Titel

Andreas Pflüger

RITCHIE GIRL

Roman

Suhrkamp

Widmung

Für meinen wichtigsten Menschen

Motto

KEINE, DIE SO GING WIE ICH

Jenen Boden zu berühren könnte eine Heimkehr sein

In demselben Kleid aus Asche wie am Tag, an dem ich ging

Doch bis hoch zum Wolkenturm, in dem mein Bildnis hing

Wären’s tausend Schritte und ein Atemzug aus Stein

Keinem, den ich kannte, ist ein Hauch von mir geblieben

Ich will stehen, wo sie starben, will weinen, wo sie lachten

Begreifen, wer sie waren, an wessen Grab sie wachten

Ganz als sei ich noch dieselbe, so als könnt ich wieder lieben

Wär’s allein ein Ozean, der mich jetzt davon trennt

Alles, was vom Abschied blieb: ein Stich, ich spürt’ ihn kaum

Ein Koffer mit Gebeten, ein Kuss, und sei’s im Traum

Und mich nicht bitter sehnen, dass einer mich noch kennt

In den dunklen Raubtierstunden war es Trost, fast Glück

Zu wissen, was mich gehen ließ aus jenem kalten Land

Als könnt ich dereinst wiederkehr’n, weil ich all dies verstand

Doch keine, die so ging wie ich, kommt einfach so zurück

Mae West

Diese eine Welle würde sie nie vergessen. Noch bevor der taumelnde Bug des Schiffes sie rammte, fühlte Paula sie heranrollen, eine Walze von seelenloser Urgewalt, geschmiedet nur für den Moment, in dem sie den Stahl der U.S.S. Coleman zum Beben und Knirschen brachte und das zweite Unterdeck in ein Panoptikum von zitternden Fratzen verwandelte.

Sie starrte in die Augen von Violet auf der Pritsche über ihr, dachte, wie kann das sein, und wurde gewahr, dass sie auf dem Boden lag. Violets Mund klappte zu einem Schrei auf, stumm, weil Paulas Herzhämmern alles andere übertönte; die mollige Violet, gleich alt, keine dreißig, die am Pier in New Jersey von den Großeltern und einer Tante verabschiedet worden war, so innig, dass Paula, die kein Lebewohl bekam, von niemandem, einen Stich gespürt hatte.

Als der Schiffskörper wie eine Glocke dröhnte, auf die King Kong eindrosch, und die zweite Welle, jetzt aus nackter Angst, durch die sechshundert Menschen raste, die man in drei Lagen übereinandergestapelt hatte, füllte Violets weit auf‌klaffender Mund Paulas ganzes Blickfeld aus.

Sie vermeinte, in der Luft zu hängen, eine schwebende Jungfrau in einem Zaubertrick des Meeres. Sie wollte sich an einer Strebe festhalten, streckte sich, griff ins Leere. Sie ruderte mit den Armen, flog gegen ein Heizungsrohr.

Etwas schlug nach ihr. Es wurde stockfinster, dann flackerten die zwei roten Funzeln wieder, erloschen, flackerten. Vor Paula zuckten Gesichter von Männern auf, wirre Blicke, eine schneeweiße Faust, die den Schaft eines Bajonetts umschloss; Soldaten, die noch beim Kohlenbunkern in Gibraltar, wo der Hafen schwarz von britischen Kriegsschiffen gewesen war, an der Reling gestanden und Mädchen hinterhergepfiffen hatten, in den Mundwinkeln lässig Kippen.

Aber jetzt, nach drei Tagen Sturm und der dauernden Angst vor deutschen U-Booten, sah Paula in allen Augen, was auch sie wie eine Atemnot quälte: die Frage, ob sie in diesem Krieg, den die meisten bloß aus March of Time kannten, je ankämen oder ob sie hier unten sterben mussten, in diesem Gefängnis, das von Ungeziefer starrte, in dem es nach Diesel, Schmieröl, klammer Kleidung und Erbrochenem stank.

Als sie aus einem Dämmer hochschreckte, Bewusstlosigkeit näher als Schlaf, war es vorbei. Sie wusste nicht, ob Tag oder Nacht war. Das Schiff schaukelte sachte. Dass sie Fahrt machten, erkannte Paula nur am Stampfen der Motoren. Violet, die schon beim Ausrücken aus Camp Ritchie resolut erklärt hatte, dass sie auf gar keinen Fall ungeschminkt in den Krieg ziehen würde, malte die Lippen nach. Aber ihre Augen waren stumpf, noch in der Hölle der letzten Tage.

Zum ersten Mal seit Ewigkeiten wagte Paula sich nach oben. Vom Fallreep warf sie einen Blick in das zweite Quartier, auch dort sechshundert, apathisch. Draußen herrschte tiefe Nacht. Soldaten lehnten an der Reling. Alle hatten Mae West am Hals, die Schwimmweste, die niemand ablegen durfte, nicht einmal beim Schlafen. Die Männer flüsterten, noch zerschlagen vom tagelangen Beten.

Sterne so fett wie mit Fingerfarben an den Himmel gemalt, aber nirgends Land. Paula saugte die klare Salzluft ein, um die Angst nicht mehr zu schmecken. Sie spürte Blicke. Vermutlich waren die Frauen des Women’s Army Corps, die sich an Bord befanden, für diese Männer die letzten Amerikanerinnen, die sie auf lange Zeit zu Gesicht bekamen. Sie verstand das. Doch jetzt wollte sie für sich sein. Sie sehnte sich danach, den widerwärtigen Geruch loszuwerden, wollte ihr Zittern nicht hinter Geplänkel verstecken.

Erneut fragte sie sich, wohin man sie bringen würde. Allein die höheren Offiziere kannten das Ziel. Einem mickrigen First Sergeant wie ihr blieben nur Mutmaßungen. Bei ihrem letzten Deckaufenthalt war es nach Osten gegangen; das konnte alles und nichts bedeuten. Vielleicht Malta, ein sonniger Posten in dem dortigen Hauptquartier, das die amerikanisch-britischen Operationen im Mittelmeerraum koordinierte.

Oder Sizilien, wo der Krieg längst vorbei war.

Wenn sie Pech hatte: Griechenland. Dort kämpften die Engländer gegen kommunistische Partisanen, wie Paula in Camp Ritchie erfahren hatte. Die Alliierten tauschten das Personal je nach Bedarf; keiner wurde nach einer Wunschliste gefragt.

Paula sah zum Himmel und suchte den Polarstern, rätselte, welcher es war. Violet wüsste es. In Ritchie waren die Männer in Wetterbeobachtungen geschult worden, und Violet war für das Unterrichtsmaterial zuständig gewesen. Obgleich sie eine Zeit auf derselben Stube gelegen hatten, kannten sie einander nur flüchtig. Paula wusste wenig mehr von Violet, als dass sie aus Texas stammte und ihr Mann bei den Bombern im Pazifik war. Als Dexter ausrücken musste und Violet sich in Galveston an der Bushaltestelle von ihm verabschiedet hatte, war sie von einer sympathischen Frau in der Uniform des Women’s Army Corps angesprochen worden. Die Frau hatte sie gefragt, ob sie helfen wolle, ihren Mann schnell heimzubringen. Kaum hatte Violet genickt, war sie um eine Unterschrift gebeten worden. Sie hielt es für eine Art Petition, wurde indes eines Besseren belehrt, als sie sich kurz darauf in Ritchie wiederfand.

»Trotzdem Schwein gehabt«, hatte sie erklärt, nachdem sie ihre Geschichte dort zum Besten gegeben hatte. »Als ich eine Woche hier war, kam Hurricane Surprise auf einen Sprung in Galveston vorbei und hat unser Haus zum Baden in die West Bay geschickt. Stellt euch vor, ich wäre drin gewesen; ich kann doch gar nicht schwimmen.« Sie war eine von denen, die sich über den verrückten Jitterbug, den ein Leben tanzen konnte, keine großen Gedanken machten. Violet und Paula waren die einzigen Schreibkräfte an Bord; die anderen Frauen gehörten dem Schwesterncorps an, GI Nightingales. Etliche würden auf der Coleman bleiben, um bei der Rückfahrt die Verwundeten zu pflegen, die sie in ihrem Zielhafen aufnähmen. Die Übrigen kämen sicher an die Front.

Paula dachte an Sam, ihren besten Freund in Ritchie. Wie mochte es ihm ergangen sein? Ende November hatte sie einen Brief von ihm bekommen, Zeilen, bei denen er hoffen musste, dass sie durch die Zensur gehen würden. Ritchie besaß dafür eine eigene Dienststelle, und Sam konnte nicht wissen, dass Paula inzwischen eine von denen war, die in der Feldpost alles schwärzten, was Hinweise auf das jeweilige Einsatzgebiet und die dortige Lage hätte geben können. Ihre Vorgesetzten glaubten, dass Frauen ein scharfes Gespür dafür hätten, verborgene Botschaften in den Briefen zu entdecken.

Als ob Schnüffeln uns im Blut läge, hatte Paula gedacht.

Aber es ließ sich nicht leugnen, sie war sehr gut darin. Auch Sam hatte ihr einen Hinweis hinterlassen, als er schrieb, dass das Essen erstaunlich lecker ist, fast wie an dem Tag im Camp, als man uns diesen Vortrag über Sexualhygiene hielt und wir so lachen mussten. Es hatte Paula verraten, dass Sam in Frankreich war, denn an besagtem Abend hatte ihr neuer Koch, ein Franzose, der zuvor Küchenchef im Waldorf Astoria gewesen war, ein fulminantes Cassoulet aufgetischt, und Ritchie hatte sich für eine Stunde in einen fast lebenswerten Ort verwandelt.

Die Arbeit in der Zensurstelle war nur ein kleiner Teil von Paulas Arbeit gewesen. Sie beherrschte fließend Französisch und Deutsch; vor allem hatte sie Nachrichten der Résistance übersetzt, außerdem Funksprüche von Widerstandsgruppen wie der Roten Kapelle. Doch am härtesten war die Zensur der Feldpost für die in Ritchie stationierten Frauen, deren Männer im Krieg kämpften. Häufig hatte sie schlimme Nächte, wachgehalten von der Frage, ob sie das Recht hatte, ihnen zu unterschlagen, wie es um ihre Liebsten stand. Das waren dieselben Frauen, die sie aufsuchen musste, wenn deren Antwortbriefe nicht patriotisch genug waren. Sie hatte ihnen einzuschärfen, keine Sorgen zu erwähnen, mochten sie noch so bedrängend sein, nie zu klagen, ihre Männer mit keinem Leid zu belasten, sondern zu betonen, dass an der Heimatfront alles gut war.

Vor diesen Frauen hatte sie den Blick senken müssen. Alice, der Schwiegervater an Krebs erkrankt. Florence, deren Sohn wegen des Diebstahls von lachhaften zwei Dollar vor Gericht sollte. Majorie mit der Fehlgeburt. Viele mehr. Manche hatten Paula gehasst. Und es stand ihnen zu. Darum hatte sie irgendwann begonnen, selbst zu entscheiden, was sie schwärzte und was nicht. Aber an ihren Träumen hatte es nichts geändert.

Die Coleman pendelte die Dünung aus, eine Kinderwippe, ganz so, als wollte sie zwölf‌hundert junge Menschen in einen sorgenlosen Schlaf wiegen. Die Sterne waren das einzige Licht auf dem verdunkelten Schiff. Paula schlang die Arme um ihren Körper, fror trotz der warmen Brise.

Als sie wieder unter Deck ging, hörte sie einen GI zu einem anderen sagen: »Ich wette: Norditalien. Die Nazis haben aus den Alpen eine verdammte Festung gemacht, und wir werden dort ins Feuer geschmissen.«

Im Bauch des Schiffes wusste die Zeit nichts mit sich anzufangen, trödelte saumselig vor sich hin. Am Morgen reinigten die Frauen des Schwesterncorps das Quartier mit Kernseife, bis nichts mehr an die letzten Tage erinnerte, außer dem sauren Geruch. Paula half mit, froh, etwas tun zu können, sei es noch so eklig. Keiner der Männer rührte auch nur einen Finger. Sie wären eher auf ihrem eigenen Erbrochenen ausgerutscht, als einen Schrubber in die Hand zu nehmen. Das ist Frauenarbeit, sagten ihre stoischen Mienen, während sie Comics lasen und Karten spielten. Ihr kriegt einen lockeren Job in der Etappe, aber wir riskieren für euch unser Leben.

Erneut war Entlausungs-Appell, zum dritten Mal seit New Jersey. Ein Corporal quetschte mit einer Art Pferdespritze ein Desinfektionsmittel in den Kragen der Bluse, in Ärmel, Stiefel, zuletzt in den Rocksaum. Jetzt juckte es mehr als vorher.

Paula verstand nicht, dass viele wieder essen konnten. Sie musste sich zu jedem Bissen zwingen. Doch das Wenige, was sie hineinquälte, behielt sie wenigstens bei sich. Unten war es schrecklich heiß und stickig. So viele Menschen auf engstem Raum waren lauter als der Times Square. Wie sie die Männer beneidete, die im Unterhemd waren; manche nicht mal das.

Für jeden Atemzug an Deck war sie dankbar. Noch immer Wasserwüste. Im Heckwirbel balgten Möwen um Abfälle, am Himmel ab und zu ein Brummen hinter der Kimm. Auf‌klärer vermutlich, aber wohl keine deutschen. Die Alliierten besaßen längst die Lufthoheit, wie über Lautsprecher angesagt worden war, um die Moral zu stärken.

Einmal, in tiefer Nacht, hörte sie Violets leise Stimme über sich: »Bist du wach

»Ja.«

Violet kletterte herunter und setzte sich neben Paula. Ihre Augen waren blank, sie hatte geweint. »Du warst doch auf der Poststelle«, flüsterte sie. »Kam es da vor, dass ihr Briefe nicht an uns weitergeleitet habt? Also, nicht einmal mit schwarzen Stellen?« Als Paula sich ihre Antwort noch zurechtlegte, stieß Violet hervor: »Ich habe Dexter jede Woche geschrieben, aber es ist bald ein halbes Jahr her, dass er zuletzt geantwortet hat. Und ich weiß nicht, ob … ob …«

»Wenn ihm etwas passiert wäre, hättest du es ganz sicher erfahren«, sagte Paula. »Sowas wird nicht zurückgehalten.«

»Das meine ich ja nicht«, brachte Violet heraus. »Er ist auf Hawaii stationiert. Ich habe mal Aufnahmen gesehen, in der Kinowochenschau. Dort scheint es ganz ungezwungen zuzugehen. Die Frauen in dem Film waren …« Sie schluchzte auf. »Ich weiß ja, dass ich keine Schönheit bin. Eigentlich habe ich nie verstanden, wieso Dexter mir den Hof gemacht hat.«

Paula verlieh ihrer Stimme Festigkeit. »Wir hatten doch die Anweisung, Post aus Hawaii besonders streng zu behandeln, weil da so viele Japaner sind«, flüsterte sie. »Jeden Satz haben wir fünfmal durchkauen müssen. Manchmal war am Ende fast alles schwarz, und der Captain hat dann gemeint: ›Den lassen wir verschwinden, sonst denkt seine Frau noch, er hätte wer weiß was geschrieben.‹«

Violets Augen trieben im Tränenwasser. »Ach so

»Das muss unter uns bleiben«, raunte Paula. »Ich dürfte dir das gar nicht sagen.«

Im ersten Moment fühlte die Lüge sich falsch an, aber als sie Violets glückliches Gesicht sah, setzte Paula hinzu: »Ich kann mich sogar an einen langen Brief von Dexter erinnern. Er liebt dich sehr und vermisst dich.«

Ganz gleich, wie es um die Ehe stand: Wer im Krieg nichts zum Festhalten hatte, stürzte ins Nichts. Sie wusste das genau. Und auch, dass es bei ihr so sein würde.

Purple Heart Valley

Morgens weckte sie das Gebrüll des Master-Sergeant-Gorillas. »Alle raus! Marschgepäck fassen! Frauen zuerst

Sie hatten nicht einmal Zeit, sich notdürftig zurechtzumachen, wankten an Deck. Ein englisches Geschwader jagte am grauen Himmel über sie hinweg, so tief, dass Paula die blauen Auspuffabgase sah. Sie ankerten eine Viertelmeile vor einem Hafen oder dem, was einmal ein Hafen gewesen war. Zuerst glaubte sie, dass Stahlbarrieren aus dem Becken ragten, dann erkannte sie ausgebrannte Schiffsrümpfe mit zerfetzten Aufbauten, die Türme von U-Booten. Ein riesiger Flugzeugträger versperrte die Einfahrt, bis knapp unters Deck ins Wasser eingesunken. An der Kommandoinsel prangten die italienischen Farben, darüber stand Aquila.

Sie sprach einen Major an. »Verzeihung, Sir, wo sind wir

»Genua.«

Bärtige Männer standen auf Fischerbooten und begrüßten sie mit ratternden Salven aus Maschinenpistolen. Sie waren in verwegenem Räuberzivil, trugen rote Halstücher, reckten die Fäuste und lachten. Es war drückend schwül, aber einer, klein und knochig wie Stan Laurel, trug eine Pelzmütze, als käme er eben aus Stalingrad. Von den Quais hingen Krangerippe halb ins Wasser, ihr Stahl verbogen von gewaltiger Hitze. Dahinter sah Paula Schutthügel emporwachsen, einst Häuser, Fabriken. Rauchsäulen standen am Horizont.

Es roch wie damals, an dem Tag des großen Feuers, als ihr Bildnis zu Asche wurde.

Sie hörte zwei Offiziere: »Ist der Schrottplatz von uns

»Nein, das waren die Tommies; den Träger haben die Jerrys gesprengt, bevor sie vor drei Tagen getürmt sind.«

Befehle schnarrten aus den Lautsprechern: »Am Fallreep Gasse freilassen! Frauen in die erste Reihe

Paula sah Barkassen in einem Zickzackkurs auf die Coleman zuhalten, derart überladen, dass sie bei stärkerer Dünung vollgelaufen wären. Dann erkannte sie amerikanische Uniformen. Männer hingen halb überm Bug und dirigierten vorsichtig.

»Der Hafen ist vermint«, raunte einer hinter ihr.

Die erste Barkasse wurde vertäut. Mit den Winden wurden Verwundete an Bord gehievt. Sie waren bei Bewusstsein, aber teilnahmslos. Als man sie an den Frauen vorbeitrug, verstand Paula, warum man sie in der ersten Reihe haben wollte. Diese Männer sollten ein weibliches Wesen sehen, ein Lächeln. Also strahlte sie wie die anderen übers ganze Gesicht und machte aufmunternde Bemerkungen. »Sag nicht, dass du verheiratet bist … Dich päppeln wir schon wieder auf … Na, lädst du mich heute Abend auf einen Drink ein? … Hallo, Großer, bist du der Bruder von Errol Flynn

Der Letzte war ein halbes Kind, beide Hände amputiert, die Verbände an den Stümpfen schwarz. Es schnürte ihr das Herz ab, als sie sagte: »Wegen so einer Schramme willst du heim

Die Parade der Sanitäter war durch irgendetwas ins Stocken geraten, und der Junge sah zu Paula hoch. Das linke Auge war von Sekret so verklebt, dass er es nicht auf‌bekam. In den eingefallenen Lippen war kein Blut mehr. Sie beugte sich zu ihm, küsste seine eiskalte Stirn. Er flüsterte etwas.

Paula ging mit ihrem Ohr nah an seinen Mund.

»Sagen Sie das meiner Verlobten.«

Sie schämte sich für ihr Zittern, schämte sich, dass sie ihre Tränen wegwischen konnte, dass sie einen lächerlichen Sturm für den Krieg gehalten hatte. Violet gab ihr einen Schubs; sie hatten Befehl, eine Barkasse zu besteigen. Schulter an Schulter kauerten die Frauen auf ihren Seesäcken, sprachen nicht. Der Minenlotse bestimmte den Kurs mit heiseren Rufen. Auf dem Wasser schwamm gelber Schaum. Ein Schachspiel, eine Bibel, verschmortes Bakelit, aufgedunsene Tierkadaver, Fetzen von Uniformen, immer wieder Leichen.

Als sie sich den Partisanenbooten näherten, hörte Paula sie singen, ein schmissiges Kampflied. Doch sie musste an einen traurigen Song von Sinatra denken, dessen Titel ihr nicht einfiel. The loveliest day, the brightest sun is like a night without a star. These are the lonely, gloomy hours like only in love or at war. Die Männer winkten und warfen den Frauen Kusshände zu. Paula wollte lächeln, aber ihre Mundwinkel waren starr.

»Was denkst du, wo wir hinkommen?« f‌lüsterte Violet.

Sie zuckte die Schultern, es war ihr gleich.

Am Pier saßen hunderte amerikanische Soldaten auf ihren Tornistern und warteten mit grauen, eingefallenen Gesichtern darauf, endlich eingeschifft zu werden. Sie sahen aus, als fielen sie um, wenn sie stehen müssten.

Paula ging von Bord. An Land gab es kein heiles Stück Holz oder Metall, keinen Stein, den nicht Maschinengewehrgarben beharkt hätten. Selbst der Himmel hing in Fetzen. Auf einem deutschen Militärtransporter waren Leichen wie Klafterholz aufgeschichtet, alle nackt, darunter Frauen. Fliegengeschmeiß hatte sich auf ihnen niedergelassen. Paula würgte. Sie musste wegsehen und sich ein Taschentuch vor die Nase halten.

Der Master Sergeant brüllte: »Schwesterncorps zu mir

Als die anderen sich in Reih und Glied aufstellten, standen Paula und Violet verloren da, unsicher, wohin sie sich wenden sollten. Dann hielt ein »Pile Car« neben ihnen, ein bulliger GI sprang aus dem Jeep. Er hatte die Ärmel hochgekrempelt; das Gesicht war wie aus grobem, dunklem Lehm gebrannt.

»Ist eine von Ihnen Paula Bloom?« fragte er.

»Ich.«

»Harvey Davis, Ma’am. Ich habe Befehl, Sie mitzunehmen.« Er schnappte sich kurzerhand ihren Seesack und warf ihn auf die Rückbank des Jeeps.

»Sagen Sie mir zuerst, wo es hingeht«, forderte Paula.

Davis verschränkte die Arme. Zwar war er ein einfacher GI, ein Dogface, aber als Frau durfte sie ihm keine Befehle erteilen, selbst wenn sie Colonel wäre.

»Geh schon«, sagte Violet. »Und schreib mir mal.«

Sie umarmten einander; Fremde, und doch kannten sie in diesem Land sonst niemanden. Als sie abfuhren, wandte Paula sich noch einmal um, sah Violet winken, plötzlich nicht mehr pummelig, jetzt ganz klein und zart.

Eine halbe Stunde oder länger kurvten sie kreuz und quer in der Hafengegend herum. Davis suchte seinen Weg auf Straßen, die immer wieder durch Schutt so eng geworden waren, dass der Jeep kaum hindurchpasste und sie an Gestein, Beton, rostigen Eisenstreben langschrammten. Manchmal ragte ein Arm aus Trümmern, ein Bein; nackte, ausgebleichte Knochen. Oft musste Davis stoppen, umdrehen, weil Geröll alles blockierte. Menschen sahen sie kaum, und wenn, dann krochen sie in der Verheerung herum, durch Gelump, Unrat, Schrott, und suchten irgendetwas. Einmal, mitten auf der Straße, eine Madonna ohne Kopf. Wie vom Himmel gefallen.

Davis bremste hart. Vor ihnen drängte eine zeternde Meute aus dem Torso eines Depots. Sie hatten lauter unnütze Dinge ergattert: Bügeleisen, Essgeschirr, Putzeimer, Besen. Ein abgemagerter Mann stellte einer alten Frau ein Bein. Er wollte ihr einen Staubwedel aus den Händen winden und trat ihr, als sie die Beute wimmernd verteidigte, so lange gegen den Kopf, bis er das Utensil hatte. Er rannte fort, blieb stehen, starrte es an, schmiss es achtlos weg. Die Menschen stießen Triumphgeheul aus, das wie Wehklagen klang. Einige ließen ihre Eroberungen fallen, stürmten mit geballten Fäusten auf den Jeep los. Davis bleckte gelbe Zähne. Er stieß zurück, wendete tollkühn. Den Revolver steckte er erst weg, als das Gebrüll verklungen war. Paulas rechte Hand tat weh. Sie hatte ihre Fingernägel so tief hineingegraben, dass es blutete.

Dann, endlich, lag die Stadt hinter ihnen. Die kurvige Landstraße war unbeschädigt bis auf tiefe Rillen von Panzerketten. Dörfer krallten sich an die Hänge, auf den Weinbergen waren die Reben verdorrt. Als Paula einen Blick zurückwarf, sah sie das graue Meer, Kriegsschiffe am Horizont. Lauter unsinnige Gedanken jagten durch ihren Kopf. Sie fragte sich, ob Albert Einstein je in Italien gewesen war; ob man auf dem Rasen vor dem Weißen Haus noch picknicken durfte; wo Otto Dix jetzt sein mochte; dass sie als Frau bei einer Gefangennahme nicht nach dem Haager Abkommen behandelt werden müsste.

Paula bemerkte, dass Davis auf ihre Beine starrte, und zog den Rock glatt. »Genießen Sie die Aussicht, Soldat

Er grinste. Aber mehr aus Unsicherheit.

»Wo kamen die Verwundeten her, die in Genua aufs Schiff gebracht wurden?« fragte sie.

»Von der 34ten.«

Drei Worte, als sei jedes weitere zu viel.

»Haben Sie Angst, dass ich Sie für einen Schwätzer halte

»Wir waren die Ersten, die nach England geschickt wurden, im Mai 1942«, sagte er. »Sie haben uns nach Algier gebracht. Dort haben die Vichy-Franzosen mit Acht-Achtern Scheibenschießen auf uns veranstaltet. Wir haben uns nach Tunesien vorgearbeitet, dabei sind über zweitausend verreckt. Im September 43 ging’s nach Salerno. Am Abend davor hieß es, die Italiener hätten kapituliert. Wir haben uns besoffen. Morgens sind wir ins Feuer von drei deutschen Divisionen gerannt. Von meinen Freunden war Jimmy der Einzige, der’s überlebt hat.« Davis’ Stimme klang ganz unbeteiligt. »Wir sind nach Norden und haben in gut sechs Monaten weniger als hundert Meilen Gewinn gemacht. In den Bergen konnte der Nachschub wegen dem vielen Geröll und Schnee nur mit Mauleseln rangeschafft werden. Der Schlamm hat die Zehen gefressen, nachts haben sich Hunde über die Toten hergemacht. Als wir damals ausgerückt sind, hat Jimmy zu mir gesagt: ›Kann sein, dass Krieg die Hölle ist, aber wir werden einen höllisch guten Krieg haben.‹ Jetzt liegt er in Purple Heart Valley, so haben wir eine von den Schluchten getauft.« Davis hielt Paula seine Old Golds hin. Sie lehnte ab, er klopfte eine aus der Packung. »Im Januar darauf sind wir im Schlachthaus von Monte Cassino gewesen. Es soll demnächst einen Film darüber geben, stand in Stars and Stripes. Mit einem Robert Mitchum; nie von dem gehört.«

»Er hat in Thirty Seconds Over Tokyo mitgespielt.«

»Kann er was

»Traurig gucken.«

»Dann ist er der Richtige.« Davis hielt seine Zigarette, wie Mitchum sie halten würde. »Im Juni haben wir den Stoß gegen Rom angeführt, auch dort waren wir beim Sterben die Ersten. Der General hat ans Kriegsministerium geschrieben und verlangt, dass wir heimdürfen. War reine Papierverschwendung. Vorgestern ist unser Konvoi neunzig Meilen südlich von hier in eine Sprengfalle der Rothemden gebrettert. Haben Sie den Jungen ohne Hände gesehen

Paula nickte.

»Das war Benny Lawrence. Kannte ihn drei Jahre, hab ihn nie lachen sehen.«

Es ging immer weiter in die Berge. In einem Tal das Wrack einer Vickers. Raben stiegen von der zerbrochenen Glaskanzel auf. Blaue und rote Pflanzen blühten. Sie wusste nicht, welche, kannte sich mit der Natur nicht aus. »Wieso soll ich zur 34ten, hat man Ihnen das gesagt?« fragte sie.

»Nein. Und ich kutschiere Sie nicht zur 34ten, sondern zum IV Corps, steht vor Mailand; dort sind vorgestern die Jerrys vor den Partisanen stiften gegangen. Was können Sie denn

»Tippen und übersetzen.«

»Sie haben einen Akzent«, sagte Davis. »Deutsch

»Ja. Mein Vater war Amerikaner.«

»Meiner war Wolgadeutscher, hat sich von Hans Drübnitsch in Harold Davis umbenannt. Mein zweiter Vorname ist Fritz, von meinem Großvater.« Er wechselte ins Deutsche. »Ich bin aus Hastings in Nebraska, dort ist Deutsch quasi Amtssprache. Wie isses so im Teutoburger Wald

»Kalt.«

»Kälter als in Nebraska wird’s nicht sein.«

Auf einmal verlangsamte er das Tempo. Aus dem Unterholz tauchten barfüßige Kinder auf, zwölf oder dreizehn Jahre alt. Karabiner schlackerten von den dürren Schultern, einer hatte einen viel zu großen Wehrmachtshelm auf dem Kopf.

Paula wurde heiß, als sie sah, dass der Mund des Jungen rot verschmiert war. Erst als er ihr unreife Kirschen aus einem verrotzten Taschentuch hinhielt, atmete sie aus. Dann sah sie die anderen Kinder auf der Lichtung. Sechs, auch mit Gewehren. Sie zielten auf einen Landser, der mit erhobenen Händen vor ihnen kniete. Tränen liefen übers verdreckte Gesicht. »Ich bin nur einfacher Soldat«, beschwor er die Kinder. Seine Stimme war von Angst zerschlagen. Sie musterten ihn neugierig, verstanden kein Wort. »Ich habe eine Frau und zwei Söhne, so alt wie ihr. Sie heißen Jan und Martin. Wartet, ich zeige euch ein Foto.« Überlangsam griff er an seine Brusttasche. Die Kinder schossen. Sie durchwühlten die Kleidung nach Brauchbarem, ohne nachzuschauen, ob der Mann noch lebte. Einer fand das Foto, warf es weg.

Davis gab Gas. Nach Meilen meinte er: »Bin kein Nazi. Das wird Hitler auch schwören, wenn er auf den Stuhl kommt.«

Einige Male musste er wegen Bombenkratern ins Gelände ausweichen. Dann öffnete die Landschaft sich zu einer Ebene, die Schnellstraße war noch nass von einem Starkregen. Paula sah ein Schild im Graben: Milano 35. Sie hörte dunkles Grollen, das anschwoll, bis der ganze Jeep vibrierte. Vor ihnen kam ein Panzerkonvoi in Sicht. Auf den Shermans stand Old Ironsides. Sie waren mit Pin-ups von Betty Grable, Rita Hayworth, Jean Harlow beklebt. MG-Schützen dämmerten im infernalischen Donner, auf ihren Gesichtern eine Melasse aus Schweiß und Modder. Andere streiften Paula mit ausgelaugten Blicken. Alle trugen schwarze Armbinden.

»Was bedeuten die Armbinden?« fragte sie.

»Roosevelt ist tot«, sagte Davis. »Wussten Sie das nicht

Paula war sich nicht sicher, ob sie weinte, aber es fühlte sich so an. »Wann?« brachte sie heraus.

»Am Zwölften. Hirnschlag, hieß es.«

Sie schwiegen bis zu den ersten Ausläufern der Stadt, einem zerschossenen Castell, Industrieanlagen mit kalten Schloten, und erreichten endlich das Feldlager des IV Army Corps, drei Meilen außerhalb Mailands.

Davis übergab Paula an einen Corporal, der ihr eine Pritsche in einem großen Zelt zuwies, ohne ihr sagen zu können, wozu sie hier war.

»Sorry, Ma’am, ich soll Ihnen nur Quartier beschaffen.«