Stevie Van Zandt
Soulfire!
Originalversion redigiert von Ben Greenman
Aus dem Amerikanischen übersetzt von Paul Fleischmann
Deutsches Lektorat von Hollow Skai
www.hannibal-verlag.de
Zitat
In jenem Bewusstseinszustand, der New Jersey zu sein scheint, liegt irgendwo zwischen dem Bruce Springsteen Stadium und der Bon Jovi Arena eine kaum bekannte Straße namens Little Steven Boulevard. Auf ihr befinden sich zahllose Souvenirläden, die alle dem Consigliere Little Steven gewidmet sind. Dort gibt es nur Krimskrams erster Güte: Gangster-Memorabilia, Little-Steven-Geld- und Handtaschen, Bandanas und Kopftücher, Little-Steven-Glaswaren, Kaffeetassen, Little-Steven-Fahnen, Schlüsselanhänger, Aufkleber und Aufnäher, Stifte und Gitarrenplektren, Little-Steven-Pappkameraden zum Aufstellen, Puzzles und Buttons. In dieser Straße kann man ein Vermögen ausgeben, sich jeden Song anhören, den er je gespielt hat, jede Fernsehserie ansehen, in der er je aufgetreten ist. Man kann auch seine Underground-Garage und Little Stevies Underground-College besichtigen. Das alles findet man dort. Ebenso wie Exemplare dieses Buchs hier. Es erfüllt alle Kriterien und bietet Anekdoten bis zum Abwinken. (Etwa auf Seite 235 – zum Niederknien, sage ich euch. Aber das ist nur eine von Hunderten.)
Hier handelt es sich in der Tat um eine lehrreiche Geschichte voller haarsträubendem Humor, weltlichen Weisheiten und wildentschlossenem Wagemut. Kein Zweifel, der gute Stevie beweist immer wieder aufs Neue, dass er weiß, wovon er spricht.
Bob Dylan
Widmung
Für Maureen,
meine unerwiderte Liebe
Impressum
Deutsche Erstausgabe 2021
© 2021 by Hannibal
Hannibal Verlag, ein Imprint der KOCH International GmbH, A-6604 Höfen
www.hannibal-verlag.de
ISBN 978-3-85445-716-9
Auch als Paperback erhältlich mit der ISBN 978-3-85445-715-2
Titel der Originalausgabe: Unrequited Infatuations – Odyssey of a Rock and Roll Consigliere (A Cautionary Tale)
© 2021 by Renegade Book, LLC
ISBN Hardcover: 978-0-306-92542-9
Published by Hachette Books, an imprint of Perseus Books, LLC, a subsidiary
of Hachette Book Group, Inc.
Coverfoto © Mark Weiss
Grafischer Satz in deutscher Sprache: Thomas Auer
Übersetzung: Paul Fleischmann
Deutsches Lektorat und Korrektorat: Hollow Skai
Hinweis für den Leser:
Kein Teil dieses Buchs darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, digitale Kopie oder einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet werden.
Der Autor hat sich mit größter Sorgfalt darum bemüht, nur zutreffende Informationen in dieses Buch aufzunehmen. Alle durch dieses Buch berührten Urheberrechte, sonstigen Schutzrechte und in diesem Buch erwähnten oder in Bezug genommenen Rechte hinsichtlich Eigennamen oder der Bezeichnung von Produkten und handelnden Personen stehen deren jeweiligen Inhabern zu.
Inhalt
Ouvertüre
Vorwort
Kapitel 1
Zeit der Erleuchtung
Kapitel 2
An der Quelle
Kapitel 3
Rauf auf die Bühne
Kapitel 4
Southside Johnny & The Kid
Kapitel 5
Das Business
Kapitel 6
Las Vegas!
Kapitel 7
Asbury Park – Jetzt erst recht!
Kapitel 8
Der Boss der Bosse
Kapitel 9
Ich will noch nicht nachhause
Kapitel 10
L.A. A Go Go
Kapitel 11
Jetzt wird’s ernst!
Bilderstrecke 1
Kapitel 12
Der Punk trifft den Paten
Kapitel 13
Taufe
Kapitel 14
Checkpoint Charlie
Kapitel 15
Wie Hemingway
Kapitel 16
Voice of America
Kapitel 17
Auf dem Boden der Tatsachen
Kapitel 18
Der atemlose Projektionist
Kapitel 19
Revolution
Kapitel 20
Auf keinen Fall in Sun City!
Kapitel 21
Freedom – No Compromise
Kapitel 22
Der Heros in tausend Gestalten
Kapitel 23
Sieben Jahre in der Wüste
Bilderstrecke 2
Kapitel 24
Eine Nacht in der Oper
Kapitel 25
An der Wegkreuzung
Kapitel 26
Gangster am Tage – DJ bei Nacht
Kapitel 27
Ein verdammt cooler Super Bowl
Kapitel 28
Lilyhammer
Kapitel 29
Once upon a Dream
Kapitel 30
Die goldenen Nymphen
Kapitel 31
Botschafter am Hofe Ronald McDonalds
Kapitel 32
Soulfire
Kapitel 33
Summer of Sorcery
Kapitel 33⅓
Epilog
Danksagungen
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Ouvertüre
Die in der Ferne erklingende Musik beschleunigt und verlangsamt wie eine Vinyl-Schallplatte auf einem verzogenen Plattenteller. Sie bäumt sich gegen eine zarte Brise auf, bevor sie dann doch nachgibt. Gleichzeitig ertönen das sanfte Klirren zerbrechenden Glases und ein paar müde wirkende Autohupen in jener mysteriösen Dunkelheit, die sich in der fremdartig-toxischen Einöde hinter den Stadtgrenzen ausbreitet. Der Nachhall feuchtfröhlicher Zechgelage durchschreitet seine nächtliche Metamorphose, verformt durch die umliegende Geräuschkulisse, bis er in das Rascheln der Blätter draußen auf der Terrasse mündet, auf der in dieser besonders knackigen Dezembernacht im Greenwich Village unser Held sein Schicksal bedenkt.
Der Winter geht um und Bewusstsein erweist sich als Ladenhüter.
Es will sich einfach nicht an den Mann bringen lassen.
Zum Teufel, nicht einmal geschenkt wollen es die Leute haben!
Höre ich da etwa den eisigen Wind durch die erstarrten, grauen Straßen blasen? Oder handelt es sich bei diesen Echos vielmehr um Hohn und Spott?
Einst war Bewusstsein kaum zu erlangen – und auch damals war die Nachfrage gering.
Informationen wurden vom Klerus, Hexendoktoren und machthungrigen Autoritäten streng rationiert. Das waren Menschen, denen wir törichterweise die Aufgabe überließen, das Leben für uns zu begreifen und zu interpretieren.
Alle hundert Jahre fühlte sich dann jemand erleuchtet genug, um seine Erkenntnisse zu teilen. Darauf folgten zumeist die Exkommunikation, ein Leben hinter Irrenhausmauern oder ein qualvoller Tod auf dem Scheiterhaufen, wo unsere dankbare Gesellschaft diese Visionäre bei lebendigem Leib verbrannte.
Wer mochte schon den Buddha, als er unter uns weilte? Nur ein paar obdachlose Gefolgsleute, die darauf hofften, eines Tages zu verstehen, was zum Geier dieser gemütlich-füllige Mann tatsächlich zum Ausdruck bringen wollte.
Wen konnte Jesus schon für sich gewinnen? Gerade einmal ein Dutzend Typen und ein oder zwei Ex-Huren.
Sokrates und Robert Johnson erhielten im Gegenzug für ihre Einsichten jeweils denselben Lohn. Einen finalen Schluck aus dem Schierlingsbecher.
Nein, mein Freund, man muss sich schon etwas Besseres einfallen lassen, als die Wahrheit unters Volk bringen zu wollen. Dann schon lieber etwas Nützliches. Zum Beispiel Krieg, Steuern, eine Regierung, auslaugend-bedeutungslose Schufterei, gefälschte Wall-Street-Bilanzen, sexuelle Frustration, Leid, falsche Hoffnungen, Krankheit, Knarren, Drogen, Benzin, Agrarwirtschaft, Angst, Schnaps, Gift, Hass. Wir brauchen Sündenböcke. Erfülle unser spirituelles Vakuum mit Religion.
Wir werden uns als unersättliche Konsumenten erweisen. Sprich möglichst herablassend mit uns. Wie zu Kindern. Damit wir auch ja begreifen. Es grassiert ohnehin gerade eine Pandemie der Dummheit, also wird das niemandem auffallen.
Wir werden dir überallhin folgen.
Eltern, Lehrer, Priester, Ärzte, Politiker, Philosophen, Poeten, Künstler, Götzen, der Allmächtige, der Heilige Geist – sind eure Möglichkeiten wirklich so beschränkt? Eure Nachkommen brauchen Zuwendung und ihr haltet euch mit was bitte auf?
Die Kinder des Dezembers sind Waisen.
Der Winter geht um und Bewusstsein erweist sich als Ladenhüter.
Vorwort
Stille.
Er lag unter einer Decke hinten im Wagen auf dem Boden, umhüllt von einer irren, unheimlichen Stille.
Niemand sprach ein Wort. Kein Radio. Nur das gemächliche Brummen des Motors. Er lag da ganz allein mit seinen Gedanken. Und eines sei euch gesagt: Das gefiel ihm gar nicht.
Seine beiden Mitverschwörer schmuggelten ihn an einer Militärblockade vorbei hinein in die schwarze Township Soweto. Die „einheimischen Unruhen“, wie die Regierung es gern formulierte, kochten alle paar Jahre wieder hoch, doch in letzter Zeit traten sie regelmäßiger auf. Inzwischen handelte es sich um einen Dauerzustand.
Nicht ganz zufällig war die Polizei weniger zuverlässig als noch zuvor. Die Beamten beschlichen gemischte Gefühle, wenn es darum ging, ihre eigenen Familienmitglieder und Nachbarn bei Demonstrationen zu verprügeln. Oder wenn sie wegsehen mussten, wenn Leute aus ihrem Bekanntenkreis im Knast gefoltert und gelegentlich ermordet wurden.
Die Regierung, die ihr Vertrauen in die Polizei verloren hatte, setzte nun in einem beispiellosen Schritt auf das Militär. Es bewachte jeden einzelnen Checkpoint, den man auf dem Weg in das riesige Ghetto oder aus ihm hinaus passieren musste. Nicht etwa zum Schutz der Einwohner, sondern um sie einzupferchen und einfacher abschlachten zu können, sobald konstruktive Ansätze dem Blutvergießen weichen mussten. Die Lage war noch nie so angespannt gewesen. Es war nicht der richtige Zeitpunkt, um zur falschen Zeit die falsche Hautfarbe zu haben. Deshalb auch die Sache mit der Decke.
Die sich schier uferlos ausbreitende Township war nicht ans Stromnetz angeschlossen, weshalb ein dichter Nebel von Öl- und Kohlerauch in etwa einem Meter Höhe über dem Boden hing und die Rätselhaftigkeit und immanente Gefahr des Augenblicks noch stärker betonte. Es fühlte sich an wie ein von einer Twilight Zone inspiriertes Fahrgeschäft in einem von Dostojewski ersonnenen Disneyland. Oder wie eine Außenmission in Star Trek, bei der er das entbehrliche Crewmitglied war, ein sogenanntes Redshirt. Die Jungs im roten Oberteil mussten immer über die Klinge springen. Die Farbe der Uniform entsprach in diesem konkreten Fall seiner Hautfarbe. Klar?
Jedes Land besitzt seinen ganz eigenen Geruch. In Südafrika liegt der süßliche Duft von Jacaranda, Zuckerrohr und Bananenstauden in der Luft. Gelegentlich durchschnitt diesen eine ätzende Brise, die eine Mischung aus verbranntem Gummi und Menschenfleisch transportierte. Dieser Gestank ergab sich, wenn angeblichen Verrätern mit Benzin gefüllte Reifen übergeworfen und in Brand gesteckt wurden, um sie hinzurichten.
Das nannte sich Necklacing.
Neben der Kombination aus betörender Schönheit und glühendem Hass war auch noch das charakteristische Aroma einer Revolution wahrnehmbar. Und er liebte jede einzelne beängstigende, irre Minute, Baby!
Der finale Showdown stand unmittelbar bevor und er hatte einen Sitzplatz direkt am Ring ergattert. Er war unterwegs zu einem höchst geheimen und absolut illegalen Treffen mit einer der allerbrutalsten Gruppierungen der südafrikanischen Revolutionsbewegung, der Azanian People’s Organisation (AZAPO). Es galt herauszufinden, wie diese tickten und bestenfalls ihre Zustimmung zu jener Strategie zu erhalten, die er sich zur Unterstützung ihres Freiheitskampfes hatte einfallen lassen.
Im Südafrika des Jahres 1984 war es verboten, dass sich drei schwarze Männer zur selben Zeit am selben Ort versammelten. Es war illegal, den Kulturboykott gegen das Land zu befürworten. Das galt vor allem für die Schwarzen, als die sie vom Staat klassifiziert wurden. Auch war es ein Kapitalverbrechen, eine Schusswaffe zu tragen, oder Umgang mit jemandem zu pflegen, auf den dies zutraf.
Er sollte nun gegen all diese Gesetze verstoßen. Die AZAPO repräsentierte die Frontsoldaten. In den Augen der am Hungertuch nagenden Massen waren sie Helden. Für die Regierung waren sie hingegen Terroristen.
Nicht geplant hatte er, in der nächsten Stunde ihre Strategie zur Revolution zu kritisieren und ein Plädoyer zu halten, um sein Überleben zu sichern.
Wie hatte es diesen Halb-Hippie von einem Gitarristen nur hierher verschlagen?
Sieben glorreiche Jahre lang galten Bruce Springsteen und die E Street Band als das „Rat Pack“ des Rock’n’Roll. Er schlüpfte dabei bereitwillig in die Rolle Dean Martins. Wann immer eine Party auf dem Programm stand, rief man ihn an. Politik war hingegen nicht sein Ding. Vielmehr war er der Spaßmacher. Ein Hofnarr. Immer für einen Lacher gut. Sex, Alk, Drogen, Rock’n’Roll … und noch einmal eine Extraportion Sex! Yo, Barkeeper, noch eine Lokalrunde!
Damit er nun unter dieser Decke liegen musste, hat schon so einiges schieflaufen müssen.
Dennoch war es nur logisch, dass ein gestandener Rock’n’Roller aus New Jersey sich auf die Risiken von Inhaftierung und Tod einließ. Dies entsprach der Logik seiner neuen Denke, die er sich erworben hatte, indem er zu einem ganz anderen Menschen geworden war.
Er hatte Tag und Nacht mit der E Street Band gearbeitet und voller Stolz dazu beigetragen, sie zur größten und besten Formation auf dem Planeten zu machen. Dann, in einem Augenblick vollkommener Klarheit (oder auch kompletten Wahnsinns), verließ er die Gruppe, um herauszufinden, wer er wirklich war und wie die Welt funktionierte. Jetzt oder nie, lautete sein Motto. Sobald man sich auf dem Weg zu Reichtum befand, gab es in der Regel kein Halten mehr. Die Reichen hatten einfach zu viel zu verlieren. Er entschied sich aber für das Abenteuer und gegen das Geld.
Was für ein Depp.
Gleich zu Beginn seiner verrückten Reise hatte er eine überraschende Erkenntnis erlangt. So war er zu dem Schluss gekommen, dass er mit ausführlicher Recherche jedes politische Problem nicht nur analysieren, sondern sogar lösen könnte. Ganz egal, wie komplex dieses auch sein mochte! Natürlich war es etwas ganz anderes, die Lösung adäquat umzusetzen. Aber eigentlich recherchierte er ja nur, um Material für Songs zu sammeln. Zumindest vorerst.
Ihm war schon seit jeher bewusst gewesen, dass er die Fähigkeit besaß, musikalische Projekte auf ein höheres Niveau zu hieven: Song, Arrangement, Text, Produktion – sucht euch etwas aus! Jahrelang hatte er für andere Schlechtes in Gutes, Gutes in Großartiges und Großartiges in noch Großartigeres verwandelt.
Das war keinesfalls reines Honigschlecken.
Selbst im Kunst- und Kreativbereich kann das Talent, Dinge reparieren und verbessern zu können, sowohl Segen als auch Fluch sein.
Die Sache mit dem Segen erklärt sich von selbst.
Der Fluch-Aspekt unterteilte sich in drei Ebenen. Zunächst freuten sich nur die wenigsten Menschen über Ratschläge, ganz egal, was sie sagten. Sie wollten sich der Illusion hingeben, alles selbst auf die Reihe gebracht zu haben. Manchmal heuchelten sie Interesse und ignorierten einen Ratschlag dann einfach. Außerdem war es nicht unbedingt ein Kinderspiel, auf diese Weise seinen Lebensunterhalt zu verdienen, da andere den Wagen steuern durften, während er sich darum kümmern musste, dass die Räder gut geschmiert liefen. Mitunter musste er auch vom Wagen abspringen, um Reparaturen vorzunehmen.
Der größte Wermutstropfen bestand jedoch darin, dass es ihm niemals gelang, diese wunderbare Logik auch auf sein eigenes Leben anzuwenden. Der Frust über die geschäftliche Seite lenkte ihn von den Genüssen der Kunst ab. Es spielte keine Rolle, wie sehr er dagegen ankämpfte, der wahnhafte Teufel, der tief in ihm wohnte, wartete immer noch auf jenen magisch-mystischen Mäzen, der doch schon längst die Bildfläche hätte betreten müssen.
Als ihm bewusstwurde, dass sein Können über den künstlerischen Bereich hinausreichte, nämlich bis hinein in die reale Welt und das echte Leben, war das ein ziemlicher Schock. Immerhin empfand er sich selbst als Halbidioten, der gerade einmal so die High School beendet hatte. Ganz zu schweigen davon, dass der Normalzustand seines Verstandes, wenn er sich nicht gerade aktiv mit etwas befasste, von einer chaotischen Kombination aus Frustration, Ungeduld, Selbsthass und Besessenheit von künstlerischen und philosophischen Fragestellungen geprägt war.
Aber das war doch schließlich der Grund, warum Künstler letztendlich Künstler werden wollten, oder? Um aus dem Chaos Ordnung zu erschaffen. Um das Irrationale in einen rationalen Rahmen zu fassen. Um Antworten auf die unbeantwortbaren Fragen zu finden. Um eine Struktur zu kreieren, die als Unterschlupf vor den widersprüchlichen Wirbelstürmen zu fungieren vermochte, die unablässig seinen Verstand quälten. Oder ging es etwa nur um Rache? Am besten sich gar nicht erst darauf einlassen, dachte er. Es roch alles schlichtweg zu sehr nach emotionaler Schwelgerei.
Die neue Erkenntnis, dieses Bewusstsein, dass er sein Talent auf die großen Probleme der Welt fokussieren konnte, lehrte ihn aber, dass seine Bestimmung, zumindest für die nähere Zukunft, darin bestand, ein politisch engagierter Rockmusiker zu sein.
Jedoch nicht so, wie sich Jackson Browne, Bonnie Raitt, Graham Nash und John Hall politisch engagierten. Das waren allesamt Helden, die sich an vorderster Front betätigten. Sein Interesse lag – zumindest anfangs noch – im Journalismus. Er kombinierte ihn mit seiner Kunst. So wie das Bob Dylan als Folk-Künstler tat. Nein, er wollte der erste Künstler sein, der seine Kunst ganz in den Auftrag politischer Themen stellt – jeder einzelne Song auf jedem einzelnen Album würde sich auf eine größere Problemstellung beziehen. Das hatte noch niemand gewagt, zumindest nicht in einer solchen Regelmäßigkeit.
Aber warum nicht?
Zunächst einmal waren alle anderen zu intelligent dafür. Immerhin handelte es sich hierbei um ein Manöver, das sich als Karriere-Killer herausstellen konnte, was ihnen klar war. Ihm aber war das egal. Bei seiner Selbstsuche hatte das Thema Karriere für ihn keine Priorität gehabt. Diese kurzsichtige Naivität sollte sich als selbsterfüllende Prophezeiung erweisen.
Ihn kümmerte ausschließlich das Abenteuer seines Lernprozesses. Sein Leben hatte noch einmal von vorne begonnen. So war er zu einem Suchenden geworden, der sich auf die Suche begab, um die Wahrheit zu absorbieren und gleichzeitig Lügen als solche bloßzustellen. Er machte nun alles wett, was er in der Schule versäumt hatte. Vielleicht, ja, nur vielleicht, gelang es ihm dabei, seiner Existenz einen Sinn zu verleihen.
Als er seine Solokarriere in Angriff nahm, hatte er sich insgesamt fünf Alben vorgenommen, die sich um fünf unterschiedliche politische Problemstellungen drehen sollten. Doch als seine kreative Leidenschaft nun auf seine Nachforschungsarbeiten prallte und er sich intensiv mit den Themen aus der echten Welt befasste, über die er schrieb, wurde alles nur noch komplizierter.
Südafrika lieferte hierfür wohl das beste Beispiel.
Die Herausforderung, die sich ihm für den Rest seines Lebens stellen würde, manifestierte sich nun in dieser Szene auf dem Boden zwischen den Vorder- und Rücksitzen dieses Wagens. Das Fahrzeug wurde einen Augenblick langsamer und dann wieder schneller. Waren sie etwa durch den Checkpoint gewunken worden? Er befand sich gerade auf seiner zweiten Südafrika-Reise, um die Recherchearbeiten zu seinem dritten Album abzuschließen.
Als er da so unter seiner Decke kauerte, hätte er eigentlich Angst verspüren müssen. Doch sämtliche Angst war aus seinem Leben gewichen. Das war ihm bereits auf dem Flug von New York nach Südafrika aufgefallen. Fliegen war nie sein Ding gewesen. Die Turbulenzen hatten ihm immer schon zu schaffen gemacht. Doch mit einem Schlag wurde ihm klar, dass er das alles überwunden hatte.
Er hatte es überwunden, weil er alles in den Sand gesetzt hatte. So hatte er sein ganzes Leben darauf hingearbeitet, sich den unmöglich geglaubten Traum vom Rockstar zu erfüllen. Dann, als dieser auf wundersame Weise Wirklichkeit geworden war, ließ er alles zurück.
Von diesem Augenblick im Flugzeug an, als er all seine Angst ziehen ließ, sollte der Suizid zu seinem permanenten Wegbegleiter und Versucher avancieren. Sich nicht länger vor dem Tod zu fürchten, war, wie sich herausstellte, ein großer Nutzen. Es erlaubte ihm, sich an alle denkbaren Orte zu begeben und sie zu untersuchen, ohne sich dabei auch nur im Geringsten um seine eigene Sicherheit zu scheren.
Er hatte seine Band, seinen besten Freund, seine Karriere und seinen Lebensunterhalt verloren. Einfach alles. Warum? Nur um der abstrakten Vorstellung, seine Existenz rechtfertigen zu können, hinterherzuhecheln?
Er war sich ja noch nicht einmal im Klaren darüber, ob er überhaupt ein Frontman sein wollte. Offenbar war er in dieser Hinsicht ein Naturtalent, aber er brauchte es einfach nicht. Alle großartigen Frontmänner benötigten das Rampenlicht. Die Bewunderung. Die Bestätigung. Wollten angehimmelt werden. All dies schien eine Lücke in ihren Herzen auszufüllen.
Er selbst benötigte manche dieser Dinge, aber nicht in diesem Ausmaß und nicht auf eine herkömmliche Art und Weise. Wenn er als Junge davon träumte, in seinen Lieblingsbands spielen zu dürfen, war er nie der Frontman. Bei den Beatles war er George, und Keith bei den Stones. Bei den Kinks identifizierte er sich mit Dave. Bei den Yardbirds mit Jeff und mit Pete bei The Who.
Es war ihm ein Genuss, Leute zu beobachten, etwa in einem Straßencafé, wo er einfach nur sein konnte. All das war passé, wenn man im Mittelpunkt stand. Dann wurde man ununterbrochen umringt. Man wusste nicht, ob man nicht ständig unter Beobachtung stand. Dieser Gedanke brachte seine Klaustrophobie zum Vorschein.
Trotzdem stand er nun im Mittelpunkt, auch wenn er sich unter einer Decke versteckte. Das war schon ein seltsamer Zustand. Irgendwie komisch, aber auch sehr befreiend. Die Situation brachte eine überraschende Klarheit mit sich. Plötzlich kam es ihm so vor, als hätte er endlich seine Bestimmung gefunden.
Wie jeder Held der griechischen Mythologie, der sich gegen unvermeidbare tragische Resultate sträubte, begab er sich auf seine Reise. Seine Odyssee. Unnachgiebig, ruhig und, ja, ohne Furcht. Auf irrationale Weise wildentschlossen, sie zu meistern.
Der Wagen hielt an.
Sie befanden sich nun … ja, wo denn eigentlich? Alle Häuser sahen gleich aus. Acht Mitglieder des Exekutivausschusses der AZAPO, jedes mit einer Machete am Hosenbund, warteten bereits, um ihn ins Kreuzverhör zu nehmen.
Er sah hoch durch den Dunst, der die Township in einen ebenso trostlosen wie undurchdringlichen Nebel hüllte, hinauf in den kristallklaren afrikanischen Himmel. Hatte das Leben einst hier seinen Ausgang genommen? Oder endete es hier?
Der ewige Geist der Weltenmutter flüsterte in sein Ohr.
Dein Schicksal erwartet dich!
Er lächelte seine Kompagnons an, um ihre Nerven zu besänftigen, und zuckte gelassen mit den Schultern.
Dann trat er ein …