Petra Breuer-Küppers ist Lehrerin für Sonderpädagogik an der LVR-Hanns-Dieter-Hüsch-Schule in Viersen und Vorstandsmitglied bei Science on Stage Deutschland.

Prof. Dr. Anna-Maria Hintz hat die Professur für Pädagogik und Didaktik bei Beeinträchtigungen des Lernens unter besonderer Berücksichtigung inklusiver Bildungsprozesse an der Universität Oldenburg inne.

Mario Spies ist Schulleiter der Grundschule Landkern und Referent für Sachunterricht.

Im Ernst Reinhardt Verlag ebenfalls erschienen:

Breuer-Küppers, P., Hintz, A.-M.: Schüler mit herausforderndem Verhalten im inklusiven Unterricht (1. Aufl. 2018; ISBN 978-3-497-02815-3)

Breuer-Küppers, P., Bach, R.: Schüler mit Lernbeeinträchtigungen im inklusiven Unterricht (1. Aufl. 2016; ISBN 978-3-497-02636-4)

Hinweis: Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnungen nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über <http://dnb.d-nb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-497-03056-9 (Print)

ISBN 978-3-497-61515-5 (PDF-E-Book)

ISBN 978-3-497-61516-2 (EPUB)

© 2021 by Ernst Reinhardt, GmbH & Co KG, Verlag, München

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Printed in EU

Cover unter Verwendung eines Fotos von iStock.com/RuslanDashinsky

Abb. 28 unter Verwendung einer Abbildung von © Calliope gGmbH

Satz: Bernd Burkart; www.form-und-produktion.de

Ernst Reinhardt Verlag, Kemnatenstr. 46, D-80639 München

Net: www.reinhardt-verlag.de E-Mail: info@reinhardt-verlag.de

Inhalt

Zum Aufbau des Buches

1Kinder mit Hochbegabung im inklusiven Unterricht

1.1Hochbegabung – Was ist das?

1.2Wie erkenne ich ein Kind mit Hochbegabung in meiner Klasse?

1.2.1Fallbeispiele

1.2.2Merkmalsliste

1.3Diagnostik

1.4Kompetenzen und Entwicklungsbedarfe von Kindern mit Hochbegabung

1.5Möglichkeiten des Umgangs mit Hochbegabung

1.5.1Akzelerierende Maßnahmen

1.5.2Enrichment

1.6Anforderungen an die Lehrperson

1.7Anregungen für Unterrichtsvorhaben allgemein

1.7.1Gruppenarbeit/Teamarbeit

1.7.2Perspektivwechsel

1.7.3Projektorientiertes Arbeiten

1.7.4Präsentationsformen

1.7.5Lernbüros

1.7.6Förderung von Kreativität

2Förderung in den Fächern mit exemplarischenUnterrichtsvorschlägen

2.1Deutsch

2.1.1Allgemeines

2.1.2Lesen

2.1.3Schreiben

2.1.4Sprechen

2.2Mathematik

2.2.1Allgemeines

2.2.2Komplexe Fragestellungen

2.2.3Denken und Rechnen

2.2.4ForscherInnenheft

2.2.5Knobel- und Denkgeschichten

2.2.6Spiele mit Denkspaß – ThinkFun Spiele

2.2.7Wettbewerbe

2.2.8Weitere Angebote

2.3Sachunterricht – Naturwissenschaften

2.3.1Allgemeines

2.3.2Physik – Schiefe Ebene

2.3.3Chemie – Farbwunder Rotkohl

2.3.4Biologie – Verhaltensbeobachtungen bei Asseln

2.3.5Informatik – Programmieren mit Lego-WeDo

3Förderung von Kindern mit Hochbegabung im Rahmen von Arbeitsgemeinschaften

3.1Allgemeines

3.2ForscherInnenteam

3.3ErfinderInnenwerkstatt

3.4Schach

3.5Literaturwerkstatt

3.6Strategie- und Rollenspiele

3.6.1Gipf-Project

3.6.2Puerto Rico

3.6.3Das Schwarze Auge

3.7Meditation und Stressmanagement

3.7.1Progressive Muskelrelaxation

3.7.2Autogenes Training

3.7.3Meditation

Literatur

Sachregister

Das Online-Material zum Buch können LeserInnen auf der Homepage des Ernst Reinhardt Verlags unter https://www.reinhardt-verlag.de herunterladen. Das Zusatz-Material ist passwortgeschützt. Das Passwort zum Öffnen der Dateien finden Sie vor dem Literaturverzeichnis.

Zum Aufbau des Buches

Dieses Buch wendet sich an alle Personen, die im schulischen Kontext mit GrundschülerInnen mit Hochbegabung arbeiten oder zukünfig arbeiten werden. Zur besseren Orientierung ist es in drei Teile gegliedert:

Im ersten Teil steht das Thema Hochbegabung grundlegend im Mittelpunkt. Neben Definitionen von Hochbegabung bekommen LeserInnen die Gelegenheit, in Form von Fallbespielen einige SchülerInnen kennenzulernen, bei denen offiziell eine Hochbegabung diagnostiziert wurde. Die Fallbeispiele sollen Hinweise auf Merkmale und Verhaltensweisen von Kindern geben, die eine Lehrperson veranlassen können, das eventuelle Vorliegen einer Hochbegabung in Betracht zu ziehen und entsprechende nächste Schritte zu initiieren (aus Datenschutzgründen wurden die Namen der SchülerInnen geändert). Allgemeine Vorschläge zum Umgang mit Hochbegabung in der Grundschule runden diesen Teil des Buches ab.

Teil 1: Hochbegabung und Fallbeispiele

Da in der Grundschule die Fächer Deutsch, Mathematik und Sachunterricht eine besondere Stellung einnehmen, finden sich im zweiten Teil konkrete Vorschläge für diese Lernbereiche. Hier gibt es Anregungen dazu, wie LehrerInnen Kinder mit Hochbegabung in heterogen zusammengesetzten Lerngruppen im Schulalltag fördern können.

Teil 2: konkrete Vorschläge für Unterricht in heterogenen Lerngruppen

Während sich die Vorschläge im zweiten Teil des Buches auf den Klassenunterricht beziehen, geht der dritte Teil darüber hinaus und bietet Anregungen für unterschiedliche klassenübergreifende Arbeitsgemeinschaften (AGs), von denen besonders Kinder mit Hochbegabung profitieren können.

Teil 3: Anregungen für klassenübergreifende Arbeitsgemeinschaften o. Ä.

Zur besseren Lesbarkeit haben wir die Schreibweise mit Binnen-I gewählt (z. B. „SchülerInnen“). Gemeint sind damit jeweils alle Geschlechter.

1Kinder mit Hochbegabung im inklusiven Unterricht

1.1Hochbegabung – Was ist das?

Der Begriff „Hochbegabung“ wurde 1928 von William Stern in die Psychologie eingeführt (vom Scheidt 2004). Er mag auf den ersten Blick einfach und eindeutig erscheinen: Hochbegabt ist jemand, wenn er über eine besonders ausgeprägte Begabung verfügt. Ganz so einfach ist es allerdings nicht, denn Kinder mit Hochbegabung sind genauso individuell wie alle anderen Kinder auch (Mähler/Hofmann 2005).

Hochbegabung erkennen

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Wir nutzen die Formulierung „Kinder mit Hochbegabung“, um deutlich zu machen, dass es sich in erster Linie um Kinder handelt. Sie haben zwar eine besondere Eigenschaft, nämlich die Hochbegabung, sind aber ansonsten so individuell hinsichtlich ihrer Eigenschaften wie alle anderen Kinder auch.

Kinder mit Hochbegabung kommen in allen gesellschaftlichen Schichten bzw. Milieus vor, also auch in Elternhäusern mit einem eher niedrigen Bildungsgrad (Feger 1981). Äußerlich ist eine Hochbegabung nicht sichtbar. Sie zeigt sich vor allem in Situationen, in denen Kinder eine bestimmte Problemstellung bearbeiten oder im Alltag, wenn sich für die Kinder die Gelegenheit ergibt, ihre besonderen Kompetenzen zeigen zu können (Stapf 2003).

In der Schule fallen Kinder mit Hochbegabung oft durch ihre rasche Auffassungsgabe auf und dadurch, dass sie neu erworbenes Wissen schneller als andere mit bereits (in anderen Bereichen) Gelerntem verknüpfen können (Mähler/Hofmann 2005). Weinschenk (1981) nennt als weitere Merkmale von Kindern mit Hochbegabung hervorragende Wahrnehmungs-, Gedächtnis- und Abstraktionsleistungen, eine außergewöhnliche Sprachbeherrschung, ein ungewöhnliches Informationsbedürfnis, eine radikale Fragehaltung, eine hohe Lerngeschwindigkeit und eine enorme Vielfalt an Interessen. Vor allem in der Effektivität von Lern- und Denkstrategien sowie dem Erkennen abstrakter Relationen sind Kinder mit Hochbegabung anderen Kindern überlegen (Stapf 2003). Darüber hinaus können sich Kinder mit Hochbegabung oft auch in einer äußerst ablenkenden Umgebung sehr aufmerksam und konzentriert mit einer sie interessierenden Tätigkeit beschäftigen (White 1985).

Auch in der Wissenschaft bestehen verschiedene Definitionen der Hochbegabung. So schreibt Geuß schon in den 1980er Jahren:

Definition

„Hochbegabt ist, wer in der Lage ist oder in die Lage versetzt werden kann, sich für ein Informationsangebot – auch aus seiner Sicht – hohen Niveaus zu interessieren, ihm zu folgen, es zu verarbeiten und zu nutzen“ (Geuß 1981, 52).

Die Person muss dazu geeignete Möglichkeiten und Strategien finden, um die Menge an Informationen systematisch und konsistent zu zerlegen, zu organisieren, zu bewerten und zu verdichten (Geuß 1981). Dies setzt voraus, dass die Person eine komplexe Aufgabe in Teilaufgaben zerlegen kann und bereits vorhandenes Wissen gezielt zur Lösung der Aufgabe einsetzt. Nicht zuletzt müssen die eigenen Aktivitäten und Erkenntnisfortschritte bewertet und eingeordnet werden (metakognitive Kompetenz). Alle drei Fähigkeiten (Einsatz von Wissen, Finden von Strategien und metakognitive Kompetenz) – bedingen einander.

Lucito (1964) definiert Hochbegabung wie folgt:

„Hochbegabt sind jene Schüler, deren potentielle intellektuelle Fähigkeiten sowohl im produktiven als auch im kritisch bewertenden Denken ein derartig hohes Niveau haben, daß begründet zu vermuten ist, daß sie diejenigen sind, die in der Zukunft Probleme lösen, Innovationen einführen und die Kultur kritisch bewerten, wenn sie adäquate Bedingungen in der Erziehung erhalten“ (Lucito 1964, 184).

Diese Definition ist zwar schon älter, ist aber inhaltlich so oder so ähnlich auch in neueren Publikationen immer wieder zu finden (z. B. McWilliams 2018).

In beiden Definitionen geht es um die intellektuelle Hochbegabung, d. h. um die Fähigkeit, abstrakt zu denken, die auch im Fokus dieses Buches steht. Weitere, davon relativ unabhängige Fähigkeitsbereiche sind nach aktueller Forschung soziale, musische, bildnerisch-darstellende und psychomotorisch-praktische Fähigkeiten (Stapf 2003). Eine Person kann in einem dieser Bereiche hochbegabt sein bei gleichzeitig (unter-)durchschnittlicher Ausprägung in jeweils anderen Bereichen.

intellektuelle Hochbegabung

Schon der Psychologe Charles Spearman ging 1927 davon aus, dass diesen Fähigkeitsbereichen mit hoher Wahrscheinlichkeit eine gemeinsame Fähigkeit zugrunde liegt, die er mit „g-Faktor“ (Generalfaktor der Intelligenz) bezeichnete (Schiefele/Krapp 1981). Ein hoher g-Faktor würde in diesem Kontext bedeuten, dass auch komplexe Informationen schnell verarbeitet werden können.

Generalfaktor der Intelligenz

Zu den Intelligenzfaktoren gehören ebenfalls Einfallsreichtum, Flexibilität des Denkens und Wortgewandtheit sowie das Auffinden von Ordnung und Regeln (Stapf 2003). Das Konstrukt Intelligenz, das je nach Definition u. a. verbale und mathematische Intelligenz sowie räumliches Vorstellungsvermögen umfasst, kann mit Hilfe spezieller Tests erfasst und als Intelligenzquotient (IQ) angegeben werden. Hierbei wird davon ausgegangen, dass Intelligenztestwerte um den Mittelwert 100 normalverteilt sind. Werte über 130 (bzw. unter 70) sind hierbei relativ selten. In der Regel ist bei IQ-Werten über 130 vom Vorliegen einer Hochbegabung auszugehen, wobei diese Grenze willkürlich im Sinne einer Konvention festgelegt ist (Geuß 1981).

IQ

Nach Sternberg (1993, zitiert nach Preckel/Baudson 2013) müssen fünf Kriterien erfüllt sein, damit man von einer Hochbegabung sprechen kann (Abb. 1).

Abb. 1: Fünf Kriterien der Hochbegabung (basierend auf Inhalten aus Preckel/Baudson 2013)

Laut Stapf (2003) kommt eine Hochbegabung bei Jungen und Mädchen ungefähr gleich häufig vor, wobei Mädchen oft weniger auffällig in ihrem Verhalten sind und daher hinsichtlich ihrer Hochbegabung leicht übersehen oder falsch eingeschätzt werden. Während bei Jungen tendenziell häufiger ein großes Interesse im Bereich der Naturwissenschaften zu erkennen ist, scheint Hochbegabung bei Mädchen weniger spezifisch, sondern eher vielseitig ausgeprägt zu sein (Stapf 2003).

Wenn Kinder mit Hochbegabung starke Minderwertigkeitsgefühle, ein geringes Durchhaltevermögen, eine geringe Motivation, Prüfungsangst o. ä. entwickeln, kann es vorkommen, dass sie ihre Leistung in der Schule nicht abrufen können (Mähler/Hofmann 2005). Hält diese Leistungsdiskrepanz länger als ein Jahr an und stabilisiert sich, werden sie als sogenannte „UnderachieverInnen“ bezeichnet (Stapf 2003). Bei UnderachieverInnen kann es vorkommen, dass sie außerhalb der Schule bei Themen, die sie interessieren und in Umgebungen, in denen sie sich wohlfühlen, sehr wohl leistungsmotiviert sind.

Underachiever

Intelligenz alleine garantiert noch keine hohen Schulleistungen, sie macht sie jedoch wahrscheinlicher (Preckel/Baudson 2013). Auf diesen Aspekt wird in Kap. 1.4 näher eingegangen, wenn es um Kompetenzen und Förderbedarfe hochbegabter SchülerInnen geht.

1.2Wie erkenne ich ein Kind mit Hochbegabung in meiner Klasse?

Hochbegabung hat viele Gesichter. Daher ist es nicht einfach, ein hochbegabtes Kind in einer Lerngruppe zu erkennen. In diesem Kapitel werden verschiedene Fallbeispiele aus der Schulpraxis dargestellt, um für mögliche Hinweise auf Hochbegabung zu sensibilisieren. In den nachfolgenden Kapiteln wird immer wieder Bezug auf diese Fallbeispiele genommen.

Am Ende dieses Kapitels findet sich eine Liste möglicher Merkmale, die auf eine Hochbegabung hinweisen. Sollten viele der genannten Merkmale zutreffen, könnte dies von der Lehrkraft als Anlass genommen werden, das Vorliegen einer Hochbegabung zu vermuten und ggf. in Rücksprache mit den Eltern entsprechende diagnostische Schritte anzuregen.

Nicht jedes Kind, das sich so verhält, ist hochbegabt, und nicht jedes hochbegabte Kind zeigt die Merkmale einer Hochbegabung in typischer Form.

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1.2.1Fallbeispiele

1.2.1.1Mathilda (9 Jahre)

BEISPIEL

Bei ihrer Einschulung zeigt sich Mathilda im Rahmen des Aufnahmegesprächs als aufgewecktes und fröhliches Mädchen. Sie erzählt von ihren Hobbies und von Büchern, die sie gerade liest. Zum Abschluss des Gesprächs soll sie auf einem Bild verschiedene Formen erkennen und benennen und schließlich einen Tisch zeichnen. Nach einem flüchtigen Blick auf die Aufgaben weigert sie sich mit den Worten: „So einen Sch*** mache ich nicht!“ Zu einem späteren Zeitpunkt erfährt die Lehrkraft von der Mutter, dass Mathilda als Baby sehr wenig geschlafen habe und bei allen Aktivitäten der Mutter dabei sein wollte. Als 2-Jährige habe sie angefangen, sich für Buchstaben zu interessieren und zunächst den Buchstaben „A“, den sie von ihrer Mutter gelernt hatte, in Zeitungen zu suchen. Mit drei Jahren sei das Interesse für Zahlen hinzugekommen. Im Kindergarten sei sie dadurch aufgefallen, dass sie Spielzeuge aus Überraschungseiern nach Bauanleitung zusammensetzen konnte.

In der Schule lebt Mathilda sich schnell ein. Sie kann sich Dinge gut merken. Die Aufgaben für eine Stunde hat sie oft schon nach wenigen Minuten fertig bearbeitet. Dann fordert sie weitergehende und tiefergehende Aufgaben und kann nicht verstehen, warum sie auf die langsamer lernenden Kinder warten soll. Mit den Hausaufgaben gibt es große Probleme, weil Mathilda sie meist nicht anfertigt. „Das kann ich sowieso schon. Also brauch’ ich das auch nicht üben!“, ist eine häufige Äußerung. An einer Mappe zum Thema „Meeressäuger“, die sie Ende der ersten Klasse in ihrer Freizeit angefangen hat, arbeitet sie hingegen fleißig und konzentriert. Als in der zweiten Klasse der Religionsunterricht nicht mehr von der Klassenlehrerin erteilt wird, sondern von einer anderen Lehrkraft, beschwert diese sich schon nach kurzer Zeit über Mathildas Verhalten, das sie als frech und unverschämt empfindet. Auf Nachfragen der Klassenlehrkraft stellt sich heraus, dass Mathilda die Fachkenntnis der Kollegin in Bezug auf das Leben nach dem Tod in Frage gestellt und ihr vorgeworfen habe, sie sei auf den Unterricht nicht ausreichend vorbereitet gewesen. Vergleichbare Kritik bekommen auch andere Lehrpersonen von Mathilda zu hören. Ihren Peers gegenüber zeigt sich Mathilda immer fair und Kindern mit körperlicher oder geistiger Beeinträchtigung gegenüber ist sie stets rücksichtsvoll. Ungerechtigkeit kann sie nicht ertragen und spricht sie sofort an. Das bringt Mathilda manchmal den Ruf einer Petze ein, doch das scheint sie nicht zu stören.

1.2.1.2Johanna (7 Jahre)

BEISPIEL

Johannas Mutter ist eine einfache Frau, die ihrer Verzweiflung nach dem Elternsprechtag einer Lehrerin gegenüber Luft macht. Beim Elternsprechtag habe sie gehört, dass Johanna regelmäßig den Unterricht der Klasse störe, Probleme habe, sich in einer Gruppe unterzuordnen und „zu allem ihren Senf dazugebe“. Regeln würde Johanna ständig hinterfragen und sich nicht daran halten, wenn sie den Sinn nicht einsehen könne. Auch zu Hause sei Johanna nicht einfach im Umgang. Mit ihren beständigen Fragen bringe sie ihre Eltern immer wieder an deren Grenzen. Noch im ersten Schuljahr habe sich Johanna zu Hause das Klavierspielen und mit nur wenig Unterstützung das Notenlesen beigebracht.

Auf Anregung der Lehrerin wird Johanna auf Hochbegabung getestet. Das positive Ergebnis ist für alle Beteiligten eine große Erleichterung. Johanna überspringt die zweite Klasse und holt den verpassten Stoff mit Hilfe der neuen Klassenlehrerin, die Selbstlernmaterial zur Verfügung stellt, schnell auf. Nach den Herbstferien schreibt Johanna bereits die regulären Klassenarbeiten der dritten Klasse mit und erzielt vor allem bei Denkaufgaben sehr gute Leistungen. Bei Mathematikarbeiten lässt sie oft Rechenschritte weg und kann nicht erklären, wie sie auf die Lösung gekommen ist. Sie habe die Lösung einfach „gesehen“. Ihre neue Klassenlehrerin ist begeistert von Johannas Fragen, da sie die Welt so aus einer ganz neuen Perspektive sieht und dazu kommt, über Sachverhalte erneut nachzudenken, die ihr vorher selbstverständlich erschienen.

1.2.1.3Rafael (10 Jahre)

BEISPIEL

Rafaels MitschülerInnen sind meist genervt von ihm und nennen ihn abwertend und spöttisch „der Professor“. Nur in Situationen, in denen Besuch von außen in die Schule kommt und die Klasse mit Rafaels Wissen glänzen kann, zeigen sie sich stolz auf ihn. Rafael selbst äußert sich nie dazu. Seit Beginn des vierten Schuljahres fehlen ihm auf dem Schulhof seine früheren (älteren) Spielkameraden, die mittlerweile weiterführende Schulen besuchen. Mit Gleichaltrigen kann er nur wenig anfangen. Körperlichen Auseinandersetzungen geht er aus dem Weg. Im Unterricht

wirkt er auf seine Lehrkräfte oft abwesend. Er beschäftigt sich mit anderen Inhalten als den geforderten, kann aber auf Fragen immer die korrekte Antwort geben, worüber seine LehrerInnen immer wieder erstaunt sind. Rafael hat eine große Leidenschaft für technische Bauwerke wie z. B. Talsperren und hält seinen MitschülerInnen gern Vorträge darüber. Wenn ein Thema für ihn persönlich uninteressant ist, stört er den Unterricht massiv.

Die Klassenlehrerin schlägt den Eltern vor, dass Rafael an den Wochenenden ein spezielles Hochbegabtentraining besuchen könnte. Seitdem ist er in der Schule auch bei für ihn uninteressanten Lerninhalten deutlich ruhiger geworden. Auch in die Klassengemeinschaft bringt er sich seitdem mehr ein.