Das Duell

 

I.

Drei Universitätsfreunde, der Burschenschaft angehörig, mit nicht gewöhnlichem Eifer allem Zeitbewegenden zugewandt, hatten einander, als sie mit Ablauf desselben Semesters in das Philisterland abreisten, das feierliche Versprechen gegeben, an einem bestimmten Tage nach zehn Jahren in der Reichshauptstadt zusammentreffen zu wollen, nicht nur, um ein hoffentlich fröhliches Wiedersehen mit einem guten Glase Wein zu begießen und dabei der schönen Studentenzeit zu gedenken, sondern vielleicht mehr noch zur Prüfung, ob man in allerhand Hauptfragen des Lebens einig geblieben und auch weiter geneigt sei, dieselbe Richtung, wenn schon auf verschiedenen Straßen, einzuhalten. In zehn Jahren, hatten sie gemeint, könne sich so viel verändert haben, dass gleichsam ein neues Losungswort ausgegeben werden müsste: könne man das finden, so sei es gewiss ein gutes Zeichen fortdauernder innigster Zusammengehörigkeit.

Sie hatten in Leipzig und Heidelberg, zuletzt in Berlin studiert, und hier warteten sie einander nun vor einem Hause in der Dorotheenstraße ab, in welchem sich damals eine gemütliche Weinkneipe befunden hatte, die den Rendezvousplatz abgeben sollte. Das alte, noch an die Zopfzeit erinnernde Haus war inzwischen niedergerissen und durch einen Bau von doppelt so vielen Stockwerken ersetzt, die nun sämtlich anderen Zwecken dienten. Sie kundeten aber den Wirt aus, der eine Straße weiter sein altes Weinlager gekellert und eine Trinkstube ungefähr im früheren Stil eröffnet hatte. Dort saßen vormittags und abends die Gäste, denen es noch immer mehr auf einen guten Tropfen als auf eine glänzende Ausstattung des Lokals ankam, an einfachen Holztischen, und hier fanden auch die drei Freunde eine stille Ecke, in der sich's behaglich von Vergangenheit und Zukunft heiter und ernst plaudern ließ. Vom Briefschreiben hielten alle drei nicht viel, so dass sie das wenige nicht ganz Berufsübliche, was jedem in dem Dezennium passiert war, meist erst jetzt erfuhren. Auch das eigentlich nur in kurzen Randbemerkungen. Es geht alten Freunden so, dass sie lange Zeit fast für einander tot zu sein scheinen und beim Zusammentreffen die Empfindung haben, nie getrennt gewesen zu sein.

Der eine – Arnold Runge – hatte erst Theologie, bald aber, seine Freigeistigkeit fürchtend, Philologie studiert und war Gymnasiallehrer irgendwo in Schlesien, hatte auch geheiratet und sogar schon zweimal taufen lassen. Ein rechter Brausekopf, mit aufstehendem rotblondem Kraushaar und zwei breiten Schmarren über der linken Backe bis in den Mundwinkel hinein, jetzt nach der dritten Flasche wieder stark gerötet. Er zuckte immer mit den Augenbrauen, als bemerkte er unter dem Schultisch eine verbotene Version, und schlug gewohnheitsmäßig gern mit der Hand auf den Tisch, die Blicke auf sich zu lenken. Keine Minute lang saß er fest auf seinem allerdings nicht bequemen Holzstuhl, schnaufte, räusperte sich, führte auf der Tischplatte sein Glas in allerhand Figuren herum und Zigarre, indem er sie nach jedem Zuge auf einen Aschteller stippte und unten breit auseinander trieb.

»Ich denke, der Reden sind genug gewechselt,« rief er, »Taten seh'n.«

»Was heißt das?« fragte sein Nachbar zur Linken. Veit Glauberg, der nach mancherlei naturwissenschaftlichen und nationalökonomischen Studien den philosophischen Doktor gemacht, dann weite Reisen unternommen und endlich einen reichen Onkel beerbt hatte, dessen Fabriken sich eines weiten Rufes erfreuten; »du bist ja doch bisher scharf in der Opposition gewesen, Arnold.«

»Ja, ich habe meine Gründe vorgebracht und mit Eifer verfochten,« antwortete dieser, »das war meine Schuldigkeit. Aber wenn eure Gründe besser sind ... Ich habe einen gewaltigen Respekt vor der Logik und Vernunft. Ist das Duell, von allen Seiten angesehen, Unsinn, so ist es eben Unsinn und muss sobald als möglich aus der Welt geschafft werden. Was wir drei dazu tun können, das sind wir verpflichtet zu tun. Denn: wer die Wahrheit kennet und saget sie nicht – und so weiter. Es dass man als Student fleißig auf der Mensur gestanden und mit dem Schläger in der Hand gelobt hat, die Ehre über das Leben zu setzen.«

»Unsere Gesichter sind ja genügend gezeichnet,« meinte Glauberg lachend und den braunen Vollbart behäbig ausstreichend. »Man wird uns glauben, dass wir auf der Universität nicht feige Hunde gewesen sind. Überhaupt die Schlägermensuren der Studenten! – reden wir davon nicht. Unsinn sind sie natürlich auch, aber das steht auf einem anderen Brett. Mit der Frage, ob ein Ehrenmann moralisch verpflichtet und berechtigt ist, seine verletzte Ehre mit den Waffen zu rächen, haben sie kaum etwas zu tun. Gefährliche Spielerei, nichts weiter! Allenfalls ein pädagogisches Mittel, die Mannhaftigkeit zu stärken. Ist man mit der Schule fertig, so soll man zusehen, was das Leben fordert. Und ich bleibe dabei, das jetzige Duellunwesen ist eine schwere Gefahr für die bürgerliche Gesellschaft, die nur durch das entschlossene und mutige Zusammenstehen aller ernstlich Besorgten eingedämmt und beseitigt werden kann.«

»Ich bin ja schon mit dir einverstanden,« knurrte der Gymnasiallehrer, indem er mit dem kleinen Finger die glühenden Deckblattfetzen seiner Zigarre so eifrig abstrich, muss sich nur dazu entschließen, ein gesellschaftliches Vorurteil auf seine Vernünftigkeit zu prüfen, dann ist es schon halb abgetan.«

Es war also die Duellfrage, mit der die Freunde sich beschäftigt hatten. In letzter Zeit hatten sich so erstaunlich viel Fälle zur öffentlichen Kenntnis gebracht, in denen der Ehrenkodex eines exklusiven Teils der Gesellschaft blutige Opfer forderte, dass mit Recht die Besorgnis entstehen konnte, diese prinzipielle Missachtung des göttlichen und staatlichen Gesetzes müsse wie eine ansteckende Krankheit auch die gesunden Glieder des Volkskörpers ergreifen und völlig demoralisierend wirken. Es lag für drei nachdenkliche Männer, die in der studentischen Verbindung dem Duellzwange gehuldigt hatten, Reserveoffiziere geworden waren und in gesellschaftlichen Kreisen verkehrten, die ihnen bei entstehenden Konflikten nach der landläufigen Meinung bestimmte Verpflichtungen auferlegten, genug Anlass vor, nach festen Grundsätzen für ihr Verhalten zu suchen. Gelang es ihnen, sie aufzufinden und zu befestigen, so hatte der Freundschaftstag mindestens ein wichtiges Ergebnis.

Der Amtsrichter Walther von Dürenholz, welcher gegenüber saß und den etwas massiven, aber im Profil feingeschnittenen Juristenkopf in die Hand stützte, hatte sich anfangs bei der Debatte sehr lebhaft beteiligt, zuletzt aber schweigend zugehört. Die klugen grauen Augen wanderten von dem einen der Sprechenden zum anderen, bald sich weit öffnend, wenn das Gespräch eine überraschende Wendung nahm, bald ruhig abwartend, ob sich ein gangbarer Weg zeigen werde. »Ich glaube, liebe Freunde,« sagte er jetzt, indem er sich vom Tisch aufrichtete und in den Stuhl zurücklegte, »wir haben den Stoff erschöpft und können gleichsam zur Abstimmung schreiten. Sie wird nötig werden, obgleich unsere Meinungen kaum noch in irgendeinem wesentlichen Punkte auseinanderzugehen scheinen. Es war ja vorauszusehen, dass Männer von unserer Sinnesart und Bildung sich dem Verdikt gegen das Duell anschließen würden. In der Tat erweisen sich alle Gründe, die es verteidigen sollen, als bloße Scheingründe, mit denen höchstens dargetan werden kann, dass unsere gesellschaftlichen Zustände noch so barbarisch sind, bei Verletzungen der sogenannten Standesehre ein so gesetz- und vernunftwidriges Ausgleichsmittel zu brauchen. Es scheint kein Fall konstruierbar, in welchem das Duell wirklich als eine sittliche Notwendigkeit anerkannt werden müsste. Wenn wir nun aber darüber einig sind, so stehen wir vor der anderen Frage: Was haben wir zu tun, um dieser Erkenntnis, soweit es an uns ist, Anerkennung zu verschaffen? Ist es genug, dass wir unsere Ansicht überall offen vertreten, wo man sie nicht will gelten lassen? Oder ist es auch unsere Pflicht, uns untereinander verbindlich zu machen, ihr jederzeit und in jedem Falle nachzuleben? Nur wenn wir dazu entschlossen sind, hat unser Urteil Wert.«

»Aber das versteht sich doch eigentlich von selbst,« polterte Arnold, »dass wir handeln, wie wir denken. Ich wenigstens –«

»Na – zwischen Theorie und Praxis klafft manchmal ein weiter Spalt,« fiel Glauberg bedächtig ein. »Ich meine doch, Walther hat recht, muss. Die menschliche Natur ist schwach.«

»So wird sie auch nicht stärker durch ein Versprechen.«

»O doch! Man hat einen Riegel vorgeschoben, der das Ausbrechen erschwert.«

»Und worauf sollten wir einander das Wort geben?«

»Darauf,« antwortete Dürenholz mit ruhigem Ernst, »dass wir nie, was auch geschehen sei und in Zukunft geschehe, eine Forderung ergehen lassen oder annehmen! Nie – und unter keinen Umständen! Ja, liebe Freunde, das ist die Konsequenz. Haben wir nicht den Mut, für uns die Möglichkeit des Nachgebens gänzlich auszuschließen, so ist es besser, wir lassen die großen Worte. Nur das einfache im Voraus gesprochene Nein überhebt uns aller Bedenken und gibt unserem Handeln für jede Lebenslage Festigkeit. Ich weiß, was das sagen will, und deshalb dringe ich darauf, dass wir völlige Klarheit schaffen.«

Glauberg ließ den Weinrest in seinem Glase umlaufen und blickte nachdenklich vor sich hin. »Ganz recht,« bemerkte er, »man stellt sich möglicherweise eine schwere Aufgabe.«

»Eine sehr schwere,« bestätigte der Amtsrichter. »Was mich selbst betrifft – meine Berufstätigkeit erfordert mitunter ein rücksichtsloses Vorgehen, und das richterliche Ansehen will gegen jeden verletzenden Angriff gewahrt sein. Mein Name, auch wenn er mir nur ein Name ist, weist mich äußerlich einem Stande zu, der von jeher für sich eine besondere Ehrenstellung in Anspruch genommen hat. Was für Anschauungen in Offizierskreisen gelten, ist bekannt, und mein künftiger Schwiegervater, obgleich jetzt außer Diensten, gehört zu ihnen und steht, wie ich weiß, auf einem Standpunkt, der dem meinigen gerade entgegengesetzt ist. Gleichwohl bin ich bereit, euch mein Wort zu verpfänden, dass ich ehrlich bemüht sein will, jede Versuchung niederzukämpfen, was ich mir auch vorher schon zur Gewissenspflicht gemacht hatte. Folgt mir oder nicht – meine Wahl ist getroffen. Wenn wir uns nach zehn Jahren wiedersehen, hoffe ich von mir sagen zu können, dass ich mir selbst treu geblieben bin.«

»Hoffentlich als wohlbestallter Rat bei einem Obergericht, glücklicher Ehemann und Familienvater,« fügte Glauberg hinzu, worauf er seinen Wein austrank und den Rand des umgekehrten Glases auf seinen Daumennagel setzte.

Arnold Runge legte den Arm mit der geöffneten Hand über den Tisch. »Schlagt ein,« rief er mit nicht mehr ganz leichter Zunge. »Drei für einen – und gleiche Brüder, gleiche Kappen! Ich verspreche, solange ich bei gesunder Vernunft bin –«

»Es bedarf unter uns keines feierlichen Abkommens,« fiel Dürenholz ein, indem er seine Hand nahm und schüttelte. »Gelobe jeder sich selbst, was er meint sich geloben zu können. Und Handschlag darauf, dass es ihm ernst ist.«

Glauberg fügte seine Rechte dazu. »Dies sei unser Rütli,« sagte er. »Und nun die letzte Flasche! Einem so guten Werk muss man die Champagnertaufe geben.«

»Ohne davon noch weiter zu sprechen,« ergänzte der Amtsrichter spitz.

»Ja, trinken wir eine letzte recht vergnügte Flasche,« bestätigte Runge und winkte dem Kellner in der blauen Schürze, der schon schläfrig in der Ecke saß, »aber nicht mit schäumendem Zuckerwasser gefüllt, sondern eine spinnwebige, die an die gute alte Zeit erinnert, in der man beim Wein nicht so tiefgründige Gespräche zu führen, aber zu singen pflegte: Es hatten drei Gesellen ein fein Kollegium –« Er sang wirklich, griff aber den Ton zu hoch und kam mit der Stimme nicht hinauf. »Ah! zum Kapellmeister tauge ich noch immer nicht.«

Dafür trank er den größten Teil des edlen Rüdesheimers allein aus. Als der letzte Tropfen getilgt war, brachen die Freunde auf. Dürenholz musste zur Bahn, da sein Urlaub am anderen Tage ablief. »Auch ist die Sehnsucht nach der Braut gewiss groß,« bemerkte Glauberg. »Mein Himmel, wir haben über sie noch so wenig gesprochen; ich glaube, nicht einmal den Namen hast du uns genannt, und wenn wir nicht den verräterischen Ring an deinem Finger bemerkt hätten, wer weiß, ob wir überhaupt von dem großen Ereignis etwas erfahren hätten. Wann wird denn die Hochzeit sein?«

»Hoffentlich nun bald,« antwortete Dürenholz lächelnd. »Die Beschaffung der Ausstattung machte Schwierigkeit. Meine Braut ist ganz unvermögend, und ich habe auch nur mein Gehalt. Der alte Oberstleutnant hat sehr strenge Ansichten. Er will keines Menschen Schuldner werden und erlaubt auch mir nicht einmal, das erforderliche kleine Kapital aufzunehmen. Was durchaus erforderlich, wollte er von seiner Pension nach und nach ersparen. Das ging natürlich nicht schnell. Wir mussten eine lange Weile unsere Verlobung geheim halten. Vor einem halben Jahre ist sie publiziert, und jetzt, denke ich, sind wir bald am ersehnten Ziel. Dann hab ich freie Hand, das Fehlende nachzuliefern.«

»dass du mir nur eine Zeile zu schreiben brauchst –« sagte Glauberg, ihm die Hand auf die Schulter legend.

Dürenholz nickte. »Das Darlehn dürfte diesmal kaum fürchten, sich und den Freund zu verlieren,« erwiderte er, »aber – ich bekomm's überall leicht, da ich in eine Lebensversicherung eingekauft bin.«

»Aber auf dein bloßes Angesicht –«

»Gut, gut! Ich kenne ja deinen Leichtsinn ausreichend.«

Glauberg seufzte: »Meinen Leichtsinn! Ich wollte, du hättest recht. Ich bin aber eher zu schwerblütig seit Übernahme der Fabriken, in die ich mich erst hineinleben muss, etwas verschüchtert, wage mich an die Frauenzimmer nicht recht heran, verstehe nicht zu leben, wie ich könnte, schäme mich, unsinniges Geld zu verdienen, da ich es nicht ebenso unsinnig auszugeben weiß. Zum Glück hab ich einen verbummelten Schwager, der von Zeit zu Zeit einen Teil des Überflusses abzapft. Jetzt hab ich ihm ein großes Blatt gekauft, da er von Hause aus Literat ist, und da wird's wohl eine Weile dauern, bis er abgewirtschaftet hat. Übrigens soll er als Redakteur recht geschickt sein.«

So plaudernd langten sie auf dem Bahnhof Friedrichstraße an.

»Ich nehme euch nicht mit hinauf,« sagte der Amtsrichter. »Suchen wir uns einen stillen Winkel hier in der Halle zur letzten Umarmung.« So geschah es. Dann an der Treppe trennten sie sich.

II.

Der Oberlehrer ging nicht ganz sicher; er hatte seinen Arm in den Glaubergs gelegt und stützte sich merklich auf ihn. »Trinken wir noch eine Tasse Kaffee?« fragte er, als sie in die Nähe der Linden kamen.

»Ich habe nichts dagegen,« antwortete Glauberg. »Dürenholz ist doch noch immer der Alte. Ich hörte unseren Senior sprechen, wie er damals gegen die Korps zu Felde zog, die Verderber des studentischen freien Geistes, und gegen die Indifferenten, die auch als Männer nicht Partei ergreifen, sondern sich um alle zeitbewegenden Fragen herumdrücken würden.«

»Ja,« bestätigte Runge weinselig kichernd, »er ging immer auf das Ganze. Und das ist seine Art auch heute noch. Immer auf das Ganze! Er kann's einmal – hi, hi, hi – zu etwas ganz Großem bringen, oder – da drüben ist das Café Bauer.«

Sie steuerten darauf hin. Glauberg, der ein Hüne von Gestalt war, hielt den Begleiter fest am Arm und brachte ihn auch sicher durch die große Glastür.

Es war schon spät in der Nacht und das Lokal gefüllt. Rechts hatte ein Dutzend Herren an zusammengeschobenen Tischen Platz genommen. Sie unterhielten sich sehr laut. Es befanden sich darunter auch einige jüngere, aber die meisten hatten das Aussehen gereifter Männer in den Dreißigern oder Vierzigern. Alle trugen sie Farbenbänder, zum Teil über den Rock gehängt. Die roten Gesichter und lallenden Stimmen bewiesen, dass sie scharf pokuliert hatten. Es waren augenscheinlich alte Herren einer studentischen Verbindung, die von irgendeiner Festfeier kamen und noch lange nicht Lust hatten, nach Hause zu gehen.

Glauberg blickte über den Kreis hin, stutzte und blieb stehen. »Gehen wir lieber wo anders hin,« sagte er.

»Weshalb?«

»Es ist hier zu voll.«

»Ach – ein paar Stühle finden wir schon noch.«

»Nein, komm! Da sitzen auch alte Herren von den Sueven.«

»Wo?« Er sah nach rechts. »Ah ja. Was tut das? Sie sollen sich doch nicht einbilden, dass wir uns vor ihnen drücken?«

»Sie haben uns noch nicht bemerkt.«

»Gleichviel. Denen geh ich nicht aus dem Wege – denen aus keinen Fall!« Er zog Glauberg weiter in den Saal hinein.

»Wir haben getrunken,« wehrte dieser, »und sie haben getrunken. Man kann nicht wissen –«

»Aber ich bin ganz nüchtern,« versicherte der Oberlehrer, »und überhaupt – was gehen uns die Kerls an?«

»Nichts. Das vergiss doch nicht.«

Es war nur noch ein kleiner Tisch ganz in der Nähe der lustigen Gesellschaft frei. Sie setzten sich und bestellten Kaffee.

Glaubergs Vorsicht war sehr gerechtfertigt. Die Burschenschaft, welcher die Freunde angehörten, war bei Gelegenheit eines Fackelzuges, durch den der Rektor geehrt werden sollte, mit dem Corps Suevia in Streit geraten. Die Corps hatten den Vortritt beansprucht, es war aber durchgesetzt worden, dass die Reihenfolge durch das Los bestimmt werden sollte. Die Sueven hatten eine tiefere Nummer gezogen, drängten sich aber, als der Zug schon in Bewegung kam, plötzlich vor und schoben sich so ein, dass sie die Burschenschaft hinter sich ließen. Nach dem Zusammenwerfen der Fackeln kam es zu einer Rempelei, bei der die Sueven unterlagen. Es folgten von dieser Seite massenhaft Forderungen auf Pistolen. Sie wurden abgelehnt, solange das Corps eine öffentliche Entschuldigung wegen der frechen Eigenmächtigkeit unterlasse. Darauf war gegenseitige Verrufserklärung erfolgt. Mehrere Jahre später wurde zwar, nachdem beide Verbindungen vom Senat suspendiert waren, ein Ausgleich erzielt; doch fraß der Groll weiter. Runge und Glauberg hatten der Burschenschaft gerade zu der Zeit angehört, als jener Konflikt ausbrach, und es befanden sich unter den Herren nebenan mehrere, die bei der Holzerei Prügel bekommen hatten. Es ließ sich nicht voraussetzen, dass sie sich jetzt ruhig verhalten würden, wenn sie die Gegner erkannten.

Und das geschah sehr bald. Man gab sich über die zusammengerückten Tische hin Winke. Ein Dicker, der den Hut von der heißen, mit Narben bedeckten Stirn zurückgeschoben hatte, schnupperte auffällig mit der roten Nase in der Luft herum und äußerte, es rieche plötzlich so schlecht, worauf ein unbändiges Gelächter losbrach. Es wurde auf die Ursache geraten, und dabei fielen anzügliche Bemerkungen über Verbindungen, die in schlechtem Geruch ständen, weil sie aus nichtigen Gründen Forderungen hätten hängen lassen. Es sei endlich für den Senioren-Konvent Zeit, durchzugreifen und zu beschließen, dass die Corps sich bei studentischen Veranstaltungen überhaupt nur unter der unbedingten Zuerkennung des Vortritts zu beteiligen hätten. Die Prätension der Gleichberechtigung sei überall als eine Unverschämtheit zurückzuweisen. Allgemeine jubelnde Zustimmung.

Arnold Runge hielt sich nicht länger. Sein Blut kochte. Er erhob sich. Glauberg wollte ihn niederziehen, aber er bat: »Lass mich – ich weiß, was ich tue.« Sich umkehrend, sagte er: »Ich ersuche die Herren, sich etwas vorsichtiger zu äußeren. Ich bin Burschenschafter.«

Einen Augenblick entstand Stille. Dann erwiderte der Dicke spöttisch: »So geht es Sie ja mit an.«

»Deshalb eben,« sagte der Oberlehrer, den Ärger verbeißend. »Ich nehme an, dass es nicht die Absicht der Herren sein kann, Beleidigungen auszusprechen.«

»Wem das nicht gefällt, was wir sprechen, der höre nicht zu,« lautete die hochnäsige Antwort.

»Es muss ihm nur die Möglichkeit gegeben sein,« replizierte Runge. »Übrigens ist mein Zweck erreicht, die Herren darauf aufmerksam zu machen, dass Sie von jemand, den es mit angeht, gehört werden. Weiter habe ich nichts zu sagen.«

Er verneigte sich leicht und setzte sich wieder. »Wir wollen unseren Kaffee austrinken und bezahlen,« riet Glauberg leise.

»Jetzt müssen wir bleiben,« entschied der Freund. »Die gute Sache fordert das.«

»Du merkst doch, dass sie etwas im Kopf haben. Und wenn sie nun nicht schweigen –«

»Hinter meinem Rücken sollen sie nichts Anzügliches reden. Wir sind es unserer Burschenschaft schuldig, nichts auf uns sitzen zu lassen.«

»Du sprichst wie ein Student. Bedenke –«

Es war schon zu spät. Das Gespräch nebenan wurde sogleich wieder aufgenommen.

»Wie war das denn eigentlich damals bei dem Fackelzuge?« fragte ein Grünschnabel, sich an den Dicken wendend. »Du bist ja damals Senior gewesen.«

»Pah!« machte der. »Wir wahrten unseren Standpunkt und hätten mit den Waffen Genugtuung gegeben, wenn's verlangt wäre. Aber es schien denen ja ritterlicher, vier Fäuste gegen zwei zu gebrauchen. Auf unsere Forderung reagierten sie mit einer lächerlichen Verrufserklärung. Die unsere war wirksamer, denn die sämtlichen Corps schlossen sich uns natürlich an.«

»Fünf gegen einen,« sagte Arnold Runge laut, »und die Retourkutsche blieb doch stecken.«

»Zahlkellner!« rief Glauberg.

»Ich trinke noch eine Tasse Kaffee,« bemerkte der Oberlehrer weit hörbar, »dann stehe ich zur Verfügung.«

In diesem Augenblick wurde sein Stuhl von hinten her heftig von einem anderen Stuhl angestoßen. Er drehte sich rasch um. »Mein Herr – Sie haben, denke ich, Raum genug.«

»Es scheint, nicht,« antwortete eine heisere Bassstimme, »wenn das Ihr Stuhl war, der da im Wege stand.«

»Er steht nicht Wege.«

»Erlauben Sie mir, das zu beurteilen.«

»Man pflegt sich in solchem Fall mindestens zu entschuldigen –«

»Wenn man etwas versehen hat, was man wieder gut machen will.«

Runge sprang auf. Seine Muskeln strafften sich. »So hätten Sie absichtlich –«

»Nehmen Sie meinetwegen an, es sollte Ihnen ein Wink gegeben werden, dass Sie sich des Mitredens zu enthalten hätten.«

»Mein Herr – das ist eine Unverschämtheit –!«

Auch der andere erhob sich und sah ihn herausfordernd an. »Nun –?«

Glauberg trat dazwischen. »Meine Herren, es ist hier doch nicht der Ort –« mahnte er. »Das Publikum wird schon aufmerksam.«

Arnold schob ihn mit zitternder Hand zurück. Seine Stirn war blutrot, und seine Augen sprühten Funken. »Nun –?« fragte er zurück.

»Wohin treibst du?« zischelte Glauberg ihm zu. »Du bist deiner nicht mehr Herr, Arnold.«

»Ich glaube deutlich genug gesprochen zu haben,« schnarrte der Bass, in dem er einen der schneidigsten Sueven von damals erkannte, »wenigstens für jemand, der nicht taub sein will.«

»Sie verdienen Ohrfeigen,« zischte Runge, »für eine so infame Verdächtigung.«

»Nehmen Sie sie meinerseits als empfangen an,« wurde höhnisch erwidert.

Runge wollte zuspringen, aber Glauberg riss ihn zurück. Zugleich trat der Dicke vor. »Mit wem haben wir's denn eigentlich zu tun?« fragte er.

»Ich denke, Sie kennen mich,« antwortete der Oberlehrer, »wie ich Sie kenne. Aber – hier ist meine Karte.« Er zog sie aus seiner Brieftasche. »Ich werde mich noch 48 Stunden in Berlin aufhalten.« Er nannte das Hotel, in dem er logierte.

Sein Gegner überreichte ihm nun ebenfalls eine Karte. »Die Wohnung ist darauf vermerkt.«

Auch der Dicke fügte die seine bei. Nun bezahlten die Freunde und entfernten sich.

Als sie auf die Straße kamen, fauchte Arnold Runge wütend: »Solche Bestien!«

»Das ist nicht übel,« sagte Glauberg, seinen Arm nehmend und den Laufschritt mäßigend. »Vor einer Stunde haben wir uns feierlich das Wort gegeben, uns nicht zu duellieren, und schon hast du dich in die Lage gebracht, fordern oder eine Forderung annehmen zu müssen.«