Alison Katharina Mendel hat kein Leben. Von Anfang an. Keines, das sie mit dem bestimmten Artikel Singular versehen könnte: das Leben. Stattdessen durchlebt sie sieben Leben, wie eine Katze, mäandert von Lebensentwurf zu Lebensentwurf, von Partner zu Partner, wechselt zwischen trauter Zweisamkeit und melancholischem Single-Dasein, zwischen Lebenslust und Isolation. Ihre Haut, ihr Körper spürt bedrohlich die Leere dort draußen, sie weiß, sie muss sich schützen. Als zweite Haut kauft sie sich eines Tages einen Latexanzug und gerät in peinliche und bizarre Situationen. Bis sie endlich den Saxophonisten Hendrik Roder trifft und eine intensive, fast obsessive Beziehung mit ihm eingeht, eine Beziehung, die in einer gemeinsamen Skandinavienreise gipfelt. Dort kommt es zum Ausbruch lang verdrängter Ängste und Sehnsüchte.

Rainer Gross, Jahrgang 1962, studierte Philosophie, Literaturwissenschaft und Theologie. Er lebt mit seiner Frau als freier Schriftsteller in Reutlingen.

Bisher veröffentlicht: Grafeneck (Pendragon 2007, Glauser-Debüt-Preis 2008); Weiße Nächte (Pendragon 2008); Kettenacker (Pendragon 2011); Kelterblut (Europa 2012).

Bei BoD bisher u.a. erschienen:

Die Welt meiner Schwestern

Yūomo

Haus der Stille

Schrödingers Kätzchen

Drei Tage Wicklow

Guinea

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© 2015 Rainer Gross

Herstellung und Verlag: BoD – Books on Demand GmbH, Norderstedt

Layout und Umschlaggestaltung: Rainer Gross

Umschlagfoto: © Depositphotos.com/prometeus

Alle Rechte vorbehalten

ISBN: 9783739272245

Wir selber sind nichts,
was wir suchen, alles.

HÖLDERLIN, HYPERION

Inhaltsverzeichnis

COCON Ihre Mutter taufte sie auf den Namen Alison, keiner wusste weshalb. Der zweite Name lautete Katharina, auf Wunsch des Vaters. Alison Katharina Mendel. Im Kindergarten und der Grundschule riefen die Kameraden sie bloß Elli, was die Mutter ärgerte. Anfangs holte sie ihre Tochter, das einzige Kind, mit dem Auto ab und brachte sie morgens hin. Vielleicht um zu demonstrieren, dass sie Alison hieß. Die Mutter hatte in Marburg studiert und besaß eine gut gehende gynäkologische Praxis. Einmal an einem Sonnabend nahm sie Alison mit, zeigte ihr die Untersuchungs- und Behandlungsräume mit den Apparaten, den chromblitzenden Instrumenten, dem Stuhl mit den Beinstützen, der Alison an den Zahnarzt erinnerte. Im Wartezimmer gab es einen Kasten mit Holzklötzen und Bilderbücher, dort durfte sie spielen, bis die Mutter fertig war. Als es ihr zu lang dauerte, suchte sie nach der Mutter, rief leise nach ihr, als sie sie nicht fand. In einem halbdunklen Raum, weil die Jalousie heruntergelassen war, entdeckte sie sie, über ein Waschbecken gebeugt und sich die Hände waschend. Sie hatte das Gefühl, die Mutter bei etwas ertappt zu haben, obwohl die nur den Kopf drehte und nickte. Der Hahn blitzte, ein Wassertropfen blieb und blinkte im Halblicht des Fensters.

Der Vater war ein schwerer, behäbiger Mann. Er arbeitete im Finanzamt, ein eigenes Büro, Aktenstapel und Karteischränke, Schreibmaschine, dann Computer. Alison glaubte es später kaum, als sie es begriff: Ihr Vater war Beamter. Einer von denen, über die man Witze riss, in Illustrierten oder in Fernsehshows: Beamten-Airbag und so. Unkündbar, auf die Staatsordnung verpflichtet. Gerne hätte sie ihn einmal danach gefragt, wie er so eine Arbeit machen konnte nun schon fünfundzwanzig Jahre lang. Er nahm sie nicht mit ins Büro, rief nur manchmal zuhause an, um die Mutter etwas zu fragen, und plauderte mit ihr. Der Vater besaß keine Aktentasche, nahm kein Pausenbrot mit. Er bekam Essensmarken und aß in einem Restaurant zu Mittag, in das er Alison ab und zu einlud. Er übergab eine Handvoll der Marken dem Kellner und sagte ihr mit freundlicher Miene, dass das eigentlich nicht gestattet sei. Eine Marke war jeweils nur für ein Essen einzulösen. Das Restaurant aber rechne entsprechend ab. Alison interessierte das nicht. Sie verstand aber, dass ihren Vater die Sache mit den Marken irritierte.

Die Mutter sagte, Alison sei ein aufgewecktes Kind, mit viel Fantasie, ja, und der Intelligenztest, den sie von einem Psychologen durchführen ließ, ergab hundertdreiundzwanzig Punkte. Sie blieb lange Zeit körperlich unterentwickelt für ihr Alter. Der Schwimmunterricht machte ihr großen Spaß, sie trainierte hart und schwamm bei Landeswettkämpfen mit. Glitschige Siegertreppchen, Chlorbrille, die winkende Mutter. Die großen kräftigen Mitschwimmerinnen, die sie verhöhnten, aber dann glitt sie behände durchs Wasser, leicht und schlank mit zäher Kraft, und schlug als Erste oder Zweite an. In den Kabinen jagten sie sich und ließen die elastischen Badeanzüge schnappen oder drehten die Duschen plötzlich auf eiskalt. Einige von den Kräftigen hielten sie einmal darunter fest und grölten, als sie zu zittern begann; sie blieb still stehen und ertrug die Eiseskälte, grinste sie an, die traten einige Schritte zurück und schüttelten ungläubig die Köpfe. Sie blieb unter der Dusche, bis alle umgezogen und gegangen waren. Ihre Mutter fand sie, blau gefroren. Zum Ausgleich schmierte sie ihnen Klebstoff in die Bademützen.

Schon mit zwölf bekam sie Blutungen. Die Mutter hatte zuvor etwas angedeutet, sodass Alison nicht erstaunt war. Du wirst zu bluten anfangen, hatte sie erklärt, aber das ist nicht schlimm. Das zeigt nur, dass du eine Frau wirst. Alison wollte keine Frau werden, jedenfalls keine wie ihre Mutter. Eines Abends holte sie Alison ins Badezimmer und zeigte ihr den blutbefleckten Schlüpfer, den sie im Wäschekorb gefunden hatte. Es ist soweit. Nächsten Monat möchte ich, dass du zu mir in die Praxis kommst. Es sind jetzt ein paar Untersuchungen nötig. Untersuchung, das klang nach den Fremdwörtern, die die Mutter ihr beigebracht hatte: Klitoris, Vagina, Vulva, Hymen. Abends beim Zubettgehen. Sie hatte die Funktion der Brüste erklärt; sieh, wenn man sie so und so streichelt, richten sich die Brustwarzen auf und du bekommst schöne Gefühle. Was sie nicht an Alison selbst veranschaulichen konnte, hatte sie an ihren eigenen Geschlechtsteilen vorgeführt.

Alison wollte die Untersuchungen nicht. Sie war die Letzte an diesem Abend in der Praxis, draußen schneite es, das Licht der Straßenlaternen, im Untersuchungsraum war es warm. Als sie die Hose und den Schlüpfer ausgezogen hatte, nahm sie zum ersten Mal in diesem Stuhl Platz. Sie legte die Waden in die Beinstützen, legte den Kopf zurück und schloss die Augen. Ganz locker lassen, es tut nicht weh. Sie spürte das Instrument, dünn und spitz, wie es über ihre trockene Haut dort unten zupfte und eindrang. Vulva, Vagina, Hymen. Da ziepte es ein wenig. Nach dem Instrument kam die Hand ihrer Mutter, seltsam glatt und ölig, aber warm. Alison spürte Feuchte, die Hand glitt darüber hinweg und tiefer hinein. Sie tastete die Lendengegend ab, drückte von innen gegen die Hand außen, deine Eierstöcke sind normal, drückte stärker, dass es manchmal dumpf wehtat. Tut das weh? Alison schüttelte den Kopf. Wieso hast du die Augen zu? Alles in Ordnung. In diesem Moment öffnete Alison die Augen und sah, dass ihre Mutter Handschuhe trug. Das hier, sagte sie lächelnd, mit einer Hand dort verborgen, wo vorhin das Instrument gezupft hatte, ist die Klitoris. Weißt du, wozu sie gut ist? Sie zeigte es ihr, und Alison spürte eine Wärme im Bauch aufsteigen, eine Flauheit, eine wohlige Benommenheit, die rasch in den Kopf schwappte und prickelte. Im Hinterkopf wurde es schwer, und sie konnte die Augen nur mühsam offen halten. Sie sah die Mutter lächeln, eine Hand zwischen ihren Beinen verschwunden, die andere auf ihrem nackten Schenkel. Ein Fingertier, eingesperrt in eine blasse, milchige Haut mir wulstigem Rand. Die Socken an ihren Füßen und die Turnschuhe. Sie wollte sich gegen das Gefühl wehren, es begann zu brennen, sie keuchte und die Mutter richtete sich auf. Nun weißt du es, sagte sie und zog die Handschuhe mit einem Schnalzen ab, knüllte sie zusammen und warf sie in den Abfalleimer. Als hätte sie ein zweites Paar Hände ausgezogen, Diensthände, warme, kundige Untersuchungshände. Als die Mutter ihr mit dem Anziehen helfen wollte, stieß sie sie weg. Was ist denn los? Das kitzelt.

Die Großmutter bewohnte eine kleine Dachwohnung in einem Wohnblock aus den fünfziger Jahren. Drei Treppen, dann wurde es dunkel, dann stand man vor der Tür zur Stube, wo Licht brannte. Freitagabends brachten die Eltern Alison hin und holten sie am Sonntag wieder ab. Weil die Großmutter leicht fror, war immer eingeheizt, sogar im Sommer. Sie spielten Karten oder Halma, im Halma war die Großmutter nicht zu schlagen. Bist ein helles Köpfchen, lobte sie Alison, wenn sie sich achtbar schlug, und strich ihr übers kurze Haar. Was trägst schon Ohrringe, Kind? Hast du doch nicht nötig. Bist doch ein fesches Mädel. In einer Schublade hatte sie Süßigkeiten versteckt, die sie am Abend, wenn sie beisammen saßen, hervorholte. Das Essen schmeckte Alison weniger, die alte Frau kochte auf zwei Elektroplatten und nahm zuviel Salz. Früh gingen sie zu Bett. Alison kroch hinein in den Spalt zwischen der Großmutter und der Wand. Die Wand war kalt, sie spürte die raue Tapete. Über ihr hing das bronzene Kruzifix und ein gerahmtes Bild mit einem Kupferstich von Dürer, „Betende Hände“. Die Großmutter schlief bald ein. Alison lag eingeklemmt zwischen der kalten Wand und dem warmen, schweren Leib, der eine Senkung in die Matratze drückte, in die sich Alison hineinrutschen ließ. Manchmal drehte sich die Frau im Schlaf. Dann drehte sich Alison mit und ließ sich von ihrer Massigkeit umschließen.

Beim Abendessen erzählte Großmutter ihr biblische Geschichten, grausige Begebenheiten von Frauen, die zu Salzsäulen erstarrten, bloß weil sie sich umgedreht hatten, oder von Leuten, die kopfüber an Balken genagelt und angezündet wurden, um einem Kaiser den Spazierweg zu erleuchten. Eine Geschichte beeindruckte sie besonders: Da wurde eine junge schöne Frau in einen glänzenden roten Mantel gehüllt und in der Arena angekettet; der Stier schäumte vor Mordlust; die Frau schloss die Augen und erwartete den Stoß der Hörner. Delila hieß sie. Alison erinnerte sich an das Gefühl im Untersuchungsstuhl der Mutter und dachte sich, dass Delila vielleicht etwas Ähnliches fühlte, nur stolzer, denn sie erwartete den Tod.

Großmutter erwartete auch den Tod. Ich will nicht mehr lange leben, weißt du. Ich hab genug mit dem Herrgott gelebt, bin müde und alt. Schau doch, und zeigte dem Kind ihre Hände, an denen Falten und Runzeln hingen wie an einem Holzgerüst. Dieselben Hände schauten unter den Laken ihres Bettes im Pflegeheim hervor, fast durchsichtig, auf dem Weg hinaus aus dieser Wirklichkeit. Fleisch, dachte Alison. Das wandelbare, vergehende Fleisch, stark und zehrend, schön und hässlich. Einmal ist es aufgebraucht und wird Hülle, der Mensch entweicht daraus wie eine Schlange aus dem Ei. Mutter hatte ihr erklärt, dass Kinder aus dem Ei der Mutter entstehen, verschmolzene Zellen, Alison musste dort am Krankenbett an die Kaulquappen denken, als die sie sich die Samenzellen immer vorstellte, und die schleimigen, zähen weißen Eier aus dem Terrarium. Das Wurm, das heraus kroch, war genauso glitschig und weich. Das Weiche härtete, das Biegsame versteifte, schließlich trug das Eine das Andere, bis es abfiel dürr und tot.

Das war nicht mehr Großmutters Hand. Das war nicht Großmutter, die dort röchelte. Ein Mumiengesicht, durch dessen eingefallenes Tor die Luft rasselnd eingesogen und gequält ausgehaucht wurde. Etwas hob und senkte diesen Brustkorb in unerträglicher Beständigkeit. Seit Tagen schon. Mutter hielt Wache, hatte Ringe unter den Augen, maß den Puls mit Blick auf die Armbanduhr. Maß den Rhythmus dieses Blasebalgs unter der Decke. Drei Generationen versammelt um den Tod, dachte Alison und schaute zum Fenster hinaus. Es war ein warmer, föhniger Maitag, die Birken rauschten, im Park sang eine Amsel. Ein fast festliches Lied in der Stille des Sterbezimmers. Dann blieb das Einsaugen einmal aus, bange Sekunden, Mutter schaute auf die Uhr, dann setzte sich der Mechanismus wieder in Gang. Nicht die Lungen holten sich Luft, sondern die einströmende Luft blähte die Lungen. Hielt das Leben in Gang, bis auch das letzte Bisschen Kraft aufgebraucht war.

Großmutter war längst nicht mehr da, als der Atem aussetzte und nach zwei Minuten, nach drei Minuten noch nicht wieder einsetzte. Das also war der letzte Atemzug gewesen. Mutter kniff Daumen und Zeigefinger zwischen die Augen, nur kurz. Dann ging sie hinaus, um die Schwester zu holen. Alison trat ans Bett und betrachtete die Großmutter. Leicht war sie geworden, eingetrocknet, eine Transparenz an ihr, als gäbe es nichts zu zweifeln. Ihr Tod war ein Erlöschen, wie ein Feuer erlischt: zerfallen, veräschen, entblättern. Ein Weggehen, bis man nicht mehr weiß, ob tatsächlich noch etwas da ist oder nur das Nachbild auf den Netzhäuten. Die Stille, dass man zurückgeblieben ist.

Im Sarg lag die Großmutter wie eine Puppe im Wachskabinett. An Tauen hinab gelassen in die lehmige Ausschachtung, der starke Zitronenduft der Zypressen, der sichere Stand zwischen all den Verwandten, das Weinen und Händeschütteln eine beruhigende Verrichtung. Der Friedhof blühte wie ein Park. Alison wusste nicht mehr, wer feierte und was gefeiert wurde. Sie feierte ihr eigenes Fest, ging in steifem Leinenkleid und Strumpfhosen im Trauerzug mit, schaute nach den Vögeln und den Blumen. Sie wusste, dass sie traurig sein musste, war aber im Geheimen froh. Der Tod der Großmutter offenbarte, dass hinter dem Leben etwas wartete, etwas Großes, das die Wirklichkeit umschloss und immer da war. Etwas, worauf man sich verlassen konnte. Nichts war sicherer im Leben, als am Ende dort anzukommen. Damals war sie dreizehn.

Am selben Abend ging sie mit ihren Freunden aufs Lichterfest im Stadtpark. Menschen drängten sich auf den Wegen und den Rasenflächen, alle trugen Parafinlichter, die flackerten und rötlich schimmerten. Auf kleinen Bühnen jonglierten Schausteller und spielten Flötisten, Jupiterlampen ergossen Seen von Licht, grün und blau blinkte es unter den Bäumen, Sternfontänen prasselten. Geruch nach Parfüm, Magnesium und Bratfett. Sie streunten lange umher, bis der Park verwaiste. Am Wegrand standen die ausgebrannten Parafinbecher mit geschmolzenen Rändern, manche zuckten noch trübe. Alison hob eines auf, bevor der Docht ersoff, doch das Wachs schwappte, es wurde dunkel in ihren Händen. Plötzlich weinte sie und hörte nicht mehr auf.

Der Ehrgeiz im Schwimmen brachte sie nachmittagelang von daheim fort. Sie mochte die Gruppe, mit der sie auf Wettkämpfe fuhr, die immer neuen Schwimmstadien, das Gehen barfuß auf den Fliesen. Der Sprung ins jungfräulich glatte Wasser, erste Kälte, warmmachen. Der raue und zugleich schlüpfrige Startblock unter den Sohlen. Das triumphierende Abziehen der Bademütze nach dem Anschlag, der Blick zur Trainerin. Allmählich streckte sich Alison in die Höhe und bekam muskulöse Arme, feste Beine, eine schlanke Taille. Die ideale Figur, spornte sie die Trainerin an. Ein bisschen Krafttraining noch, und die Schultern biegsamer. Ihre Beinarbeit glich aus, was ihr an Kraft fehlte. Ihre Lieblingsdisziplin war Delphin, da war sie unschlagbar.

Zu dieser Zeit liebte sie Delphine und durfte oft mit einer Freundin ins Delphinarium des Zoos, wo deren Mutter arbeitete. Sie schaute beim Training zu, sah die Tiere geschmeidig durch die blauen Glasfluten flitzen, mühelos wenden, abbremsen, die Schnauze aus dem Wasser heben, fröhlich keckern. Es erschien ihr nicht anders, als dass die Tiere gern lebten, gern waren, was sie waren. Das Wasser war ihr Element. Seehunde ließen sich die Wasserrinne am Beckenrand entlang gleiten, einmal rundherum, und flutschten zurück ins Becken ohne Kräuselung des Wassers. Ihre Haut glänzte schwarz. Die Haut ist das Geheimnis, erklärte die Mutter der Freundin. Sie trug einen Neoprenanzug, weil sie auch ins Wasser musste, und sah selbst wie eines ihrer Tiere aus. Eine Speckschicht, die gegen Kälte isoliert, und die Oberfläche so glatt, das sie kaum Widerstand bietet. Das spart Kräfte und gibt Beweglichkeit. Auch bei den Delphinen. Fass einmal an, ermunterte sie, als das Weibchen Cindy am Rand dümpelte und auf Fisch wartete. Sie war weich, sanft, Alison rieb, als müsste sie den Wasserfilm wegwischen, aber da war kein Film. Eine seltsame Wärme, die sie nicht erwartet hätte. Die Mutter lachte, sind ja keine Fische, sondern Säugetiere. Wie wir.

Die Trainerin erzählte tags darauf, dass sich ein Schwimmer mit Fischschleim eingeschmiert und prompt den Rekord gebrochen habe. Ganz klar. Aber sie sind ihm draufgekommen, und vom NOC wurde’s verboten. Mit der Zeit entwickelten sie ein neues Material, dass Profianzüge von den herkömmlichen unterschied. Sie waren dünner, leichter, saßen nicht so stramm, dafür klebten sie fast auf dem Leib, besonders wenn sie nass waren. Sie wiesen das Wasser ab, sagte die Trainerin. Es perlte darauf wie Quecksilber. Abperlendes Wasser: Inbegriff des Sieges. Außerdem bedeckten sie mehr vom Körper als vorher, deshalb begannen auch Jungen damit zu schwimmen, und bald lachte sie keiner mehr aus. Alison sparte sich das Geld für einen zusammen, denn ihre Mutter wollte, dass sie den verantwortlichen Umgang mit Finanzen lernte. Eigentlich witzig, dachte sie. Wo doch Vater beim Finanzamt ist. Sie trug den Anzug aber nur einmal bei einem Wettbewerb, wo sie Sechste wurde, weil sie nach einem Fehlstart zu lange zögerte, um keine Disqualifikation zu riskieren. Das viele Chlor schadet deiner Haut, sagte die Mutter.

Mendels gehörte ein Haus in einem wohlhabenden Viertel, das hangwärts an einem Berg lag. Die Zufahrtswege wanden sich in Kehren, Tore und Hecken schirmten die Gärten ab. Alison hatte das Dachgeschoss für sich, ein Zimmer, ein eigenes Badezimmer und einen Fernsehraum, der eigentlich für Gäste bestimmt war. In ihrem Zimmer roch es im Sommer nach dem Holz der Wandpaneelen, nach Staub, nach getrockneten Blumen. Seidentücher hängte sie im Zimmer auf, baute Baldachine, unter denen sie sich verkroch und las, in Kissen vergraben.

Inzwischen hatte sie aufgehört zu schwimmen. Einmal vergaß sie den Tampon und zog eine rostrote Spur durchs funkelnde Wasser. Die Trainerin wurde fuchsteufelswild und schickte sie nach Hause. Irgendwie schien ihr das Bluten und all die neuen Dinge, die laut ihrer Mutter in Gang gekommen waren, nicht mehr zum Schwimmen zu passen. Ihre Haut schuppte sich noch Monate danach und blieb trocken.

Sie schwitzte selten, erhitzte sich aber in der Sonne sehr rasch. Sie saugte die Wärme auf und strahlte sie nachts, unter der Decke, wieder ab. Sie konnte sie spüren. Sie atmete Licht. Sie konnte die Sonne in sich einlassen und hüten und wann sie es wollte spenden – sich selbst. Alison wollte sich eine Bettdecke aus Seide kaufen. Weißt du noch, Alison, lachte die Mutter, das Kinderbuch, vor dem du dich so gefürchtet hast? Da wurde eine Maus von Raupen in einen Kokon eingesponnen, bis nur noch der Schwanz herausschaute. Das war entsetzlich, sagte Alison ernst. Ach was, sagte die Mutter, der hatte es warm und weich da drin.

Im Fernsehen sah sie, wie Chinesinnen die Kokons von Strohnestern pflückten, gewichtlose, zerbrechliche Pingpongbälle, sie im Wasser kochten und dann die Kuppen abschnitten und die toten Larven herausschüttelten, wie sie den Anfang des Fadens fanden und das ganze Ding von Maschinen aufgewickelt wurde. Glitzernd wie Spinnweben. Die Stoffe wurden taftig oder schwer gewoben, manche pelzig aufgeraut, manche in steifen Flächen flatternd. Seide war teuer. Auch die kaufte sie sich selbst. Unter dem Baldachin lernte sie, mit ihrer eigenen Hand die gleichen Gefühle auszulösen, wie sie die ihrer Mutter ausgelöst hatte. Das Wichtigste war, dass sie damit allein war. Sie genoss die wohlige Leere im Kopf, die das Streicheln bewirkte, die Wärme der sonnenbeschienenen Dachwand, sie ließ sich treiben und wusste endlich, dass sie jemand für sich allein war. Sie war niemand anderer als sie selbst. Die Hand, die so zärtlich zu ihr war, gehörte nicht ihr, sie gehörte einer Frau, die größer war und mehr wusste als sie. Auch das war niemand als sie selbst. Das Gefühl der Zärtlichkeit hielt noch lange an. Jedes Ding, das sie berührte und in die Hand nahm, gehörte in dieses Spiel hinein.

Mit fünfzehn besuchte sie zum ersten Mal eine Diskothek. Das war neu und aufregend. Eine beklommene Lust an der Freiheit packte sie. Hier konnte sie tun, was sie wollte, wie oben in ihrem Dachzimmer. Nur war es hier dunkel und laut. Lichter kreisten, eine Spiegelkugel zeichnete flirrende Punkte an Decke und Wände, im Zwielicht bewegte sich eine Menschenmenge, ungenau und ein bisschen gefährlich. Sie fühlte sich wohl. Schon beim zweiten Mal trennte sie sich von ihren Freundinnen und tauchte unter im Gewühl. Obwohl es nur Stunden waren, die sie bleiben durften, hatte sie das Gefühl, alle Zeit der Welt zu haben. Der kühle Geruch des künstlichen Nebels blieb ihr in der Nase und die Witterung der Nacht, draußen, bei den Mopeds, wo die Jungs herumstanden und gesehen werden wollten. Jeden Abend wartete sie darauf, dass die Lichter dunkel wurden und langsame Musik gespielt wurde, Stehblues nannten die Anderen das und tanzten mit den Jungen in enger Umarmung. Alison ahnte, dass dort etwas zu holen war, etwas ganz Anderes als zuhause unter den Seidentüchern. Sie wollte es ausprobieren. Von einem Jungen ließ sie sich zeigen, wie ein Zungenkuss ging. Es gefiel ihr nicht: Die fremde Zunge wand sich wurmhaft in ihrer Mundhöhle, bis ihr fast übel wurde, sie verstand nicht, was daran schön sein sollte. Aber es gehörte dazu. Manchmal ließ sie sich auf einem Moped heimfahren, ohne Helm, und verabschiedete sich am Gartenzaun mit einem flüchtigen Kuss auf die Wange.

Ihre Mutter hatte Verständnis und redete mit ihr darüber, eine Spirale einsetzen zu lassen. Die tötet die kleinen Biester ab, bevor sie noch weit kommen. Sie würde sie selbst einsetzen, das sei kein Problem. Ich schlafe mit keinem Jungen, erklärte Alison. Das kommt noch. Sie zögerte es hinaus bis siebzehn. Der Junge fuhr schon ein Motorrad und studierte an der Universität; er war zwanzig, Verführung Minderjähriger neckte sie ihn, als sie gerade zwischen den zerwühlten Laken nach einer Position suchten. Er hielt verdattert inne, bis sie lachte. Er drang in sie ein, ohne Sentiment und Aufwand, das Häutchen riss, ein Blutfaden, sein warmer Erguss auf den Schenkel, weil er ungeschickt war und herausrutschte. Das war’s. Hymen, dachte sie die ganze Zeit. Hymen. Nun ist’s hinüber. Hinterher wollte sie sich nicht heimbringen lassen, fuhr mit dem Fahrrad nach Hause, schwitzte, dass sie nass ankam und nachts um zwei noch unter die Dusche stieg. Die Kälte wusch sie sauber. In der Arktis, hatte sie gelesen, war sogar die Luft fast steril, weil es so kalt war. Sie blieb lange unter der Dusche, ließ das Wasser über sich rinnen, konnte nicht genug kriegen.

Die Mutter verlangte immer dringender eine Spirale. Die Pille bringt bloß deine Hormone durcheinander, sagte sie, als Frau darf man nicht alles mit sich machen lassen. Du darfst kein Risiko eingehen. Ich will keine Spirale, schrie sie. Und schon gar nicht von dir! Es kam die Zeit, in der die Türen knallten. Nie verlangte die Mutter vom Vater, er solle ein Machtwort sprechen. Stattdessen sprach der Vater heimlich mit ihr, ging hinauf, wenn die Mutter bei Vorträgen oder Tagungen war, und klopfte leise. Sie ließ ihn gern ein, wenn es zwischen ihnen auch nicht viel zu sagen gab. Er fragte sie, wie es ihr gehe und ob sie zurecht komme. Ob ihr etwas fehle. Wenn er nur lange genug wartete, begann sie zu erzählen, und er hätte dann die Chance gehabt, seiner Tochter etwas mit auf den Weg zu geben. Eine Wahrheit. Ein Ziel. Oder wenigstens einen Anhaltspunkt. Aber er verstand sie nicht, so geduldig er auch im Zuhören war. Alison war es gleich. Sie mochte ihn, sie wusste, dass sie sich auf ihn verlassen konnte. Aber sie bestimmte inzwischen selbst, was für sie richtig war und was nicht. Danke, Papa, sagte sie danach. Das Wichtigste hatte sie ihm nicht verraten.

Ihr erster richtiger Freund hieß Mark. Sie blieben sechs Monate zusammen. Er machte gerade das Abitur, sie war eine Klasse unter ihm. Mark reagierte immer ruhig und besonnen und erledigte alles mit sicheren, wohlüberlegten Handgriffen. Er war Mitglied eines Vereins und tauchte in Höhlen, mit Anzug und Luftgerät, er legte Sicherungsleinen und vermaß die Räume dort unten, in denen er tagelang unterwegs war. Zwischenlager, Steigeisen zum Überwinden von Wänden, wasserdicht verpackte Kamera, an alles war gedacht. Alison grauste bei dem Gedanken daran.

Sie ging einmal mit auf eine solche Exkursion. Das Höhlentor verengte sich rasch, der plätschernde Bach schoss in einer Rinne neben dem Pfad, bis sie knietief ins eisige Wasser hinein steigen mussten, um weiterzukommen. Der Neoprenanzug schützte zwar leidlich gut vor der Kälte, zudem wurde ihr warm von der Anstrengung. Nasstauchanzug: eine feine Wasserschicht zwischen Haut und Anzug, die sich erwärmt. Aber die Schwärze und die Enge setzten ihr zu. Kriechen mussten sie, Lehmröhren entlang, durch schulterbreite Durchschlüpfe, und alles mit dem schweren Gerät im Schlepptau.

Beim ersten Siphon weigerte sie sich. Wie die Höhlendecke ins schwarze Wasser eintauchte, war einfach zu gruselig. Wir lassen das Gerät noch hier, sagte er ruhig. Für den Siphon brauchen wir es nicht. Wir tauchen einmal durch und wieder zurück. Damit du dich daran gewöhnst. Lass auf keinen Fall die Leine los. Sie packte die signalgelbe Kunstfaserleine, holte Luft und tauchte Mark hinterher. Marks Lichtkegel war verschwunden, er war schon drüben. Sie versuchte, betont ruhig zu atmen und nur verhaltene Bewegungen zu machen, sie gelangte ohne Schwierigkeiten auf die andere Seite. Siehst du, es geht. Und jetzt wieder zurück. Und wenn du dann willst, machen wir weiter.

Diesmal ließ er sie vor. Sie stieß an eine Felszacke, so dass ihr die Taschenlampe aus der Hand fiel. Die Lampe versank sofort im Schlick, eine Wolke stieg auf und trübte die Sicht, Alison ließ die Leine los und tastete nach der Lampe. Sie fand sie, aber der Kegel beleuchtete nur Wolkenwände aus aufgewirbeltem Schlamm, die sich um sie schlossen. Sie geriet in Panik. Plötzlich wusste sie nicht mehr, wo oben und unten war, sie schwamm los und prallte gegen Fels, sie hatte vollkommen die Orientierung verloren. Sie presste die Lungen zusammen, um nicht den Mund aufzureißen vor Hunger nach Luft. Da spürte sie, wie Mark den Arm um sie legte und sie kräftig mit sich zog, am Seil entlang, durch den Siphon hindurch und an die Oberfläche.

Scheiße, fluchte sie. Scheiße! Nie wieder, jappste sie. Du hättest die Leine nicht loslassen dürfen, sagte er sachlich. Licht brauchst du ja keins. Besserwisser! Ich hätte ersaufen können! Hinterher bekam die überstandene Gefahr etwas Aufregendes. Das Anpacken und Sichzusammenreißen, das hatte etwas Handfestes. Nur keine Verzückung oder sanften Berührungen mehr, dachte sie.

Der Grund, warum sie sich von Mark trennte, war aber nicht das Tauchen. Wenn sie sich in seinem Zimmer trafen, rutschte er nachts an sie heran. Sie hörten Musik, Alison rauchte. Sie verfolgte reglos, wie er sie langsam auszog, T-Shirt, Jeans, Unterhemd. Dann stoppte sie ihn. Sie küssten sich und fanden schnell heraus, wo der Körper des Anderen empfindlich reagierte. An ihre Scham ließ sie ihn nicht, der Slip musste dazwischen sein, sie lernte, ihn mit den Schenkeln zu befriedigen. Auf die Dauer genügte ihm das nicht, und obwohl sie behauptete, keine Pille zu nehmen, hinderte ihn das nicht an weiteren Versuchen. Dann eben mit Kondom, sagte er. Das wollte sie auf keinen Fall. Vielmehr begann sie, Wäsche zu tragen, möglichst viel Stoff, am besten Korsetts mit Strümpfen, damit sie ihn so wenig wie möglich berührte. Das hatte sie in einem Warenhauskatalog gesehen. Mark gefiel das, er merkte nichts. Erst, als sie sich die Wäsche gar nicht mehr ausziehen lassen wollte, sondern sie beim Sex anbehielt, wurde es ihm zuviel. Ich will mit einem Mädchen zusammen sein, sagte er und hatte einen seltenen Sarkasmus in der Stimme, und nicht mit einem Model. Schade, sagte sie, ich dachte, du stehst darauf.

In der Schule hieß sie nun schlicht Al. Sie trieb auf dem Flohmarkt einen weiten Herren-Trenchcoat auf mit Gürtel, Schulterklappen und Rückenfalte. Der wehte herrlich im Wind, sie konnte ihn um sich schlagen und sich darin verkriechen, wenn es sein musste, und dazu trug sie eine wollene Schildmütze aus Irland. Sie liebte den Mantel. Im Sommer ging sie nächtelang darin spazieren und trug oft nicht mehr darunter als ihren Slip. Niemand merkte das. Sie kaufte an einer Tankstelle eine Dose Cola und grinste den Tankwart an: Wenn du wüsstest. Wenn es regnete, ließ sie das Wasser in die Manteltaschen laufen, genoss den Geruch des warmen Regens und des durchtränkten Stoffes. Manchmal dachte sie: Schade, dass der Stoff nicht imprägniert ist. Sie würde gerne die Tropfen daran abperlen sehen. Sie wäre in der Nacht, auf den Straßen, gerne unberührbar, nackt und wohlig, die Kühle des Futters am Leib, unerkannt von allen.

Als die Mutter darauf drängte, die Reihenuntersuchung vorzunehmen, weigerte Al sich. Du spinnst ja, schrie sie. Es gibt genug andere Ärztinnen. Mich kriegst du nicht mehr in deinen Stuhl. Zum ersten Mal zeigte sich die Mutter betroffen. Sie musterte ihre Tochter und erkannte, dass sie hübsch geworden war. Die gute Figur war geblieben, das Gesicht gewann Profil, die Haut war zart und sauber. Sie war ein paar Zentimeter größer als die Mutter. Ich meine es nur gut, sagte sie resigniert. Du bist meine Tochter. Aber wenn du zu einer anderen Ärztin gehen willst, dann tu das. Al nickte nur und ließ sich bei jenem Gynäkologen einen Termin geben, der ihr schon die Pille verschrieben hatte. Er kannte ihre Mutter nicht, und seine Hände waren behutsam und väterlich.

Nach dem Abitur sollte Al auf die Universität gehen. Jura oder Medizin oder so etwas. Sie schrieb sich vorerst für Germanistik, Psychologie und Empirische Kulturwissenschaft ein, wechselte dann zu Germanistik und Politologie, brach aber nach dem vierten Semester ab. Das Studentenleben gefiel ihr, auch wenn sie noch in ihrem Zimmer zuhause wohnte. In den großen Sälen zu sitzen, Schreibblocks auf den Bänken und umgeben von Hunderten von Menschen; von einem Gebäude und von einer Vorlesung zur nächsten unterwegs zu sein; nichts tun zu müssen als zu lesen, mitzudenken und dabei zu sein – das war noch mehr Freiheit als in den Discothekennächten. Alles schien ihr möglich, gerade an den Abenden in den Straßencafés, den Kammertheatern, am Fluss. Aber sie genügte den Anforderungen nicht. Ihre Hausarbeiten, die sie ablieferte, waren schlampig und verfehlten das Thema. Was sie las, interessierte sie zwar, aber sie verstand nicht viel. In den Seminaren sagte sie nie etwas. Der Mutter gegenüber begründete sie ihre Zweifel am Studium damit, dass sie einen soliden Beruf erlernen wolle, um bald eigenes Geld zu verdienen. Der Vater nickte traurig, schade, sagte er, sie wusste nicht, worauf sich das bezog.

Du kannst im Haus wohnen bleiben, so lange du willst, sagte die Mutter. Wir werden es vermieten, wenn ich –

Vermieten? Wieso?

Vater und ich, begann die Mutter, da wusste Al schon Bescheid. Wir haben es uns gründlich überlegt, Alison, glaub mir. Seit Jahren schon merken wir, dass unsere Ehe keine Grundlage mehr hat und –

Aber Alison hörte nicht mehr zu. Sie zog ihren Mantel an und fuhr mit der U-bahn ins Zentrum, dort traf sie sich zum Kino, sie stand eingezwängt in der Menge, das war’s also wieder einmal, dachte sie. Im Gedränge berührten sie die Menschen, der Mantel schützte sie. Nach dem Film saßen sie zu dritt in einer Pizzeria, sie behielt den Mantel an, besoff sich an Cinzano, weil der tomatenrot im Glas stand, und kotzte auf dem Heimweg einem Auto auf die Scheibe. Die letzte U-bahn war weg, die Schuhe rieben an der nackten Ferse. Sie schaute zu den Hochhäusern und Versicherungsbauten hinauf, erinnerte sich an die Heldin aus dem Kinofilm, dort könnte sie im Wolkengrau von Dach zu Dach hüpfen und immer auf den Füßen landen, egal aus welcher Höhe. Ich bin wie eine Katze, sagte sie träge und großspurig. Ich lande immer auf den Füßen. Eine Katze hat sieben Leben. Die bringt so schnell nichts um.

SUBCUTAN Die Vorlesungen besuchte sie noch. Sie wusste, es würde nicht mehr lange dauern. Ihr fehlten alle Scheine für die Zwischenprüfung, verlängern hatte auch keinen Sinn. Wovon redet ihr eigentlich?, kokettierte sie im Seminar in den Pausen. Ich lese ein Buch einfach. Und sie grinste, wenn die anderen sich ereiferten und Argumente auffuhren, um sie von der Berechtigung der Wissenschaft zu überzeugen. Der Dozent bat sie einmal, unter vier Augen in seinem Büro, sich zurückzuhalten, wenn sie schon kein Interesse an ernsthaftem Studium habe. Ach wissen Sie, erwiderte sie. Nein, Sie wissen, unterbrach er sie. Und zwar, dass ich so eine Einstellung in meinem Seminar nicht dulde. Scheißkerl, dachte sie. Wehr dich doch, riet ihr Tommy. Der kann dich nicht einfach rausschmeißen. Tommy, Lieber, sagte sie und strich ihm über die Wange.

Tommy war einer der Wenigen, die sie mit nach Hause nahm, das kein Zuhause mehr war. Die Treppe ins Dachgeschoss verlief außerhalb des Wohnbereichs, ihre Mutter kam sowieso erst spät heim. Seit Vater ausgezogen war, wirkte das Haus verwaist. Mutter hatte begonnen, ihren neuen Kerl mitzubringen. Zwar übernachtete er noch nicht hier, aber das würde nicht lange auf sich warten lassen. Al wollte ihn erst gar nicht sehen. Vater war in einen anderen Stadtteil gezogen. Am liebsten, hatte er gesagt, würde ich in ein anderes Land ziehen. Aber das geht nicht mit meiner Stelle. Armer Papa, erwiderte Al bitter und mitfühlend. Es ist so demütigend, sagte er und fing an zu weinen. Al wollte das nicht sehen und ging hinaus. In der Tür drehte sie sich um und sah ihn da sitzen, vornüber gesackt im Sessel, ein grauer Mann im zerknitterten Anzug, als gäbe es was zu feiern.

Tommy war süß. Er schaute sich in ihrem Zimmer um, schaute die Buchrücken durch, beguckte die Poster, die an den Wänden hingen. Wonach riecht es hier?, fragte er. Gras, sagte sie. Willst du was? Gras? Er blickte sie groß an. Ach Quatsch, ich mach bloß Spaß. Vor dem Poster mit der Katzenheldin blieb er lange stehen. Warst du drin?, fragte er irgendwann, als sie Wein tranken und Musik hörten. Sie nickte. Gefällt sie dir?, fragte sie ihn und grinste, als er wegschaute. Sie ist schön, antwortete er. Tommy, Tommy, zog sie ihn auf. Du und deine botanischen Schwarten. Lies lieber mal was Ordentliches. Hier, sagte sie und hielt ein Paperback hoch. Buch von einer Amerikanerin. Gibt’s noch nicht in Deutsch. Tommy nahm gehorsam das Buch, blätterte darin, legte es wieder weg. Al lachte. Aber der Lackfummel, den sie im Film anhat – der gefällt dir, oder was? Tommy stand auf, und ehe Al in seinem Gesicht sehen konnte, was passiert war, schnappte er seine Jacke und war zur Tür hinaus. Sie lief ihm zwei Treppen hinterher, dann hörte sie die Haustür schlagen. Sie überlegte noch, ob sie versuchen sollte, ihn einzuholen, als ein Schlüsselbund klirrte und ihre Mutter im Vorraum stand.

Hallo, Alison. Gehörte der junge Mann zu dir? Sie lächelte süffisant. Dann drehte sie sich zu dem Schatten um, der in der offenen Tür stand. Darf ich dir vorstellen? Das ist Gregóry. Freut mich, Sie kennen zu lernen, sagte der mit Akzent und streckte seine Hand hin. Eine Arzthand, das spürte Al sofort. Sie behielt sie lange in ihrer, lächelte Gregóry an, bis er sie zurückzog. Sie sind Arzt, nicht wahr? Ich komme aus Ungarn. Willkommen zuhause, sagte sie und strahlte ihn an. Behandeln Sie auch Frauen? Er schüttelte zögernd den Kopf, wechselte einen Blick mit der Mutter. Die hängte den Mantel an den Haken und ging hinein, ließ ihn stehen mit ihrer Tochter. Sie hätte sowieso nichts gegen Als Animositäten machen können. Animositäten. So nannte sie es. Klang wie eine Gehirninfektion.

Ich bin Internist, antwortete Gregóry.

Aber meine Mutter werden Sie doch behandeln im Lauf der Zeit, nicht wahr? Al lächelte immer noch.

Hören Sie zu, sagte er ruhig und freundlich. Was zwischen Ihren Eltern geschehen ist, tut mir aufrichtig leid. Und dass Sie darunter leiden, verstehe ich. Aber lassen Sie sich versichern, dass nicht ich der Grund dafür war.

Kann ich mir auch nicht vorstellen, lächelte Al, hätte aber am liebsten losgebrüllt. Wie schön, wenn es irgendein Schwein gegeben hätte, das dafür verantwortlich gewesen wäre! Den sie dafür hassen könnte! Sie drehte sich um und stieg langsam die Treppe hinauf. Nach ein paar Stufen sagte sie über die Schulter hinweg: Tut mir leid, Gregóry.

Tommy studierte Botanik. Sie mochte ihn, hänselte ihn gern, war aber vorsichtiger mit ihm als zuvor. Einmal fragte sie ihn rundheraus, ob er sie auch schön fände. Tommy schaute sie von oben bis unten an, damit hatte sie nicht gerechnet, und meinte trocken: Ein bisschen schon, ja. Und lachte. Warum fragst du? Ihr wäre im Traum nicht eingefallen, mit ihm zu schlafen. Seine Antwort machte sie nur schwermütig, aus einem Grund, den sie nicht herausfand.

Im dritten Semester gewöhnten sie sich an, jeden Mittwoch im Botanischen Garten der Universität spazieren zu gehen. Sie hatte erwartet, dass er ihr alle möglichen Kräuter erklären würde, die Chromosomenzahl kaukasischer Wildgräser oder dergleichen, aber er blieb schweigsam. Besonders zog es ihn in die Treibhäuser. Die Luft legte sich beim Eintreten warm und dick um sie, Al spürte die Gunst des Klimas direkt auf der Haut, die Feuchte gefiel ihr und dass sie tatsächlich ins Schwitzen kam. Ein feiner Film bildete sich auf ihren Armen, ihr Nacken war, wenn sie hinfasste, kalt, die Haare klebten. In der Nutzpflanzenabteilung bestaunte sie die unansehnlichen, fleckigen Früchte Die waren hier sozusagen authentisch. Sie stellte sich vor, auf so einen Baum hinaufzuklettern, die glatte, feinnarbige Rinde, die dicken Äste und breit gefächerten Blätter, Schirme unterm Sonnenhimmel weit oben. Pflücken und die Haut schälen, die Fasern aufbrechen, das Fleisch herauszupfen mit den Zähnen und mit der Zunge zerdrücken, die Samen ausspucken, dass sie die große Höhe hinab fielen bis auf den Erdboden.

Tommy war sehr nachdenklich. Weißt du, sagte er, als sie einmal auf einer Bank saßen, ich möchte später in den Tropen arbeiten. Schon als ich ein Kind war, erzählte er melancholisch und altklug, wollte ich die Tropen sehen. Den Regenwald. Dort könnte ich, er zögerte und schaute sie an, wägte ab, ob sie eines Geheimnisses würdig war, Frieden finden. Sie strich ihm über die Wange und fragte leise: