Bindung und psychische Störungen
Ursachen, Behandlung und Prävention
Herausgegeben von Karl Heinz Brisch
Klett-Cotta
Die Beiträge von Kirsten Hauber, Marinus H. van IJzendoorn, Alessandro Talia und Björn Siepe sowie Kate White wurden von Ulrike Stopfel aus dem Englischen übersetzt.
Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.
Klett-Cotta
www.klett-cotta.de
© 2021 by J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart
Alle Rechte vorbehalten
Cover: Bettina Herrmann, Stuttgart
unter Verwendung einer Abbildung von © adobe stock/terovesalainen
Gesetzt von Eberl & Kœsel Studio GmbH, Altusried-Krugzell
Gedruckt und gebunden von Friedrich Pustet GmbH & Co. KG, Regensburg
ISBN 978-3-608-98435-4
E-Book ISBN 978-3-608-11665-6
PDF-E-Book ISBN 978-3-608-20434-6
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Vom 11. bis 13. September 2020 wurde von INTERPLAN Congress, Meeting & Event Management AG in München unter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Dr. med. Karl Heinz Brisch eine internationale Konferenz mit dem Titel »Bindung und psychische Störungen. Ursachen, Behandlung und Prävention« (»Attachment and Mental Disorders. Causes, Treatment and Prevention«) durchgeführt; wegen der Covid-Pandemie und der damit verbundenen Kontaktbeschränkungen war die Konferenz als virtuelle Veranstaltung organisiert. Das Interesse an dieser Konferenz und die positiven Rückmeldungen waren für den Veranstalter außerordentlich ermutigend, so dass er die Beiträge dieser Veranstaltung mit der Herausgabe dieses Buches einer größeren Leserschaft zugänglich machen möchte.
Die Bindungstheorie gilt heute als eine der am besten untersuchten entwicklungspsychologischen Theorien. Sie kann wesentliche Ursachen dafür aufzeigen, wie psychische Störungen entstehen können, z. B. Angst- und Panikstörungen, ebenso Depressionen, Borderline-Störungen, posttraumatische Belastungsstörungen und andere psychopathologische Entwicklungen. Aufgrund vieler Längsschnittstudien der Bindungsforschung konnte die Entwicklung von psychischen Störungen von der Kindheit bis ins Erwachsenenalter nachverfolgt, transgenerationale Effekte konnten aufgezeigt werden. Aus diesen Erkenntnissen ergeben sich neue Möglichkeiten für Behandlungen von psychischen Störungen, die die Bindungsforschung stärker berücksichtigen. Auch die bindungsbasierte Prävention von psychischen Störungen konnte in Studien vielfach nachgewiesen werden, die durch Programme teilweise bereits in der Schwangerschaft ansetzt und auf diese Weise der Weitergabe psychischer Belastungen von der Eltern- an die Kindergeneration erfolgreich entgegenwirkt.
Die Konferenz hat sich umfassend mit Ursachen sowie Behandlungsmöglichkeiten im Kontext von Bindung und psychischen Störungen auseinandergesetzt. Führende, international renommierte Fachleute gaben Antworten auf Fragen im Rahmen der skizzierten Thematiken und stellten die neuesten Erkenntnisse und Ergebnisse aus ihren Studien dar, die uns für die Problematik sensibilisieren sowie aktuelle Entwicklungen, auch in Therapie und Prävention, aufzeigen sollen.
Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes haben ihre Vorträge aus der Konferenz niedergeschrieben und ausgearbeitet und für die Publikation zur Verfügung gestellt – dafür gilt ihnen ein großer Dank. Herzlich danke ich Frau Ulrike Stopfel, die wiederum, wie in den vergangenen Jahren, die englischsprachigen Beiträge in exzellenter Qualität übersetzt hat. Ein besonderer Dank gilt auch der hervorragenden Arbeit von Herrn Thomas Reichert, der die einzelnen Manuskripte rasch und sorgfältig editiert hat. Ich danke sehr Herrn Dr. Heinz Beyer sowie Frau Ulrike Wollenberg vom Verlag Klett-Cotta, die mit großem Engagement die Herausgabe dieses Buches beim Verlag ermöglicht und die rasche Herstellung gewährleistet haben.
Das Buch richtet sich an Ärzte und Ärztinnen aller Fachrichtungen sowie an Psychologinnen und Psychologen, Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten, Sozialarbeiterinnen, Pädagoginnen, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Jugendhilfe, Richterinnen und Richter, Umgangspflegerinnen und Umgangspfleger, zudem an alle, die mit psychischen Störungen in Begleitung, Beratung, Diagnostik und Therapie befasst sind. Ihr Engagement ist insbesondere dann gefragt, wenn auf dem Hintergrund von frühen Bindungserfahrungen entsprechende Dynamiken und schließlich sogar psychische Störungen entstehen.
Ich hoffe sehr, dass dieses Buch allen hilft, die im Kontext psychischer Störungen durch Begleitung, Beratung und Therapie sowie soziale Arbeit für Familien, Paare, Kinder, Jugendliche und Erwachsene tätig sind. Es soll auch denjenigen wichtige Anregungen geben, die mit der Prävention in Bezug auf Störungen in diesem Zusammenhang befasst sind, die Präventionsprogramme entwickeln bzw. entwickelt haben. Auf diese Weise könnten Störungen, die aus Problemen in der Bindungsentwicklung und traumatischen Erfahrungen entstanden sind, zeitig erkannt und eine primäre Prävention möglich werden. Solche frühen Hilfestellungen sind besonders dann notwendig und wichtig, wenn es zu Gewalt, Misshandlungen und Missbrauch gegenüber Kindern durch Erwachsene, aber auch zwischen den Bindungspersonen kommt.
Der Band gibt durch die Vielfalt seiner Beiträge aus Forschung, Klinik und Praxis einen guten Überblick über die Thematik und sorgt für zahlreiche Anregungen.
Karl Heinz Brisch
Das vorliegende Buch enthält eine Reihe von Beiträgen aus den Bereichen Forschung, Klinik und Prävention, die sich aus den verschiedensten Perspektiven mit dem thematischen Zusammenhang von »Bindung und psychische Störungen« auseinandersetzen.
Entsprechend werden sowohl Ergebnisse aus der Forschung vorgestellt als auch Erfahrungen aus der klinischen und therapeutischen Arbeit vermittelt, um die Möglichkeiten und die Voraussetzungen einer erfolgreichen Beratung und Therapie von Kindern, Jugendlichen, Erwachsenen und alten Menschen aufzuzeigen, in deren Entwicklung Bindungsprobleme eine gewichtige Rolle spielen.
An drei Beiträgen aus verschiedenen Therapieschulen wird deutlich, wie die Bindungstheorie für die therapeutische Arbeit nutzbar gemacht werden kann. Alexander Trost konzentriert sich in seinem Aufsatz »Bindungswissen für die systemische Praxis« auf die systemische Theorie und zeigt auf, wie Bindungswissen für die systemische Praxis Bedeutung gewinnen und in der Klinik angewandt werden kann. Thomas Schnell (»Bindung in der Verhaltenstherapie«) belegt, wie intensiv die Bindungstheorie inzwischen auch die kognitive Verhaltenstherapie beeinflusst hat und hier in verschiedenen therapeutischen Ansätzen Anwendung findet. Maria Teresa Diez Grieser (»Die Erfahrung von Sicherheit in therapeutischen Beziehungen durch Mentalisieren fördern«) verbindet das Konzept des Mentalisierens mit der Entwicklung von Bindung und psychischen Störungen. Sie stellt dar, wie sehr Bindungstraumatisierungen die Entwicklung eines gesunden Mentalisierens behindern können und wie dies zur Entwicklung von psychischen Störungen führt. In der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen muss dann erstmalig in der Beziehung zum Therapeuten das Mentalisieren erfahren und »neu erlernt« werden. Die Mentalisierungsbasierte Therapie hat inzwischen weite Verbreitung gefunden und basiert auf der Bindungstheorie.
Warum frühe Stresserfahrungen, insbesondere solche, die nicht verarbeitet werden, uns für psychische Erkrankungen anfällig machen, warum andererseits sichere Bindungserfahrungen zu einer psychischen Widerstandsfähigkeit führen können (Resilienz) und was dies alles mit der Entwicklung des Gehirns zu tun hat, vermittelt Nicole Strüber in ihrem Beitrag »Von der frühen Stresserfahrung zur psychischen Erkrankung« auf sehr anschauliche Art und Weise.
Besonders in Zeiten der Covid-Pandemie waren nicht nur einzelne Familien, sondern Menschen in vielen Gesellschaften weltweit in ihrer Gesundheit bedroht; auf der ganzen Welt starben Menschen durch das Virus, erkrankten so schwer, dass sie fast gestorben wären, und verloren geliebte Menschen durch SARS-Cov 2. Vor diesem Hintergrund beschäftigt sich Karl Heinz Brisch mit der Frage von »Bindungskrisen in Zeiten der Pandemie« und zeigt die Folgen wie auch mögliche Bewältigungsstrategien unter bindungsdynamischen Aspekten auf.
Die Bindungstheorie kann nicht nur gesunde Entwicklungen erklären, sondern hat auch einen eigenen Bereich geschaffen, der sich Entwicklungspsychopathologie nennt. Diese Wissenschaft wird seit vielen Jahren hervorragend von Marinus van IJzendoorn aus den Niederlanden vertreten, der für diesen Band einen Beitrag über »Bindung und Entwicklungspsychopathologie« verfasst hat. Vor dem Hintergrund jahrzehntelanger Forschung wird im Detail in Längsschnittstudien nachvollziehbar, wie sich während der kindlichen Entwicklung eine Psychopathologie herauskristallisiert und welche Rolle Bindungsbeziehungen und auch besonders traumatische Erfahrungen hierbei spielen.
Um sichere Bindungsentwicklungen auf den Weg zu bringen, sind körperliche, feinfühlige Berührungen und auch seelische »Berührungen« zwischen Menschen grundlegend. Diese haben große Auswirkungen auf die gesunde Entwicklung der Psychoneuroimmunologie, also des Zusammenspiels zwischen Psyche, neurologischer Vernetzung im Gehirn und der Entwicklung von Immunsystemen. In seinem Aufsatz »Körperlich-seelische Berührungen und deren Bedeutung für die psychoneuroimmunologische Entwicklung aus biopsychosozialer Sicht« kann Christian Schubert (mit Michaela Ott, Magdalena Singer, Karl Heinz Brisch) die komplexe Verbindung zwischen früher körperlicher und seelischer Berührung und Psychoneuroimmunologie sehr differenziert aufzeigen.
Wenn Kinder als Frühgeborene zur Welt kommen und ihr Leben damit beginnt, dass sie mehrere Wochen – oftmals unter lebensbedrohlichen Bedingungen – im Inkubator aufwachsen müssen, machen sie gänzlich andere frühe Erfahrungen als reif geborene Babys: Erfahrungen, die unter Umständen langfristige Auswirkungen auf ihre körperliche, soziale und emotionale Entwicklung, insbesondere auch auf die Bindungsentwicklung haben könnten. Carmen Walter (»Bindung, Frühgeburt und deren langfristige Auswirkungen auf die psychische Entwicklung bis zur Spätadoleszenz«) berichtet von einer besonderen Längsschnittstudie, die Frühgeborene vom Inkubator bis zum jungen Erwachsenenalter immer wieder unter Bindungs- und Entwicklungsaspekten nachuntersucht hat. Hier zeigt sich, dass bei ehemaligen Frühgeborenen in der späten Adoleszenz und im jungen Erwachsenenalter nochmals erneut große emotionale Schwierigkeiten auftreten können, die auf eine gewisse langfristig vorhandene emotionale Vulnerabilität hinweisen können. Eine intensivere psychosoziale und emotionale Versorgung der Frühgeborenen in ihren späteren Lebensjahren bis zum Erwachsenenalter sowie eine langfristige Unterstützung ihrer Bindungspersonen zur Verarbeitung des Traumas der Frühgeburt wären dringend notwendig.
Die Phase des Jugendalters ist unter Bindungsaspekten von besonderer Instabilität gekennzeichnet, weil mit dem Prozess der Ablösung und Autonomie frühe Bindungserfahrungen, besonders auch traumatische, wachgerufen werden können und zu erheblichen psychischen Symptomen einschließlich Borderline-Persönlichkeitsentwicklungen führen können. Kirsten Hauber (»Heranwachsende mit Persönlichkeitsstörungen und unsicheren Bindungsmustern in der Forschung und in der klinischen Praxis«) arbeitet und forscht auf diesem Gebiet und zeigt auf Basis ihrer Studie, welche Therapieansätze möglich und notwendig sind, um Jugendliche mit frühen problematischen Bindungserfahrungen, die in der Pubertät aufbrechen und zu Schwierigkeiten in der Adoleszenz führen, auf einen guten Weg zu bringen.
Manchmal erleiden Kinder in ihren Familien lebensgefährliche Krisen und benötigen frühzeitig eine fachspezifische Krisenintervention, um psychopathologische Entwicklungen zu verhindern, besonders dann, wenn ihre Bindungspersonen selbst von der familiären Krise traumatisiert wurden und sie aus diesem Grund ihren Kindern keinen ausreichenden Schutz und keine Sicherheit vermitteln können. Tita Kern und Simon Finkeldei (»KinderKrisenIntervention nach APSN«) stellen ein neues traumapräventives Programm der Frühintervention vor, das hilft, präventiv schwerwiegende Symptombildungen, die sich bis zum Vollbild einer chronifizierten posttraumatischen Belastungsstörung bei Kindern und Jugendlichen entwickeln können, dadurch zu verhindern, dass sehr frühzeitig bindungs- und traumasensibel interveniert wird.
Frühe Bindungsstörungen und Traumatisierungen haben nicht nur einen Einfluss auf die psychopathologische Entwicklung, sondern sie können Menschen in ihren beruflichen Feldern sehr negativ beeinflussen, so z. B. auch in ihren gesellschaftlichen Denkmustern. Herbert Renz-Polster (»Politik auf dem Wickeltisch«) zeigt auf, welche Rolle die frühen Bindungserfahrungen bei der Entstehung autoritärer Gesinnungen in Gesellschaften spielen und wie einzelne politische Führer und politisch Verantwortliche ihrerseits aufgrund ihrer frühkindlichen Entwicklung eine autoritäre Politik vertreten und hier sozusagen auf einem gesamtgesellschaftlichen Boden frühe Traumaerfahrungen reinszeniert werden, sehr zum Schaden ganzer Gesellschaften. Hier wird deutlich, welch großen Einfluss die frühen Bindungserfahrungen auch im Hinblick auf Prävention, gesellschaftliche Entwicklung und Politik haben.
In der psychotherapeutischen Situation treffen die Bindungserfahrungen von Therapeutin/Therapeut und Patienten und Patientinnen aufeinander. Es spielt somit eine große Rolle, in welcher Weise das Bindungssystem von allen in der therapeutischen Situation Beteiligten aktiviert wird und wie es fruchtbar sozusagen für den therapeutischen Prozess eingesetzt werden kann, wie Alessandro Talia und Björn Siepe in ihrem Beitrag »Von der Wiege bis in den Behandlungsraum. Zur Manifestation von Bindungsmustern in der Psychotherapie« verdeutlichen.
Inzwischen wurde intensiv – auch durch Längsschnittstudien – erforscht, wie die Entwicklung von Borderline-Persönlichkeitsstörungen mit frühen Trauma- und Bindungserfahrungen zusammenhängt. Anna Buchheim (»Bindung und Boderline-Persönlicheitsstörung«) berichtet, in welcher Weise eine Beratung und Psychotherapie von Menschen mit Borderline-Persönlichkeitsstörungen möglich ist, sofern frühe Bindungs- und Traumaerfahrungen sowohl als Ursachen wie auch als Fokus in der Behandlung berücksichtigt werden können.
Kate White (»Ich liebe dich – und, um Gottes willen, verlass mich nicht!«) beschreibt auf sehr berührende, feinfühlige Weise, wie sehr das Bindungssystem aktiviert wird, wenn sich Menschen im Alter wegen der Entwicklung einer Demenz aus bisherigen Bindungsbeziehungen »zurückziehen«. Gleichzeitig führt sie aus, wie ein bindungsorientierter Umgang mit einem an Demenz erkrankten Menschen möglich ist, um so dennoch wichtige emotionale Erfahrungen miteinander zu erleben und einander zu vermitteln.
Abschließend stellt Karl Heinz Brisch die »Bindungsbasierte Beratung und Therapie (BBT)« vor; diese ist eine von ihm entwickelte bindungsorientierte Methode, die in der Praxis der Psychotherapie und Beratung mit verschiedener Altersgruppen und in unterschiedlichen Settings – ambulant, stationär; in der Pädagogik –angewandt werden kann und wird. Die BBT fokussiert besonders auf Themen der frühen Bindungsentwicklung und auf stressvolle Traumaerfahrungen. Hierbei spielen auch präventive Ansätze, etwa das Programm »SAFE® – Sichere Ausbildung für Eltern« eine große Rolle, das es Schwangeren und werdenden Vätern ermöglicht, schon sehr früh ihre eigene Bindungsgeschichte kennenzulernen. So kann im günstigen Fall schon vor der Geburt des Babys eine potentielle Weitergabe von unverarbeiteten stressvollen Erfahrungen der Eltern an ihr Kind und damit an die nächste Generation verhindert werden.
Alle Beiträge dieses Bandes, mögen sie aus der Klinik, der Forschung oder auch der Prävention kommen, geben einen eindrücklichen Überblick, welche große Bedeutung die frühen Bindungsentwicklungen für das Entstehen von psychopathologischen Prozessen und psychischen Störungen haben. Die Beiträge zeigen, wie sehr unsere Persönlichkeit hierdurch geprägt wird und in welcher Weise durch verschiedenste Formen der Psychotherapie und unterschiedlichste Methoden Interventionen möglich sind, um im weiteren Leben neue, korrigierende Bindungsbeziehungen eingehen zu können. Der Königsweg der Prävention ist allerdings noch weiterzuentwickeln und in der Gesellschaft umfassend zu verankern, um vielen Eltern möglichst früh zu helfen, die Teufelskreise der Weitergabe von traumatischen Bindungserfahrungen von einer Generation zur nächsten zu verhindern bzw. zu unterbrechen.
Alexander Trost
Eine klinische Annäherung
Obwohl Bowlbys Bindungskonzept von Anfang an systemische Aspekte mit einschloss, fremdelte die sich damals formierende Systemische Therapie lange mit diesem zugleich tiefenpsychologischen, empirischen und verhaltensbiologischem Ansatz. Erst in den letzten Jahren erfahren die Ergebnisse der Bindungsforschung auch breitere Wertschätzung in der systemischen Community, während die Bindungstheorie sich gleichzeitig von der dyadischen Perspektive hin zu komplexeren Bindungssystemen geöffnet hat.
Limitierende Kontextfaktoren waren lange – bis zur gerade erst erfolgten Anerkennung der Systemischen Therapie als Kassenleistung – der ausschließliche Fokus auf die Erkrankung von Individuen, die in aller Regel nicht in ihren Beziehungszusammenhängen verstanden und behandelt wurden. Bis dato gab es eine Leistungspflicht unseres Gesundheitssystems nur bei einer einzelnen Person mit einer nach dem Klassifikationssystem ICD-10 diagnostizierten Erkrankung. Auch das System »Psychiatrie« war in der Fläche bislang kaum in der Lage, eine kontextuelle, auch intergenerational angelegte Behandlung anzubieten, geschweige denn Prävention im Lebenskontext der Patientinnen und Patienten1 durchzuführen.
Systemische Therapie begann in den 1950er Jahren noch unter dem Label des Settings: Familientherapie war eine neue Behandlungsdimension, die sich aus den theoretischen Erkenntnissen der Kybernetik speiste. Sie entstand gleichzeitig auf verschiedenen Kontinenten, an verschiedenen Orten, und zumindest anfänglich, ohne dass die Begründer voneinander wussten oder in einem Diskurs standen.
Auslöser für die neuen Behandlungsinitiativen waren fast durchweg Misserfolge in der Behandlung junger psychosekranker Patientinnen, bei denen nach einer ersten Besserung die Angehörigen eine Weiterbehandlung verhinderten, sehr zum Erstaunen der zunächst noch individuumzentriert denkenden Behandler. Es war schon länger deutlich geworden, in welch hohem Maße die Familienmitglieder in die Problematik der Patienten eingebunden waren. Nun sah es so aus, als trüge die Erkrankung zur Stabilisierung der Familiendynamik bei, so dass auf sie nicht verzichtet werden konnte. Aus diesen ersten Hypothesen entstanden nach und nach die unterschiedlichen familientherapeutischen/systemischen Denk- und Interaktionsmodelle.
Ich selbst erlebte in meinem ersten Psychiatriejahr mit Betroffenheit das Leiden einer gerade 18 Jahre alt gewordenen jungen Frau, bei der die Verstrickung mit ihrer Ursprungsfamilie fühlbar, aber mit unseren damals sehr begrenzten Mitteln kaum handhabbar war. Mein väterlicher, sozialpsychiatrisch orientierter Chef empfand das damals noch charakteristische »Praecox«-Gefühl der klassischen Psychiater, wenn sie eine chronische Psychose heraufziehen sahen. Ich wollte das nicht akzeptieren und versuchte mit meinen rudimentären familientherapeutischen Kenntnissen im Rahmen einer traditionellen Aufnahmestation Familiengespräche zu arrangieren. Mit institutioneller Unterstützung gelang dies sogar auch, aber leider reichten meine Kompetenzen damals nicht aus, um das fühlbare Verstrickungsgefüge in der Familie effektiv zu erreichen.
Um mir einen Eindruck von ihren familiären Bindungen machen zu können, hatte ich die Patientin ermutigt, ein Familie-in-Tieren-Bild zu zeichnen: In einem nahezu undurchdringlichen Dschungel von Pflanzen und Tieren konnten mit Mühe, aber immerhin noch gestalthaft erkennbar die Tiere ausgemacht werden, welche die Familie symbolisierten. Ein Elefant für den Vater, ein davor liegendes Walross für die Mutter, ein zappelnder Affe in der Mitte für den Bruder der Patientin und sie selbst als Straußenvogel, den kleinen Kopf hoch über die andern hinausgereckt, im Versuch, den Überblick zu behalten. Alle waren irgendwie im Bild, aber niemand auf eine(n) der anderen bezogen. Es wirkte vielmehr so, als ob der Betrachter der eigentliche Fokus der wie hypnotisiert starrenden Familie sei. Erfolglos musste ich damals mit ansehen, wie sich der Zustand der Patientin chronifizierte.
Ich wechselte dann bald für eine fundierte systemische Weiterbildung in die benachbarte, damals konzeptuell bundesweit einzige systemisch orientierte Klinik für Kinder und Jugendpsychiatrie in Viersen.
Entsprechend dem Ansatz des sich entwickelnden systemischen Paradigmas war ich auch damals bereits davon überzeugt, dass sich psychische Störungen weniger in Personen als in Beziehungen ereignen und dass somit eine interaktionelle Perspektive, die die Regeln, Überzeugungen und Erzählungen in Familien in den Blick nimmt, effektiver helfen kann als eine individuumzentrierte Behandlung allein.
Probleme werden in der Systemischen Therapie nicht als Eigenschaften einzelner Personen gesehen. Sie sind oft Ausdruck der aktuellen Kommunikations- und Beziehungsverhältnisse in einem System. Symptome können somit vielfältige Bedeutungen in der familiären Kommunikation haben: z. B. Hinweis auf Stagnation im Entwicklungsfluss, fehlende Responsivität, unklare Grenzen …
Seitdem sind 40 Jahre vergangen, die systemische Arbeit hat sich in vielfältigen Schulen, Richtungen, Denkweisen und Anwendungsfeldern ausdifferenziert und die Systemische Therapie ist, nach der wissenschaftlichen Anerkennung 2008, im November 2018 vom gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) in das gesetzliche Krankenkassensystem aufgenommen worden, vorerst allerdings nur für die Behandlung von Erwachsenen. Der Überprüfungsantrag für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen, die sicher eine größere Versorgungsrelevanz hat, ist noch nicht abschließend beschieden. Nach dem Verständnis der kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) ist die Systemische Therapie ein psychotherapeutisches Verfahren, dessen Fokus auf dem sozialen Kontext psychischer Störungen liegt. Das Vorgehen in dieser Psychotherapie berücksichtige insbesondere die Veränderung sozialer Interaktionen und sie könne daher auch im »sogenannten Mehrpersonensetting« angewendet werden, ein Novum in der kassenfinanzierten Psychotherapielandschaft.
In den letzten 20 Jahren weitete sich der Blick von der Familie auf die sie umgebenden Systeme wie Arbeitsfeld, Wohnumwelt und die jeweiligen Kontexte, in denen Therapie und Beratung stattfinden, denn die Systemische Therapie ist ein Ansatz, der Gesundheit und Krankheit und die Lebensqualität von Menschen im Zusammenhang mit ihren relevanten Beziehungen und Lebenskonzepten sieht.
Ein Großteil der Protagonisten des neuen Paradigmas kam aus dem Feld der kreativen Neuanfänge nach dem Zweiten Weltkrieg: Psychoanalytische und humanistische Psychotherapieverfahren entwickelten sich weiter und die Erkenntnisse von Physik und Kybernetik flossen in die Konzeptionierung neuer Ideenwelten mit ein. Kybernetik ist die Wissenschaft der Steuerung und Regelung von Maschinen und ihrer Analogie in den Verhaltensabläufen lebender Organismen und sozialer Organisationen (Wiener 1952).
Als erste theoretische Rahmung der neu entstehenden »Familientherapie« gilt das Modell der Kybernetik 1. Ordnung, beginnend in den 1950er Jahren. Hier stand die Erforschung und Veränderung von Regelgleichgewichten im Fokus des Interesses, im Prinzip ähnlich dem Funktionieren eines Heizungs-Regelkreises, wenn auch komplexer. Es ging damals um »ideales« Funktionieren einer Familie nach bestimmten Regeln, Grenzen, und unter Einhaltung bestimmter Strukturen. Die Aufgabe einer – von der Funktion des Familiensystems getrennt gedachten – Familientherapeutin bestand darin, dysfunktionelle Muster aufzuspüren und durch therapeutischen Einsatz eine »gute« Funktionalität wiederherzustellen.
Bald wurde aber klar, dass die Therapeutin bzw. der Therapeut auch immer Teil des Systems ist, der durch Fragen, Kommentare und andere Interventionen dessen Wirklichkeit mit konstruiert. Diese Erkenntnis markiert den Wandel zur sogenannten Kybernetik 2. Ordnung, Kernbestandteil des radikalen Konstruktivismus. Schon Thomas von Aquin sagte sinngemäß, die Dinge seien im Erkennenden nach seiner Art und nicht nach ihrer Art, oder wie Maturana und Varela (1987, S. 32) feststellen: »Alles Gesagte wird von einem Beobachter gesagt«. Realität liegt nach Heinz von Förster nicht objektiv vor, sondern ist ein Produkt derer, der sie beschreiben. Lebende Systeme gelten nach dem Prinzip der Autopoiese als strukturell determiniert, operational geschlossen, aber energetisch offen. Sie sind Verstörungen (Pertubation) ausgesetzt, wodurch neue Eigenzustände angestoßen werden.
Diese Aussagen der beiden Begründer des biologischen Konstruktivismus, Maturana und Varela, sind umfassend belegt; sie bilden die Grundlage für die Erkenntnis, dass Kognition »nur« der Organisation der Erfahrungswelt des Subjektes dient und nicht der Erfassung einer ontologischen Realität. Folgerichtig geht es im systemischen Gespräch darum, nach einer Phase des »Anschlussnehmens« (Joining) die beobachteten redundanten und restriktiven Muster und Vorannahmen in Frage zu stellen, um dadurch andere Sichtweisen anzuregen. Im Familiensystem soll so, in einem selbstorganisierten Prozess, die Bildung neuer Interpretationsvarianten und Interaktionsregeln angestoßen werden.
Ein wichtiges Werkzeug dazu ist das sogenannte »zirkuläre Fragen«, bei dem nicht eine einzelne Person direkt befragt wird, sondern in Bezug darauf, was sie bei jemand anders beobachtet, vermutet, aus dem Beobachteten schließt. Dadurch ergeben sich relationale Aussagen. Eigene handlungsleitende Annahmen über Beziehungen sowie eine Einschätzung zu Motiven und Prämissen der anderen können so ausgesprochen und damit in die Diskussion eingebracht werden. »Reframing«, also einen Sachverhalt in einen anderen Rahmen stellen, meint eine andere, neue und möglichkeitsgenerierende Interpretation von Ereignissen, meist durch den Therapeuten, die aus der oft festgefügten Erlebensweise der Klienten herausführt. So kann aus dem »ungezogenen« Kind eines werden, das durch anstrengendes Verhalten notwendige Hilfe in die Familie holt. Ressourcenorientierte Metaphern und der Gebrauch von Bildern unterstützen diese Umdeutungsarbeit. Mit Genogrammen, also Familienstammbäumen, werden die unterschiedlichen Dimensionen der beschreibbaren Wirklichkeit auf der Faktenebene verbildlicht und so ebenfalls besprechbar. Skulpturarbeit und Familienaufstellung mit den realen Personen, bzw. mit Holzfiguren, bringt die Beziehungswirklichkeiten innerhalb eines Familiensystems visuell und emotional erfahrbar in den Raum.
Bereits 1991 wurde auf einem viel beachteten Kongress »das Ende der großen Entwürfe und das Blühen systemischer Praxis« konstatiert (vgl. Fischer et al. 1992). Seitdem entwickelt sich vielfältige systemische Arbeit in nahezu allen gesellschaftlichen Feldern. Nach der zunächst oft kognitivistischen Ausrichtung gibt es seit den 2000er Jahren eine Hinwendung zu affektiven Faktoren und zu Körperlichkeit auch im systemischen Denken und Handeln. Eine konsequente Einbeziehung entwicklungspsychologischer und -biologischer Aspekte als rekursiv wirkende »Akteure« im psychosozialen Geschehen wurde allerdings noch nicht vollzogen, auch wenn es gelegentlich bindungstheoretische Beiträge in den einschlägigen Zeitschriften gab sowie bislang eine umfangreichere Monographie, die Systemtheorie und Bindungswissen zusammenbringt (Trost 2018).
Alles ist mit allem verbunden und in ständiger Resonanz und Bewegung, das ist nach den Erkenntnissen von Teilchenphysik und Chemie das entscheidende Prinzip des gesamten Universums, vom subatomaren Bereich bis hin zu Galaxien und intergalaktischen Beziehungen. Die subatomaren Distanzen und Größenverhältnisse entsprechen dabei exakt denen in Sonnensystemen (Morrison et al. 1983); die Resonanzen der Himmelskörper in unserem Sonnensystem, die Johannes Kepler 1619 in seinem Werk De harmonicae mundi beschrieb, waren bereits seit Pythagoras bekannt. Letztendlich löst sich Materie in Schwingungen auf. Jegliche Eigenschaft von Materie wird durch die Gestaltung des Beziehungsraumes zwischen den Elementen eines Stoffes bestimmt: Die dynamische Anordnung von Protonen, Elektronen und Neutronen in einer Molekularstruktur, im Raum-Zeit-Gefüge macht den Charakter einer Substanz aus. Ähnlich gilt dies für das Zusammenspiel in und von lebenden Systemen. Auch hier geht es um Räume und Zeiten, um freie, gelenkte oder blockierte Schwingungen.
Der Philosoph Martin Buber sagt: »Der Mensch wird am Du zum Ich« (Buber 2008, S. 28), und meint damit, dass die Resonanzen zwischen zwei oder mehr Subjekten Entwicklung und Ausformung einer Persönlichkeit bestimmen. Wir leben wirklich, und ganz von Anfang an, von Resonanz oder, anders ausgedrückt: von emotionaler Spiegelung und daraus resultierender Anerkennung.
Dementsprechend muss die allgemeine Systemtheorie, als Denkfigur systemisch-therapeutischen Handelns, durch die Erkenntnisse von Neurobiologie und Bindungswissenschaft ergänzt werden. Obwohl ich sicher davon ausgehen kann, dass die Leserinnen und Leser dieser von Karl Heinz Brisch herausgegebenen Reihe über hinreichende Basiskenntnisse zur Bindungstheorie verfügen, will ich doch, auch der Lesbarkeit halber, einige Grundlagen referieren.
Die Entwicklung des Menschen ist von der Zeugung bis zum Tod zugleich biologisch und sozial-konstruktiv, in einer einzigartigen Verschränkung der Dimensionen vom Magnetfeld bis zur Religion. Bindungsphänomene ziehen sich durch das gesamte Universum, beginnend mit den chemischen, atomaren und Molekülbindungen. In der physikalischen Welt werden Bindungen z. B. durch das Magnetfeld sichtbar. Eine klassische Hierarchie finden wir im Hirnaufbau, bei dem die Hirnteile unterschiedlicher evolutionärer Stufen sinnhaft miteinander verwoben und verbunden sind. In der Psychologie bedeutet Bindung einmal ein Überlebenssystem in der frühen Kindheit aller Säugetiere, dann auch Fürsorge, Zuneigung, Liebe. Soziologisch sprechen wir von Gruppenbindungen oder Gebundensein an ein Regel-, Werte- und Normensystem, an eine Kultur. Last not least gilt die Re-Ligio, also die Rückbindung als ein spirituelles Band zu einer höheren Macht, als das, »was die Welt im Innersten zusammenhält« (Goethe, Faust I).
Bindung … bleibt Gegenstand von Erkenntnis
Physikalisch: Magnetfeld
Chemisch: Molekülbindungen
Biologisch: Gehirnhierarchie
Psychologisch: Überlebenssystem, Liebe
Soziologisch: Gruppen, Kulturen
Spirituell: Re-Ligio
Mit John Bowlby gilt Bindung als ein evolutionär geformtes Überlebensprinzip, seit es Säugetiere gibt. Ursprünglich richtete sich die Bindungsforschung auf die frühe Mutter-Kind-Bindung, sie wurde dann auf die Vater-Kind-Bindung und andere Bezugspersonen erweitert und schließlich auf die Bindungsstile im Lebensverlauf. Beeindruckende Längsschnittstudien, z. B. von Klaus und Karin Grossmann belegen die große konstante Bedeutung von Bindung und gleichzeitig ihre Variabilität über die ganze Lebenszeit hinweg. Im pädagogisch-therapeutischen Bereich wird die Bindungstheorie auf die asymmetrische Arbeitsbeziehung zwischen Therapeut(in), Erzieher(in), Sozialarbeiter(in), Lehrer(in) und jeweils einem Gegenüber in einem längerfristigen und relevanten Kontakt übertragen.
Die entwicklungsnotwendige Resonanz wird in einer frühen responsiven Eltern-Kind-Interaktion verwirklicht und ist damit Grundlage einer sicheren Bindung. Damit kommt der frühkindlich etablierten Bindung zwischen einem Säugling und seinen primären Bezugspersonen eine ganz zentrale Bedeutung zu. Das sogenannte Bindungssystem umfasst drei Dimensionen:
die biologisch angelegte Tendenz des Säuglings, bei einer primären Bezugsperson Schutz zu suchen, um so Sicherheit zu erlangen,
die ebenfalls evolutionär präformierte Fürsorgebereitschaft potentieller Bezugspersonen, meist der Eltern,
die gelingende Passung von a und b ermöglicht dem Kind eine sichere Exploration als Voraussetzung für eine gelingende Anpassung an Umwelt und Entwicklungserfordernisse.
Wir wissen heute, dass Menschen, wenn sie ganz Mensch sein wollen, Voraussetzungen brauchen, die aus bindungstheoretischer und neurobiologischer Sicht als optimal beschrieben werden können. »Ganz Mensch sein« meint so: gut mit sich und anderen im Kontakt sein, Impulse, Affekte und Stress regulieren können, lern- und arbeitsfähig sein sowie Beziehungen und Kooperationen eingehen können.
Über das Resonanzprinzip, über Spiegelung, über Nachmachen und Modifizieren wird die Welt in Bewegung gesetzt, zum Guten oder auch zum weniger Guten. Wichtiger Mittler in diesem Prozess ist das Spiegelneuronensystem, das erst in den 1990er Jahren von den italienischen Neurobiologen Gallese und Rizolatti entdeckt wurde (vgl. Rizzolatti et al. 2004; Gallese 2003). Grob gesagt, befähigt es uns, eine Handlung, ein Gefühl, das wir bei anderen beobachten oder wahrnehmen, auch selbst zu erleben und auszuführen. Wie bei allen höheren Hirnfunktionen gilt auch hier das Prinzip der nutzungsabhängigen Ausdifferenzierung: Was wir häufig tun, das können wir auch gut. Sich in Andere hineinversetzen, Empathie und Perspektivenübernahme wollen damit ebenso trainiert sein wie sportliche oder musische Fähigkeiten.
Allan Schore, einer der aktuell wichtigsten Bindungsforscher in den USA, meint, dass »die Resonanz der rechten Hemisphären von Mutter und Kind in der regulatorischen Interaktion der wesentliche ›promotor‹ für eine normale Entwicklung« sei (Schore 2011). Die rechte Hirnhälfte entwickelt sich früher als die linke, sie ist bereits ab der Geburt rudimentär funktionsfähig, was Gestalterfassung, Gesichtserkennung, bildhaftes und emotionales, ganzheitliches Erleben angeht. Die meist dominante linke Hemisphäre ist eher für das Prozessieren von Zahlen, Sprache, Abstraktion, Logik zuständig und reift deutlich später. Beide Hirnhälften sind durch eine massive Faserstruktur, den Balken, verbunden und bilden zusammen ein voll funktionsfähiges Gehirn. Der Balken ist in hohem Maße sensitiv für chronischen Stress und kann unter solchen Bedingungen seine integrierende Aufgabe nur mangelhaft erfüllen. Daher erleben wir bei organisiert unsicher gebundenen Menschen meist eine Präferenz der einen oder anderen Erlebensweise.
Dreh- und Angelpunkt für das Entstehen von Bindungssicherheit ist die sogenannte Feinfühligkeit (Orig. engl. »tender loving care«). Eine feinfühlige Betreuungsperson nimmt 1.) die Signale des Babys wahr, interpretiert sie 2.) richtig und reagiert 3.) angemessen und 4.) prompt darauf. Säuglinge nehmen genau wahr, welche Bezugsperson sich am besten resonant auf seine Äußerungen hin verhält. Wenn es mehr als eine Person in ähnlicher zeitlicher Verfügbarkeit gibt, wählt das Baby – auf einer archaischen, affektiven Ebene der Hirnorganisation – die feinfühligste als primäre Bindungsperson.
Was passiert in einer feinfühligen frühen Interaktion? Ein zentraler, heute zu neuer Beachtung gelangter Begriff des englischen Psychoanalytikers Wilfred Bion (1963) ist das Containment: Wenn die Mutter die nonverbalen Botschaften ihres Kindes annimmt, aufnimmt, vorverarbeitet und dem Kind in »verdaulicher« (verständlicher) Form zurückgibt, kann sich das Kind gesehen, gehört, verstanden und damit sicher fühlen. Sie benötigt dazu ›intuitive Elterliche Kompetenzen‹, also die Fähigkeit, ohne nachzudenken mit einem Säugling angemessen zu interagieren. Praktisch alle Menschen verfügen über dieses Repertoire, es sei denn, es ist durch früheres oder aktuelles existenzbedrohendes Stresserleben oder eine andere gravierend belastende Ablenkung blockiert. Ziel dieses Prozesses ist es, das Kind in seiner Verarbeitung ängstigender Affekte und Erlebnisse so zu unterstützen, so dass es in explorativem Kontakt mit der Umwelt bleiben kann. Auf körperlicher Ebene entspricht dies der weltweiten Praxis, dass Mütter ihren Säuglingen Essen vorkauen, wenn keine säuglingsgeeignete Nahrung vorzufinden ist. In Vietnam z. B. war es sogar üblich, dass psychiatrische Krankenschwestern an ihre hocherregten Patienten vorgekaute Nahrung mit dem Mund fütterten, was häufig zu nachhaltiger Beruhigung führte (Wulff 1968).
Effektives Lernen von Neuem ist nur möglich, wenn das Bindungssystem deaktiviert ist. Ein »angeschaltetes« Bindungssystem braucht alle Energie zum Überleben, dazu, Sicherheit und Nähe bei der primären Bezugsperson zu suchen. Hier kann und muss auf bewährte Schemata zurückgegriffen werden; innovatives Lernen findet nicht statt.
Die containende Handlung und Haltung gibt also Sicherheit und eröffnet Lernfenster; sie bahnt gleichzeitig auch die Entwicklung eines psychischen Selbst. Die kontingente Spiegelung der Botschaften des Körperselbst des Säuglings als primäre Repräsentation von Ereignissen – Schreien, Motorik, Lautäußerungen – geschieht im Regelfall als markierte Spiegelung. Das heißt, die primäre Bezugsperson macht es nicht ganz genauso wie das Kind, sondern in veränderter, abgeschwächter, gegebenenfalls übertriebener Form. Dadurch merkt das Kind, dass seine eigenen Affekte und Motive gespiegelt werden und dass dies nicht die der Mutter sind. Eine so grundgelegte psychische Repräsentation des eigenen inneren Zustandes ist die Basis von Benennen, Wiedererkennen und Erinnern. Somit ist dieser Zyklus die wesentliche Grundlage von Mentalisieren, nämlich sich und den anderen spüren und denken können. Wenn die Spiegelung anhaltend fehlt oder nicht markiert ist, so führt dies zu einem defizienten Aufbau des kindlichen Selbst (mehr dazu im Abschnitt »Bindung und Trauma«).
ADHS