aus diesem Grund unterstützt hatten. Jedenfalls durfte er sich neben der Vorbereitung seiner Disputation auch noch um Palates’ Akten kümmern, während dieser mit der Unbekümmertheit eines Studenten durch Hyperborea bummelte.

Lastyanax beschloss, sich auf die Terrasse zu setzen und dort zu warten. Es konnte eine Weile dauern, bis die Jury ihre Entscheidung getroffen hatte. Er klemmte seine Aufzeichnungen unter den Arm und trat durch den Torbogen am Ende der mit Mosaiken verzierten Galerie ins Freie. Sofort blendete ihn das grelle Sonnenlicht. Schwarze Flecken tanzten vor seinen Augen, als er zwischen Blumenkästen und Springbrunnen in Richtung der Balustrade ging, hinter der die Türme von Hyperborea aufragten. Sein Blick blieb an einer länglichen, dunklen Gestalt hängen, die zu Füßen einer Bank lag. Versunken in seine Grübeleien, fiel ihm nicht gleich auf, was mit dieser Gestalt nicht stimmte.

Dann realisierte er mit einem Schlag: Es war Palates und er war tot.

Arka

Mit der Spitze ihres Fausthandschuhs schob Arka ihre Kapuze zurück und enthüllte das schmale Gesicht eines Mädchens, das zwar kein Kind mehr, aber auch noch nicht wirklich eine Jugendliche war. Die Kälte hatte ihre Wangen mit roten Flecken marmoriert, ihre laufende Nase hinterließ einen glitzernden Streifen über der Lippe, der bereits gefroren war. Vor ihren schneeverkrusteten Lederstiefeln klaffte eine zehn Schritt breite Gletscherspalte.

»Okay, ich glaube, wir haben uns verirrt.«

Eine Feststellung, die Arka bereits vor drei Tagen hätte treffen sollen. Sie hatte mit Zwerg gesprochen, obwohl sie natürlich wusste, dass von ihm kaum eine Antwort zu erwarten war. Ihr Reisegefährte war ein – wie der Name schon sagte – kleines weißes Pferd. Es war zottelig und bis auf die Knochen abgemagert und seine schlechte Laune wurde nur durch seine Faulheit überboten. Wenn es nicht gerade aß, verbrachte es seine Zeit damit, die Ohren anzulegen und die Zähne zu zeigen. Im Moment hatte das fehlende Futter ihm jedoch jeglichen Widerspruchsgeist genommen. Mit gesenktem Kopf und hervorstehenden Rippen beobachtete es Arka dabei, wie sie ihre steifgefrorenen blonden Haare zwirbelte.

»Drecksnebel!«

Seitdem sie auf dem Gletscher des Riphäengebirges angekommen waren, drehten sie sich im Kreis, es war einfach nicht möglich, sich in diesem seltsamen Dunst, der sie umgab, zurechtzufinden. Ein gleichförmiger, undurchdringlicher Nebel, den selbst die Sonne während des Tages nicht vertreiben konnte und der in der Nacht seine eigene Leuchtkraft zu besitzen schien. Und schon zum dritten Mal hatten sich unter ihren Füßen Spalten im Eis aufgetan.

Die Karawanenführer hatten mehrmals versucht, Arka davon abzubringen, den Gletscher zu überqueren, obwohl das der schnellste Weg nach Hyperborea war. Sie hatte jedoch nicht auf sie gehört, weil sie sich für viel klüger hielt, als ihre dreizehn Jahre vermuten ließen. Jetzt bereute sie es bitterlich. Ihre letzte Mahlzeit hatten sie vor zwei Tagen zu sich genommen und sie ertappte sich dabei, dass sie an gebratenes Pferdefleisch dachte, wenn ihr Blick auf Zwergs Kruppe fiel.

Sie zog sich mit den Zähnen die Fäustlinge von den Händen und trat zu ihm. An dem einfachen Packsattel auf seinem Rücken war ein Paar zerbrochener Schneeschuhe befestigt, und an seinen Flanken baumelten leere Satteltaschen. Es dauerte eine ganze Weile, bis sie mit ihren steifen Fingern die gefrorenen Riemen, mit denen das Gepäck befestigt war, aufgeknüpft hatte. Doch schließlich rutschte es knarzend zu Boden. Von seiner Last befreit, schüttelte sich Zwerg und schnaubte.

Nachdem Arka die Satteltaschen aus dickem Leder im Schnee ausgebreitet hatte, band sie die hölzernen Schneeschuhe los, zerbrach sie und schichtete sie auf dem Leder zu einem Haufen. Mit einem Fingerschnipsen entzündete sie das Reisigbündel. Anschließend schnallte sie die Ständer vom Packsattel, warf diese auch noch in die Flammen, gab Eisstücke in einen Napf und stellte ihn obendrauf. Zwerg näherte sich den Flammen und der Rauch zeichnete Kringel um seine Nüstern. Arka ging in die Hocke und wartete, die Hände dicht am Feuer. Als aus dem Napf Dampf aufstieg, zog sie ein Tütchen aus ihrem Umhängebeutel und warf die letzten Krümel der getrockneten Blätter, die sich darin befanden, in das siedende Wasser. Sie ließ das Gebräu eine Weile ziehen, dann goss sie es in eine Schale.

Arka hielt ihr Gesicht dicht über das Getränk, damit sie möglichst viel von der Wärme, die ihm entstieg, aufnehmen konnte, und blickte sich um. Normalerweise war ein Gletscher abschüssig. Um an sein Ende zu gelangen, musste sie also nur der Neigung des Hangs folgen. Aber der Nebel verschlang alle Orientierungspunkte, selbst Zwerg verschmolz mit dem Weiß der Umgebung.

Nach ein paar Schlucken spürte Arka, wie langsam Leben in ihre Glieder zurückkehrte. Sie musste Ruhe bewahren, es gab sicherlich eine Möglichkeit, hier herauszukommen. Mithilfe ihres Flügelarmbands hätte sie den Gletscher schnell überfliegen können, aber die Kälte hatte auch ihm zugesetzt, und außerdem konnte sie Zwerg doch nicht einfach zurücklassen.

Ihr improvisiertes Feuer erlosch allmählich, die Flammen knabberten bereits an den ledernen Satteltaschen. Bald wäre nichts als geschmolzener Schnee und schwarze Asche übrig. Arka verstaute Napf und Schale in ihrer Tasche und versuchte dabei, das entrüstete Knurren ihres Magens zu überhören. Um sie herum zog sich der Nebel so dicht zusammen, dass er beinahe greifbar schien.

Einer plötzlichen Eingebung folgend, hob sie ihren Blick. Irgendwo dort oben gab es bestimmt einen klaren Himmel und einen Horizont, der ihr den Weg weisen würde. Sie musste nur die Nebelschicht überwinden.

Nicht weit von ihr entfernt zeichneten sich die Konturen einer Anhöhe ab. Arka stapfte los, immer in sicherem Abstand zu der Gletscherspalte, deren Ende sie nicht ausmachen konnte. Eine gewundene Furche durchzog den Boden neben ihren Füßen, als hätte ein aus dem Nichts entsprungener heißer Bach den Schnee zum Schmelzen gebracht. Sie erreichte den Hügel und nach einem kurzen Anstieg kletterte sie auf einen großen Eisblock. Jetzt musste sie nur noch schweben.

Arka konzentrierte sich und sandte ihre Anima empor. Es war schon eine ganze Weile her, seit sie das letzte Mal levitiert war, und das Gefühl der durch ihren Körper strömenden Energie war ihr fremd geworden. Schließlich lösten sich ihre Füße vom Eis, ihr Körper überwand die Schwerkraft. Langsam entfernte sich der Boden und versank im Dunst. Unter ihr schienen Zwergs dunkle, zu ihr emporgereckte Nüstern im Nebel zu treiben. Sie spürte, wie ihr die Kälte in die Brust kroch. Ihre Gliedmaßen begannen zu zittern, und ihr Schädel dröhnte. Dann plötzlich verlor sie die Kontrolle über ihre Anima.

Sofort fiel ihr Körper wieder hinab. Arka versuchte, den Sturz abzufangen, doch sie prallte auf den Eisblock und schlitterte rücklings den Abhang hinunter.

Am Fuß des Hügels blieb sie einen Moment reglos liegen, die Kapuze voller Eis. Schnaubend kam Zwerg zu ihr getrippelt.

»Aua«, brummte sie und schob den Kopf des Pferdes weg, das an ihren Ohren schnupperte.

Entmutigt stand sie auf. Wenn selbst die Magie versagte, wie sollte sie hier jemals wieder herauskommen? Irgendwann bei Tauwetter würden sie die Karwan-Baschis zerschmettert in einem Gebirgsbach finden, genau wie all die anderen, die der Gletscher über die Jahre verschlungen und von denen man ihr immer wieder erzählt hatte. Warum war sie ihrem Rat nicht gefolgt? Dann stände sie jetzt nicht verlassen und mit leerem Magen im Nebel.

Mit einem leisen Wiehern riss Zwerg sie aus ihren Selbstvorwürfen, seine Ohren waren aufgestellt. Arka folgte seinem Blick. Mit einem Mal waren all ihre Sinne geschärft. Einen Moment später vernahm sie ein seltsames, gleichmäßiges Geräusch: wwwrrrusch … wwwrrrusch … wwwrrrusch … Es klang wie ein Schlitten, der durch den Schnee pflügte.

Verblüfft schaute Arka sich um. Seitdem sie die Bergführer verlassen hatte, war ihr keine Spur menschlichen Lebens mehr begegnet. Und jetzt traf sie durch einen absurden Zufall einen anderen Menschen, der ebenfalls verrückt genug war, eine Überquerung des Gletschers zu wagen.

»Hallo! Ist da jemand?«, rief sie. »Hierher!«

Der Schlitten schien sich zu nähern. Die Kufen knirschten immer schneller über den Schnee, als hätte der Fahrer sie gehört. Auf die Zehnspitzen gereckt, wiederholte Arka ihren Ruf. Sie war so erleichtert, endlich nicht mehr allein zu sein, dass sie sich keine Gedanken darüber machte, auf wen sie treffen würde. Nichts und niemand konnte schlimmer sein, als tiefgefroren auf einem Gletscher zu enden.

Ich sehe deine Vergangenheit …

Arka erstarrte. Die Stimme, die sich auf einmal erhob, hatte einen eigenartigen Klang. Sie durchdrang den Nebel, ohne an Klarheit zu verlieren, war weder tief noch hoch, noch … menschlich.

Wwwrrrusch, wwwrrrusch, wwwrrrusch … Dieses sonderbare Etwas näherte sich immer schneller. Mittlerweile erinnerte sie das Geräusch nicht mehr an einen Schlitten. Arkas Haut überzog sich mit kaltem Schweiß. Um sich Mut zu machen, griff sie in Zwergs struppige Mähne.

»Wer sind Sie?«, stieß sie hervor.

Vor ihr zeichnete sich eine geschwungene Form im Nebel ab, die auf sie zustrebte.

Ich sehe deine Vergangenheit … Frucht einer unwahrscheinlichen Verbindung … Einziges Kind, aufgenommen von einer alten Frau … Unzählige Bäume, der blaue Glanz der Gürtel … Und plötzlich … Das FEUER!

Eine riesenhafte Schlange löste sich aus den Dunstschwaden. Sie maß sicherlich zwanzig Schritt und schleuderte Arka ihre schwarze, gespaltene Zunge entgegen. In ihren lidlosen Augen klafften senkrechte Pupillen. Ihr Körper war von unzähligen durchscheinenden, spitzen Schuppen gespickt, die an Eissplitter erinnerten. Darin spiegelten sich Arkas vor Verblüffung geweitete Augen. Hastig wich sie zurück und Zwerg mit ihr. In ihrem Rücken versperrte ihnen die Gletscherspalte den Weg, vor ihnen richtete sich die Schlange zu ihrer vollen Größe auf, so hoch, dass ihr Kopf im Nebel verschwand.

Eine Hand auf Zwergs Schulter, baute Arka sich vor dem seltsamen Wesen auf. Doch plötzlich stieß das Pferd ein panisches Wiehern aus und floh im gestreckten Galopp. Völlig überrumpelt, vergaß Arka für einen Moment das Ungeheuer.

»Feigling!«, fluchte sie.

Aus dem Augenwinkel nahm sie wahr, wie das Untier nach vorne schnellte, und warf sich im letzten Moment zur Seite. Sie spürte, wie die Giftzähne ihr Bein streiften. Mit pochendem Herzen robbte Arka auf allen vieren rückwärts. Als ihre Hand ins Leere griff, schrie sie angsterfüllt auf. Der Angreifer hatte sie an den Rand der Gletscherspalte gedrängt. Vor ihr tänzelte das Ungeheuer aus Eis mit wiegenden Bewegungen auf und ab und sprach weiter, obwohl kein Ton aus seinem geschlossenen Maul drang:

Die alte Frau ist mit Asche bedeckt … Die Flucht des Brandstifters, und die deine, durch drei Länder … Noch einmal das Leben in Napoca, noch einmal der Tod in Napoca … Und jetzt, Hyperborea!

Das Tier straffte sich, Arka sah sein mit Giftzähnen gespicktes Maul auf sich zuschnellen und rollte zur Seite. Im nächsten Moment schlug der Kopf des Monsters genau dort auf, wo sie noch einen Augenblick zuvor gesessen hatte. Man hörte Schuppen splittern. In einer einzigen, fließenden Bewegung richtete sich die Schlange wieder auf.

Ich sehe deine Gegenwart … Verfluchte, winde dich, krieche, rutsche übers Eis, um meinen Angriffen zu entgehen!

Und mit diesen Worten stieß sie erneut auf sie herab. Arka wich ihr aus und schleuderte ihr eine Feuergarbe entgegen. Das Reptil bäumte sich zischend auf und ließ seinen riesigen Kopf hin- und herschwingen. Wasser tropfte aus den Schuppen, die von den Flammen getroffen worden waren. Diese vorübergehende Schwäche gab Arka einen Moment Zeit, sich zu überlegen, wie sie das Vieh loswerden könnte. Ihr Blick blieb an dem Eisblock hängen, der auf dem Hügel balancierte. Da hoch. So schnell sie konnte, kletterte sie den Abhang hinauf, wobei sie immer wieder ausrutschte. Unten hatte die Schlange die Jagd wieder aufgenommen und folgte ihrem Geruch. Das Wwwrrrusch begleitete ihr schlängelndes Kriechen.

Ich sehe deine Zukunft … Das Lachen, für das man dich lieben wird … Ein um deinen Finger gewundener Greif … Der dreizehnte Erbe erwartet dich im Mausoleum …

Auf der Spitze des Hügels angekommen, stemmte sich Arka mit aller Kraft gegen den Eisblock, doch es gelang ihr nicht, ihn zu bewegen. Keuchend holte sie aus und versetzte ihm einen Tritt. Mit einem Knirschen verschob sich der Block einen Daumen breit.

Die Schlange sauste auf sie zu.

Arka konzentrierte ihre Anima in den Beinen und versetzte dem Block einen weiteren Tritt, dessen Wucht sie umriss. Der Eisblock hatte sich gelöst und stürzte, gefolgt von einer kleinen Schneelawine, den Abhang hinunter. Arka hörte ein durchdringendes KRACK!, dann ein wütendes Zischen.

Sie rappelte sich auf und blickte den Hügel hinunter, an dessen Fuß das Ungeheuer, halb unter Eisgeröll begraben, hilflos zappelte. Sein langer Schwanz wand sich in der Luft, schlug auf den Boden, doch es gelang ihm nicht, die Last von seinem Rücken abzuschütteln.

»BÄM, ich habe dich erwischt!«

Schnell ließ sich Arka den Hügel hinuntergleiten und sprang auf den Geröllhaufen, um das Tier noch zusätzlich herunterzudrücken. Die Schlange hob ihren Kopf und zischte erneut vor Zorn. Arka spürte, wie sich die Eisplatten unter ihren Füßen bewegten. Ihr Gegner würde nicht mehr lange festsitzen. Unter anderen Umständen wäre sie so schnell wie möglich abgehauen, aber die Schlange war das erste lebende Wesen, das sie nach drei Tagen des Herumirrens traf. Und noch dazu eins, das sprechen konnte.

»Jetzt können wir reden«, sagte Arka, in einem Ton, der viel selbstsicherer klang, als sie sich fühlte. »Was genau bist du eigentlich?«

Jene, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt … Deinesgleichen nennt mich Python.

»Sagt mir nichts«, entgegnete Arka und setzte sich im Schneidersitz auf den Eishaufen.

Der Schwanz der Schlange peitschte so heftig durch die Luft, dass die Geröllschichten unter ihr erzitterten.

Ich bin eine Legende … Ihre unwirkliche Stimme klang mit einem Mal gekränkt. Ich bin die Schlange, die die Menschen tötet und die denen, die sie besiegen, ihre Zukunft vorhersagt … Möchtest du die deine erfahren?

Mit der Spitze ihres Handschuhs klopfte Arka auf das Eis.

»Ich bin mir nicht sicher, ob ich Lust darauf hab«, antwortete sie und verzog die Lippen zu einem Schmollmund. »Wie wäre es, wenn du mir stattdessen den Weg nach Hyperborea zeigst? Und wie man aus diesem verdammten Nebel rauskommt?«

Verärgert schleuderte das Reptil ihr die Zunge entgegen, sein Schwanz zuckte erneut durch die Luft, und Arka fragte sich besorgt, ob es ihm nicht doch gelingen würde, sich zu befreien. Bei jeder seiner Bewegungen bröckelten kleine Stücke von dem Eishaufen ab.

Ich bin Python, die Schlange, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft kennt … keine Landkarte.

Was für eine herbe Enttäuschung. Nervös kaute Arka auf einer Haarsträhne und sah sich suchend um. Ihre Lage war alles andere als rosig. Sie hatte sich verlaufen, ihr Pferd war abgehauen, sie hatte nichts mehr zu essen, eine Schlange, so groß wie ein Haus, wartete nur darauf, ihr den Garaus zu machen, und der Nebel um sie herum war immer noch genauso dicht.

Plötzlich hörte sie Hufgetrappel. Im nächsten Moment tauchte Zwerg auf und blieb in sicherer Entfernung des Ungeheuers stehen. Dass er zurückgekommen war, machte Arka neuen Mut.

»Angenommen, es würde mir gelingen, hier rauszukommen«, sagte sie, einer plötzlichen Eingebung folgend, »dann wäre der Weg doch in meiner Zukunft eingeschrieben, stimmt’s? Und du könntest ihn mir vorhersagen.«

Zweifellos …

»Sehr gut, dann sage mir den Weg voraus, auf dem ich den Gletscher verlassen werde.«

Wieder zischte das Reptil zornig.

So sagt man nicht die Zukunft vorher …

»Aber so möchte ich sie hören. Also antworte mir.«

Der Schwanz der Schlange sauste durch die Luft.

Zwei Tage lang wirst du dieser Spalte hier folgen … So wird es dir gelingen, den Gletscher zu verlassen, und Hyperborea wird dir seine Tore öffnen … Dort triffst du einen …

»Das reicht, das reicht!«, schrie Arka, um die Prophezeiungen zu übertönen. »Mehr brauchst du mir nicht zu sagen. Ich muss also einfach nur an dieser Gletscherspalte entlanggehen?«

Erneut schnellte ihr die schwarze Zunge entgegen, was Arka als Zustimmung wertete. Sie sprang von dem Eishaufen hinunter, wich vorsichtig ein paar Schritte zurück, um sicherzugehen, dass die Schlange sich nicht doch im nächsten Moment befreien würde. Aber die hatte aufgehört, sich zu winden, stattdessen beobachtete sie sie hinterlistig aus ihren geschlitzten Pupillen. Arka fragte sich, was sie wohl im Schilde führte. Die Partie war an sie gegangen, und doch sagte ihr etwas, dass die Schlange immer noch das Spiel bestimmte.

Sie spürte einen zärtlichen Stüber warm in ihrem Nacken. Zwerg war zu ihr gekommen und rieb seinen Kopf an ihr.

»Esel!«, brummte sie, kraulte ihm aber trotzdem den Hals.

Wieder erhob sich die unwirkliche Stimme: Ich habe dir deine Zukunft offenbart … Jetzt musst du mich befreien …

Arka erwiderte spöttisch:

»Damit du mich erneut angreifen kannst? Ja klar, gute Idee. Bald taut es, dann wirst du den Eishaufen schon los … Es sei denn, du schmilzt mit ihm.«

Die Pupillen des Tieres schienen sich noch weiter zu verengen. Arka brach auf, gefolgt von Zwerg. Vor ihnen verlor sich die Spalte, die wie ein aufgerissener Schlund zu ihrer Rechten klaffte, im Nebel. Kurz bevor der Dunst auch das Ungeheuer verschluckte, blieb Arka, von einem Zweifel beschlichen, stehen und blickte noch einmal zurück.

»Wenn du meine Vergangenheit, meine Gegenwart und meine Zukunft kennst, warum hast du mich dann angegriffen? Du wusstest doch, dass ich dich schlagen und dich dazu zwingen würde, mir zu helfen.«

Die Schlange wackelte geheimnisvoll mit dem Kopf. Arka hätte schwören können, dass sie lächelte.

Wer sagt dir, dass ich dir helfe, indem ich dir den Weg nach Hyperborea weise?

Lastyanax

Letztendlich war Palates also doch gekommen, um ihn nach seiner Disputation in Empfang zu nehmen. Mit ausgebreiteten Armen lag er in einem Beet napocanischer Orchideen und starrte ihn aus leeren Augen an. Die grauen Haare, die sonst immer sehr sorgfältig frisiert waren, standen in Büscheln von seinen Schläfen ab. Sein dicker roter Kopf lehnte an einem Fuß der Steinbank, als wäre er im Sterben von der Sitzfläche gerutscht. In der rechten Hand befand sich noch seine letzte Errungenschaft, eine kleine Keramikfigur in Form eines Huhns.

Benommen sah Lastyanax den Dienern dabei zu, wie sie den Verstorbenen auf eine Trage hoben, ihn mit einem Tuch bedeckten und seine sterblichen Überreste in eine Aufbahrungshalle brachten. Auch eine Stunde nachdem er die Leiche entdeckt hatte, konnte Lastyanax noch immer nicht fassen, dass sein Mentor gestorben war. Als er ihn am Abend zuvor gesehen hatte, war Palates doch noch kerngesund gewesen, lebenslustig und gutmütig, wie gewohnt.

Um die Terrasse hatte sich ein kleiner Auflauf aus Beamten gebildet, die, an die Balustrade der Galerie gedrängt, die Szene beobachteten. Ein Tod im Magisterium, noch dazu der eines Ministers, war ein echtes Ereignis. Lastyanax hörte, wie sich die Menge in Spekulationen erging.

»Es war bestimmt das Herz, das ist doch bei Magiern immer das Erste, was versagt.«

»Ich habe einen Diener sagen hören, er hätte was Falsches getrunken.«

»Ich wette, es war ein Schlaganfall, mein Vetter ist im letzten Jahr daran gestorben, so was erwischt dich ohne Vorwarnung.«

»Vielleicht wurde er ermordet …«

»Wie sollte man ihn denn ermordet haben? Es gibt keine Anzeichen von Verletzungen, und niemand hat ihn schreien hören.«

Lastyanax blickte auf den Ring an seinem Zeigefinger, in den sein Name graviert worden war und den ein Greif zierte. Kurz zuvor war der Professor für Mechamagie zu ihm gekommen, um ihm das Schmuckstück zu überreichen, und hatte ihn dabei an einen Händler auf dem Schwarzmarkt erinnert, so eilig hatte er es gehabt, die Terrasse wieder zu verlassen, auf der sich noch immer die Leiche seines Kollegen befand.

Eigentlich wollte es der Brauch, dass der Mentor seinem Eleven im Rahmen einer Zeremonie den Siegelring übergab, der ihn als Magier auswies und ihm so erlaubte, sich frei zwischen den Ebenen von Hyperborea zu bewegen. Außerdem konnte er mit ihm sein Siegel unter offizielle Dokumente setzen. Nach einer kurzen Beileidsbekundung hatte ihm der Professor das Ergebnis seiner Disputation mitgeteilt: Er hatte 11 von 12 Punkten erreicht, eine Note, die in den letzten zehn Jahren nie vergeben worden war.

Wie in Trance hatte Lastyanax die guten Nachrichten aufgenommen, ohne sich über die Anerkennung freuen noch das Los seines Mentors betrauern zu können. Nachdem er fünf Jahre lang auf Palates geschimpft hatte, war er ganz einfach noch nicht in der Lage, ihm gegenüber etwas anderes zu empfinden als Ungeduld und Gereiztheit.

Und trotzdem überkam ihn mit einem Mal ein heftiger Schmerz. Rastlos begann Lastyanax auf der Terrasse hin und her zu gehen. Er verübelte Palates sein plötzliches Verschwinden und schämte sich zugleich für diesen egoistischen Gedanken. Bisher hatte er seinen Mentor immer nur als Last empfunden, doch jetzt merkte er, welch wichtigen Platz der exzentrische Alte in seinem Leben eingenommen hatte.

Mitten auf der Terrasse blieb er stehen, schloss die Augen, öffnete sie wieder und betrachtete den blauen Himmel jenseits der Kuppel. Sein Geist musste sich an irgendetwas Konkretem festhalten. Er brauchte eine Erklärung.

Lastyanax ließ den Blick über die Blumenbeete schweifen, auf der Suche nach einem Hinweis, der ihm zu verstehen half, was in den letzten Augenblicken seines Mentors geschehen war. Palates hatte nie Anzeichen körperlicher Gebrechen gezeigt. Hatte sein Tod eine natürliche Ursache, oder war er, wie einer der Beamten angedeutet hatte, ermordet worden? Verglichen mit der Sinnlosigkeit eines plötzlichen Todes, wirkte diese Vermutung beinahe tröstlich, auch wenn Lastyanax sich nicht vorstellen konnte, wer ein Interesse daran gehabt haben sollte, ihn aus dem Weg zu räumen. Palates war nicht nur inkompetent, sondern immer auch kompromissbereit gewesen und besaß damit eigentlich die beiden Eigenschaften, die man brauchte, um sich als Politiker in Hyperborea eines langen Lebens zu erfreuen.

Am äußeren Ende der Terrasse, zu Füßen einer gewaltigen Statue, die den Titel Das Magisterium klärt das Volk auf trug und einen Magier zeigte, der feierlich eine leuchtende Kugel über eine verklärt zu ihm aufblickende Menschenmenge reckte, zog eine Spiegelung seine Aufmerksamkeit auf sich. Lastyanax näherte sich und entdeckte das Keramikhuhn. Es musste aus Palates’ Hand geglitten sein, als die Diener seine Leiche mitgenommen hatten. Er betrachtete die Figur eingehend, und ihm wollte einfach nicht gelingen, ihre Lächerlichkeit mit der Tragik des Todes ihres Käufers in Einklang zu bringen.

»Lastyanax!«

Als er den Kopf hob, sah er Silenos, den lebhaften Mystografieprofessor, mit flatternder Toga auf sich zu trippeln. Sein hervorspringender Bauch brachte ihn bei jedem Schritt aus dem Gleichgewicht, und bis er bei Lastyanax ankam, war er völlig außer Atem.

»Lieber Lastyanax, mein herzliches …«, begann er.

Dann unterbrach er sich keuchend und stützte sich mit einer entschuldigenden Geste auf das Geländer der Terrasse, die den Abgrund überragte. Das Magisterium belegte die oberste Etage des höchsten Gebäudes von Hyperborea. Unter ihnen erstreckte sich ein Wald riesiger runder Türme, umgeben von einer lichtdurchlässigen Kuppel, so weit wie das Himmelsgewölbe. Lastyanax ließ die kleine Statue in eine Falte seiner Tunika gleiten.

»Mein herzliches Beileid«, beendete Silenos seinen Satz. »Der Rat hat einen … pfff … einen großen Mann verloren … Warten Sie, ich muss mich setzen, ich kann nicht mehr.«

Der Mystograf ließ sich auf eine kleine Steinbank sinken, ähnlich der, auf der Palates gestorben war. Seine Speckrollen drohten die Nähte der Toga zu sprengen.

»Was für eine Tragödie, und dann noch am Tag Ihrer Disputation! Man hat Ihnen offenbar Ihren Ring übergeben, ja, gut so … aber sicherlich steht Ihnen heute nicht der Sinn danach, sich darüber zu freuen. Sobald alle Eleven ihre Erfindungen präsentiert haben, gebe ich wie jedes Jahr einen kleinen Empfang zu Ehren der Ernennung der neuen Magier, das wäre doch eine Gelegenheit, Ihren Erfolg zu feiern«, sagte der Mystograf und tätschelte dabei wie zum Trost Lastyanax’ Ellenbogen. »Ich erinnere mich noch daran, als Ihr Mentor seine Disputation hatte«, fuhr er in heiterem Ton fort. »Ich war damals noch ein ganz junger Professor. Palates war so nervös, dass er zunächst kein Wort herausbrachte. Doch dann hat er seinen Vortrag wunderbar gemeistert. Übrigens hatte ich es in jenem Jahr ebenfalls zu tun mit …«

Er unterbrach seine Anekdote, als er die gequälte Miene des jungen Magiers sah, der viel darum gegeben hätte, der ausschweifenden Beileidsbekundung seines ehemaligen Professors zu entgehen. In letzter Zeit hatte Silenos den Hang, ins Schwadronieren zu verfallen. Meistens tat er so, als würde er das Räuspern und die ungeduldigen Seufzer seiner Schüler nicht bemerken. Doch heute beherrschte er sich glücklicherweise.

»Ah, entschuldigen Sie, sogar in den schwierigsten Momenten schaffe ich es nicht, mich mit meinen Erinnerungen zurückzuhalten. Es war ein Infarkt, nicht wahr?«

»Sieht so aus«, antwortete Lastyanax düster. »Palates hat üppige Mahlzeiten ja geliebt.«

»Na, dann wird mir das wohl auch blühen«, sagte der Mystograf und deutete auf seinen Bauch. »Entschuldigung, ich sollte darüber nicht scherzen … Schließlich bin ich nicht zu Ihnen gekommen, um Ihr Leid noch zu vergrößern. Lassen Sie uns stattdessen ein wenig über Politik reden, lieber Lastyanax«, schlug er vor, wobei er auf den Platz neben sich klopfte.

Lastyanax zögerte einen Moment verunsichert, doch dann setzte er sich, ein Bein halb in der Luft, auf die kleine Ecke, die nicht vom breiten Hintern seines Professors in Beschlag genommen wurde. Silenos unterrichtete Mystografie oder Magisches Schreiben. Bis jetzt war ihre Beziehung auf ein reines Lehrer-Schüler-Verhältnis beschränkt gewesen. Aber Silenos’ Nähe zum Basileus machte ihn zu einer einflussreichen Person. Der Herrscher von Hyperborea hatte ihn sogar zum Stellvertretenden Obersten Richter ernannt, auch wenn dieser Ehrentitel keinerlei Verantwortung mit sich brachte. Indem er die Unterhaltung jetzt auf die Politik lenkte, verließ er den gewohnten Rahmen ihrer Gespräche.

»Nachdem Sie fünf Jahre lang der Eleve eines Ministers waren«, begann er, »wissen Sie, wie schnell sich die Dinge manchmal entwickeln. Die Mitglieder des Rates sind bereits über Palates’ Tod unterrichtet, und jeder versucht, seinen Stein auf die vakante Stelle im Ebnungsministerium zu setzen. Ich beabsichtige zum ersten Mal, dieses Spiel mitzuspielen, entschuldigen Sie meine Ausdrucksweise. Wissen Sie, ich habe noch nie einen jungen Mann getroffen, der so intelligent ist wie Sie, und ich sage das, ohne Ihre bescheidene Herkunft zu berücksichtigen. Darüber hinaus wurden Sie von Palates selbst ausgebildet, was Ihnen einen beachtlichen Vorteil gegenüber potenziellen Konkurrenten verschafft. Deswegen möchte ich Sie dabei unterstützen …«, Silenos machte eine Pause, kniff ein Auge zusammen und fuhr triumphierend fort: »Ebnungsminister zu werden!«

Lastyanax hatte natürlich geahnt, worauf sein Gesprächspartner hinauswollte, trotzdem starrte er ihn ungläubig an. Palates war doch gerade erst gestorben. Und er selbst trug noch seine Eleventunika. Eines Tages sah er sich durchaus im Ministerium, aber nicht so jung, und vor allem nicht unter diesen Umständen.

»Ich habe nicht gedacht, dass ich mich derart früh für Sie einsetzen würde«, fuhr Silenos fort, ohne ihm Zeit für eine Erwiderung zu lassen. »Es wäre sicher wünschenswert, wenn Sie noch etwas mehr Erfahrung hätten … trotzdem wüsste ich niemanden, der besser geeignet wäre als Sie, diesen Posten zu bekleiden. Das Amt des Ebnungsministers setzt Kenntnisse über das Leben in den niedrigen Ebenen voraus. Bedauerlicherweise verfügt beinah keiner unserer Magier über dieses Wissen. Sie dagegen könnten dem Amt neuen Schwung verleihen, Lastyanax.«

Mit einem wohlwollenden Nicken beendete der Mystograf seinen Satz. Lastyanax schwieg einen Moment und dachte über eine Antwort nach, während Silenos’ forschender Blick zwischen seinem rechten Auge und seinem linken hin- und herwanderte.

Kaum zwei Stunden nachdem die Leiche seines Mentors gefunden worden war, hatte Lastyanax eigentlich keine Lust, über dessen Nachfolge zu reden. Andererseits war ihm auch bewusst, dass sich einem wie ihm, der aus der ersten Ebene stammte, eine solche Karrierechance nicht noch einmal bieten würde. Minister zu werden, im Herzen der städtischen Verwaltung zu arbeiten, war etwas, wovon er seit Jahren träumte. Unwillkürlich wanderte sein Blick zu der Statue des Magiers mit seiner leuchtenden Kugel.

»Ich fühle mich sehr geschmeichelt«, erwiderte er schließlich. »Es wäre mir eine Ehre, den Fackelstab von meinem Mentor zu übernehmen. Aber gehen Sie nicht ein beträchtliches Risiko ein, indem Sie meine Kandidatur unterstützen, Professor?«

Auf höfliche Art versuchte er so nach den Gegenleistungen zu fragen, die der andere für seine Unterstützung erwartete. Auch wenn der Vorschlag des Mystografen uneigennützig erschien, ließ Lastyanax sich nicht täuschen. Und Silenos verstand seine Anspielung.

»Mir macht es Freude, vielversprechende junge Leute zu fördern, die nicht das Glück hatten, in einer Familie von Magiern aufzuwachsen. Aber ich würde lügen, wenn ich behauptete, dass dies mein einziger Beweggrund ist«, fügte er ruhig hinzu. »Um ehrlich zu sein, machen mir das mangelnde Urteilsvermögen des Eparchen und sein Einfluss auf den Basileus Sorgen. Mir wäre sehr viel wohler, wenn jemand Zuverlässiges und Vernünftiges, mit einem frischen Blick auf die Dinge, an den Besprechungen des Rates teilnehmen würde. Außerdem würde mich natürlich auch deren genauer Inhalt interessieren … Aber es geht selbstverständlich nicht um eine Einflussnahme meinerseits: Der Rat soll seine volle Unabhängigkeit bewahren.«

Lastyanax nickte erleichtert. Das angespannte Verhältnis zwischen Silenos und dem Eparchen war für niemanden ein Geheimnis. Silenos suchte nach Pfeilen, die er gegen seinen alten Kontrahenten richten konnte. Nun gut, Lastyanax hatte nichts dagegen, ihn mit solchen zu versorgen, zumal er den Stadtpräfekten ebenfalls nicht besonders schätzte. Das war ein annehmbarer Preis für einen Sitz im Rat der Minister.

»Meine Chancen, in den Rat zu kommen, sind allerdings sehr gering«, gab er zu bedenken. »Ich bin gerade erst diplomiert worden und kenne nur wenige einflussreiche Magier, brauche jedoch die Mehrheit der Stimmen des Mentorenkollegiums sowie die Einwilligung des Basileus.«

»Man findet immer Unterstützung, wenn man weiß, wo man sie suchen muss«, antwortete der Mystograf gelassen. »Sie können jetzt schon auf den Kuppelbaumeister und den Chefarchitekten zählen, das sind gute Freunde von mir, ich werde ihnen gleich ein Hydrotelegramm senden …«

meinen

Verärgert machte der Eparch Anstalten zu gehen, drehte sich dann jedoch noch einmal zu Lastyanax um und bohrte ihm einen Finger in die Brust.

»Sie sollten sich besser nicht in die politischen Mauscheleien Ihres ehemaligen Professors hineinziehen lassen, junger Mann! Sie werden sich die Finger verbrennen. Man wird Ihnen beim geringsten Zwischenfall die Schuld geben. Im Rat wird kein Minister Ihre Beiträge gutheißen. Damit das ganz klar ist: Ich werde der Erste sein, der Ihnen Steine in den Weg legt. Dieser absurde Ehrgeiz wird Sie sehr teuer zu stehen kommen.«

Und mit diesen Worten rauschte er ab. Verunsichert blickte Lastyanax ihm nach und fragte sich, ober er nicht einen großen Fehler beging. Er nahm sich vor, mit Palates darüber zu sprechen, doch dann wurde ihm bewusst, dass dies nicht mehr möglich war. Neben ihm tätschelte sich Silenos mit zufriedenem Seufzen den enormen Bauch.

»Ah, es gibt doch nichts Amüsanteres, als ihm auf die Nerven zu gehen. Messen Sie seinen Worten nicht allzu viel Bedeutung bei, er ist bloß neidisch. Er musste warten, bis er vierzig war, um in den Rat gewählt zu werden, und Sie sind erst neunzehn! Allerdings hat er in einem Punkt recht: Sie brauchen starke Schultern, um die Verantwortung, die Ihre neue Position mit sich bringt, tragen zu können. Der Rat ist ein unerschöpflicher Quell der Unannehmlichkeiten. Deswegen habe ich mich auch immer gehütet, selbst Minister zu werden … Übrigens werden Sie ja bald Mentor sein, lieber Lastyanax. Wie stellen Sie sich denn Ihren idealen Schüler vor?«

Nachdenklich legte Lastyanax einen Finger auf seinen höckrigen Nasenrücken, ein Souvenir seiner eigenen Attribution, des Tages, an dem er Palates zum ersten Mal begegnet war. Jedes Mal, wenn er von seiner Zukunft als Magier träumte, hatte er sich immer nur ausgemalt, wie er die Stufen der politischen Leiter erklomm. Daran, dass er auch einen Schüler würde unterstützen müssen, hatte er nie gedacht.

»Er muss brillant sein«, antwortete er.