J.R.R. TOLKIEN

NATUR UND WESEN VON MITTELERDE

Späte Schriften zu den Ländern, Völkern und
Geschöpfen und zur Metaphysik von Mittelerde

Herausgegeben von Carl F. Hostetter

Aus dem Englischen
von Helmut W. Pesch
und Susanne Held

KLETT-COTTA

Impressum

Dieses E-Book basiert auf der aktuellen Auflage der Printausgabe.

 

Hobbit Presse

www.hobbitpresse.de

Die Originalausgabe erschien unter dem Titel »The Nature of Middle-earth. Late Writings on the Lands, Inhabitants and Metaphysics of Middle-earth«

im Verlag HarperCollins Publishers, London 2021

Alle Texte und Materialien von J.R.R. Tolkien © The Tolkien Estate Limited and The Tolkien Trust 1980, 1993, 1998, 2000, 2001, 2005, 2007, 2009, 2011, 2014, 2021

Vorwort, Einleitungen, Fußnoten und Kommentare © Carl F. Hostetter 2021

 

® und Tolkien® sind eingetragene Markenzeichen des

Tolkien Estate Limited

 

Für die deutsche Ausgabe

© 2021 by J.G. Cotta’sche Buchhandlung

Nachfolger GmbH, gegr. 1659, Stuttgart

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Cover: Birgit Gitschier, Augsburg

unter Verwendung der Daten des Originalverlags

Cover-Illustration © Ted Nasmith 2021;
Layout © HarperCollins Publishers Ltd 2021

Gesetzt von Dörlemann Satz, Lemförde

Gedruckt und gebunden von CPI – Clausen & Bosse, Leck

ISBN 978-3-608-96478-3

E-Book ISBN 978-3-608-10087-7

Enyalien
CHRISTOPHER REUEL TOLKIEN
21. Nov. 1924–16. Jan. 2020

und für
Alex, Aidan, Collin und Caylee

Vorwort

In seinem Vorwort zu Morgoth’s Ring (Bd. 10 seiner History of Middle-earth) schreibt Christopher Tolkien über seinen Vater Ende der 1950er-Jahre und nach der Veröffentlichung von Der Herr der Ringe:

Lange hatte er über die Welt nachgesonnen, die er zum Leben erweckt hatte und die nun in Teilen enthüllt worden war, und sich dabei mit grundsätzlichen Fragen ihrer inneren Gesetzmäßigkeiten befasst. Bevor er ein neues und endgültiges Silmarillion ausarbeiten konnte, musste er den Anforderungen eines stimmigen theologischen und metaphysischen Systems gerecht werden, das nun durch die Annahme verborgener und widersprüchlicher Elemente in seinen Wurzeln und seiner Überlieferung noch komplexer wurde.

Zu den wichtigsten »strukturellen« Ideen der Mythologie, über die er in jenen Jahren nachdachte, gehörten der Mythos des Lichts, die Natur von Aman, die Unsterblichkeit (und der Tod) der Elben, die Art ihrer Reinkarnation, der Sündenfall der Menschen und die Dauer ihrer frühen Geschichte, die Herkunft der Orks und vor allem die Macht und Bedeutung von Melkor-Morgoth, die zum Grund und zur Quelle der Verderbnis von Arda ausgebaut wurde.

Christopher hat in Morgoth’s Ring und den beiden darauf folgenden Bänden von The History of Middle-earth eine größere Auswahl von Tolkiens langen Überlegungen über seine imaginäre Welt veröffentlicht, aber bei weitem nicht alles. Die in diesem Buch versammelten Texte stellen einen bedeutenden Teil und eine umfassendere Wiedergabe seiner Gedanken zu den »grundsätzlichen Fragen ihrer inneren Gesetzmäßigkeiten« dar. Sie enthalten auch jene »Schriften über Mittelerde und Aman, die vorwiegend philosophischer oder spekulativer Natur sind«, die nicht in die letzten Bände der History of Middle-earth aufgenommen wurden. Hinzu kommen Texte beschreibender und/oder historischer Art, hauptsächlich über die Länder und Völker von Mittelerde, die nicht in Nachrichten aus Mittelerde (Unfinished Tales) enthalten sind. Diese Texte und das vorliegende Buch stehen in engem Zusammenhang mit wesentlichen Teilen der oben genannten Bände und werden für diejenigen, die sich besonders für diese Themen interessieren, von größter Bedeutung sein.

Wie Der Herr der Ringe hat auch dieses Buch eine lange Geschichte. Ich habe in gewisser Weise seit fast 25 Jahren daran gearbeitet – auch wenn es mir lange Zeit nicht bewusst war. 1997 erhielt ich von Christopher Tolkien in meiner Eigenschaft als einer der autorisierten Herausgeber der Texte aus dem Nachlass seines Vaters zu dessen erfundenen Sprachen und Schriften ein Bündel von Fotokopien verschiedener hand- und maschinengeschriebener Materialien, die er als »späte philologische Schriften« bezeichnete. Wie diese Bezeichnung schon andeutet, befassen sich alle Texte in diesem Konvolut bis zu einem gewissen Grad mit sprachlichen Themen. Aber wie es oft in Tolkiens nicht-narrativen Schriften nach dem Herr der Ringe der Fall ist, führten die sprachlichen Themen, die den Anlass zu den einzelnen Erörterungen bildeten, Tolkien zu langen (scheinbaren) Abschweifungen, entweder weil sie die historischen, kulturellen, mythologischen und/oder metaphysischen Sachverhalte erklären, die verschiedene Wörter und Ausdrücke widerspiegeln, oder einfach, weil Tolkien einer Idee oder einer Frage nachgehen wollte, die ihm zu dieser Zeit in den Sinn kam. Ich habe drei Texte aus dieser Sammlung herausgegeben und in der Zeitschrift Vinyar Tengwar (VT) veröffentlicht: »Ósanwe-kenta«, ein weit ausholender Aufsatz über gedankliche Kommunikation, in VT 39 (Juli 1998); »Notes on Órë«, eine Betrachtung des »inneren Geistes« als Quelle von Warnung oder Rat, in VT 41 (Juli 2000), und »The Rivers and Beacon-hills of Gondor«, eine ausführliche Diskussion der Namen und Eigenschaften dieser geografischen Objekte, in VT 42 (Juli 2001). (Christopher hatte den letztgenannten Text ursprünglich für eine Aufnahme in The Peoples of Middle-earth, den letzten Band der History of Middle-earth, vorgesehen, aber der Platz war dafür zu knapp.) Ein vierter langer Aufsatz aus dieser Sammlung, ergänzt mit verwandten Materialien aus Tolkiens Papieren, wurde, herausgegeben von Patrick Wynne, in drei Teilen als »Eldarin Hands, Fingers, and Numerals« in VT 46–49 (Februar 2005 bis Juni 2007) veröffentlicht. (Die ersten drei Texte werden hier als Kapitel 9 und 10 des zweiten Teils bzw. als Kapitel 22 des dritten Teils wiedergegeben, der vierte in stark gekürzter Form als Kapitel 3 des zweiten Teils.)

Nach der Veröffentlichung meiner Ausgaben von »Ósanwe-kenta« und »The Rivers and Beacon-hills of Gondor« und im Wissen um mein großes Interesse an diesen und ähnlichen philosophischen, historischen und beschreibenden Texten Tolkiens, auch abgesehen von ihren sprachlichen Elementen, bat Christopher mich, den französischen Tolkien-Experten Michaël Devaux bei der Herausgabe der (größtenteils) unveröffentlichten Materialien zur elbischen Reinkarnation zu unterstützen, auf die Christopher an mehreren Stellen sowohl in Morgoths Ring als auch in The Peoples of Middle-earth anspielt und die er an Devaux geschickt hatte. Diese Ausgabe, zusammen mit Devaux’ französischer Übersetzung nebst Kommentar, wurde schließlich 2014 in Band 3 der Reihe La Feuille de la Compagnie veröffentlicht. (Die Texte werden hier als Kapitel 15 des zweiten Teils und Kapitel 15 des dritten Teils wiedergegeben.)

Dieses Interesse erklärt auch, warum Christopher mir ab dem Spätsommer 2008 nach und nach Fotokopien eines großen Konvoluts an späten (hauptsächlich) handschriftlichen Texten schickte, die von ihm unter dem Obertitel »Zeit und Altern« zusammengetragen worden waren, mit der Bitte, sie zu prüfen und mir Gedanken über ihre mögliche Verwendung zu machen. Wie man sehen wird, sind viele dieser Schriften ganz anders als der Großteil von Tolkiens Werken. Sie beinhalten unter anderem lange Tabellen und Berechnungen über die Alterungsrate und das Bevölkerungswachstum der Eldar von der Zeit ihres Erwachens über die Zeit der Großen Wanderung bis hin zu ihrer Ankunft in Beleriand und darüber hinaus. Trotz ihres eher technischen Charakters enthalten diese unbestreitbar trockenen Statistiken dennoch viele interessante Details von historischer und kultureller Bedeutung – z.B. die Tatsache, dass Tolkien in Erwägung zog, den Elben in Cuiviénen nicht nur den Schutz und die Unterweisung des Vala Orome angedeihen zu lassen, sondern auch den der Maia Melian und jener anderen Maiar, die später, im Dritten Zeitalter, in inkarnierter Gestalt als die Istari (wieder?) nach Mittelerde kommen würden: jene fünf Zauberer, welche von den Valar entsandt wurden, um den Widerstand gegen Sauron zu unterstützen. Diese Materialien als Ganzes veranschaulichen nicht nur Tolkiens (zumindest was mich betrifft) ungeahnte mathematische Befähigung und Präzision (in einer Zeit, lange bevor elektronische Taschenrechner erschwinglich wurden), sondern auch seine große Sorge um eine stimmige und glaubhafte Darstellung, die sich durch seine späteren Schriften zieht.

Nach langen Überlegungen zu den »Zeit-und-Altern«-Materialien und in Anbetracht der (teils veröffentlichten, teils unveröffentlichten) Ausführungen in den »späten philologischen Schriften« sowie ferner gewisser ebenfalls philosophischer und kultureller Passagen (wiederum teils veröffentlicht und teils nicht) in Tolkiens linguistischen Texten, die sich in ähnlicher Weise aus etymologischen Überlegungen ergeben hatten – z.B. der Aufsatz »Fate and Free Will«, den ich 2009 in Tolkien Studies 6 herausgebracht habe (Kapitel 11 des zweiten Teils), und eine lange Diskussion über die Natur der Geister im elbischen Denken, die Christopher Gilson 2007 in Ausgabe 17 der Zeitschrift Parma Eldalamberon abgedruckt und kommentiert hat (siehe Kapitel 13 des zweiten Teils) –, begann ich zu überlegen, wie sich all das zu einem in sich stimmigen Buch zusammenfügen ließe. Dies würde es mir nicht nur ermöglichen, eine solch beträchtliche Menge an Material zu veröffentlichen, wie sie sich in einer Zeitschrift nicht unterbringen ließe, sondern auch, das Ganze dem breiteren Publikum zugänglich zu machen, das meiner Meinung nach verdient hat, es zu kennen. Nachdem ich zu diesem Schluss gekommen war, entschied ich mich kurzerhand, dem geplanten Buch den Titel The Nature of Middle-earth zu geben, da es die genannten Materialien unter den beiden Hauptbedeutungen des Begriffs zusammenfasst: einerseits »Natur« als die sichtbaren und fühlbaren Phänomene der physischen Welt einschließlich ihrer Länder, Flora und Fauna und andererseits »Wesen« als die metaphysischen, immanenten und grundlegenden Eigenschaften der Schöpfung und ihrer Bewohner. [Im Deutschen daher Natur und Wesen von Mittelerde. Anm. d. Übers.]

The J.R.R. Tolkien Companion and Guide

Schließlich gilt meine größte Dankbarkeit natürlich Christopher Tolkien, der mir die meisten Materialien, die in dieses Buch eingeflossen sind, zur Verfügung gestellt und meine Idee, sie auf diese Weise zu veröffentlichen, unterstützt hat. Er konnte meinen Buchvorschlag mit einer repräsentativen Auswahl an Beispielen für meine Bearbeitung und Präsentation der Texte sowie meinen Plan für das Buch als Ganzes noch im Jahr vor seinem Tod sehen und gutheißen. Ich bin vor allem dankbar für die Freundlichkeit, Ermutigung und Sympathie, die er mir im Laufe unserer jahrzehntelangen Korrespondenz entgegenbrachte. Ich hatte das große Glück, ihn als Freund betrachten zu dürfen, und ich widme dieses Buch seinem Andenken.