Stefan Gemmel

Freundschaft – schwarz auf weiß

Zu diesem Buch gibt es Unterrichtsmaterial von Antje Szillat im Pappschnellhefter, 88 Seiten

Copyright © edition zweihorn GmbH & Co. KG, Neureichenau
Umschlaggestaltung und Vignette: Johann Thiessen, Koblenz

2. Auflage 2013
ISBN: 978-3-935265-28-7
eISBN: 978-3-943199-66-6

„Wir leben in einer Welt. Ob wir im Norden oder Süden wohnen, ob in reichen oder armen Ländern: Unsere Schicksale sind miteinander verwoben, auf Dauer kann keiner von uns auf Kosten der anderen sein Glück machen. Darum kann es uns nicht gleichgültig sein, was in anderen Teilen der Welt geschieht und wie es den Menschen dort geht. Wir müssen vielmehr versuchen, das Zusammenleben in dieser einen Welt im Dialog und gemeinsam zu gestalten.“

(Bundespräsident Horst Köhler in seinem Grußwort bei der Preisverleihung im Schulwettbewerb zur Entwicklungspolitik vom 2. Juni 2008)

Inhalt

Angelina

Ein Brief aus Afrika

Der zweite Brief

Der Zwischenfall

Konsequenzen

Bakari

Entschluss

Verzicht

Harte Arbeit

Leda

Ein schwerer Schritt

Angelina

Ein Brief aus Afrika

„Es ist etwas Schreckliches passiert. Ich kann es immer noch nicht glauben, aber es ist wirklich wahr. Und ich muss dir das einfach schreiben, denn es betrifft auch dich und mich …“

Sie seufzte und legte den Stift zur Seite. Wie sollte sie ihm das erklären? Wie sollte sie dafür Worte finden? Hastig zerknüllte sie das Papier, schleuderte es zur Seite und nahm einen neuen Bogen zur Hand.

„Ich weiß nicht, wie ich es dir schreiben soll.“ Der Füller kratzte über das Briefpapier. „Es ist einfach furchtbar. Etwas Schlimmes ist geschehen und deshalb werde ich wohl nicht …“

Auch diesen Briefbogen warf sie im nächsten Moment zerknüllt vom Schreibtisch herunter. Sie konnte es ihm nicht schreiben. Wie sollte sie das in einem Brief formulieren?

Sie hätte es ja nicht einmal aussprechen können.

Wie erklärt man einem Menschen, dass all seine Träume zerplatzt sind? Wie kann man von jemandem verlangen, all seine Hoffnungen aufzugeben? Gibt es für so etwas überhaupt die richtigen Worte?

Sie stand von ihrem Platz auf und ging ans Fenster. Es stürmte. Der Wind bog selbst die dicken Äste der uralten Kastanie vor ihrem Fenster zur Seite.

Es knackte laut.

Zerbrochen, fuhr es ihr durch den Sinn. All seine Träume sind zerbrochen und ich kann nichts daran ändern.

Konnte man so etwas zu Papier bringen?

Wie bricht man einem Menschen, den man mag, das Herz?

Ihr Blick fiel auf die offene Schreibtischschublade. All diese vielen Briefe darin.

Es hatte so nett begonnen. Und sie hatte es nur gut gemeint. Doch jetzt war alles aus der Bahn geraten. Und obwohl sie nichts dafür konnte, fühlte sie sich schuldig. Oder zumindest mitschuldig.

Sie schloss die Augen und ließ die Zeit rückwärtslaufen.

Angelina war eine der Ersten gewesen, die sich gemeldet hatten. Anfang des siebten Schuljahres musste das schon gewesen sein.

Anfang des siebten? Verrückt. Wie die Zeit manchmal raste. Wenn Angelina nach vorn blickte und an ihren Führerschein dachte, den sie mit siebzehn oder achtzehn endlich machen konnte, dann kam es ihr vor, als sollte sie noch hundert Jahre darauf warten. Doch rückblickend gewann die Zeit an Geschwindigkeit.

Es war ganz bestimmt Anfang des siebten Schuljahres gewesen. Vor über einem Jahr also schon. So lange war es her, dass sie vor dem Lehrerzimmer ihrer Schule gestanden und sich in die Liste eingetragen hatte.

Afrika – das war für sie immer so weit weg gewesen und gleichzeitig doch so spannend, so fremd. Fast abenteuerlich.

Und jetzt trug sie sich ein, um eine Brieffreundschaft mit einer Schülerin oder vielleicht auch einem Schüler in Ruanda zu schließen.

Schon seit Jahren war ihre Schule bekannt für ihre Afrika-Projekte. Sie hatten sogar einmal einen Bundespreis gewonnen. Die Urkunde hing, zusammen mit zahlreichen Fotos, Briefen und Zeitungsausschnitten, in einem Schaukasten zwischen dem Eingang zur Schule und der Tür zum Lehrerzimmer. So, dass alle es sehen konnten, wenn sie morgens das Gebäude betraten.

„Machst du da mit?“

Angelina schrak zusammen. Jonas, einer ihrer Mitschüler, stand mit einem Mal neben ihr.

„Ja, schon“, antwortete sie. „So kann ich mein Französisch aufbessern. Dann macht die ganze Lernerei wenigstens Sinn.“

Jonas zuckte mit den Schultern. „Hm, kann sein. Aber Afrika? Warum schreibst du dorthin? Such dir doch jemanden in Frankreich. Die sprechen wenigstens vernünftiges Französisch. Außerdem kann man sich da später auch besuchen, wenn man sich mag. Aber Afrika? Das bringt doch nichts.“

„Ich mach halt mal mit“, sagte Angelina abwehrend. „Auch wegen Frau Treis. Die betreut das Projekt nämlich. Und du weißt ja …“

Jonas grinste. „Ja, ja. Frau Treis ist eine der Nettesten an der Schule.“

Er zeigte noch einmal auf die Liste, auf der sich Angelina als Dritte eingetragen hatte.

„Trotzdem: Afrika“, brummte er. „Großer Andrang ist wohl nicht zu erwarten, was?“

Er zuckte noch einmal mit den Schultern, dann zog er davon.

Acht Wochen später lag Post auf Angelinas Schultisch.

Endlich! Sie hatte schon gar nicht mehr mit einer Antwort auf ihren Brief gerechnet.

Darin hatte sie von sich selbst erzählt. Steckbrief- artig. Ein Foto hatte sie auch dazu gelegt.

Und nun lag die Antwort vor ihr.

Auf dem Umschlag klebten mehrere Briefmarken. Sie zeigten afrikanische Tiere und eine Landschaft, wie Angelina sie aus dem Fernsehen kannte.

Gespannt riss sie den Umschlag auf. Ein Foto fiel heraus, auf dem ein Junge vor einem riesigen Baum stand. Der Junge hatte kurz geschorene Haare und trug ein rotes T-Shirt mit einer gelben Fünf darauf. Angelina nahm das Bild in die Hand und sah es sich genauer an. Der Junge wirkte sehr nett. Er strahlte regelrecht. Man sah ihm an, dass ihm diese Aufnahme sehr wichtig gewesen war.

„Wer ist das denn?“ Jonas hatte sich von hinten an Angelina herangeschlichen und riss ihr nun das Foto aus den Händen. „Ist das dein neuer Freund?“

Schon drehten sich einige ihrer Mitschüler neugierig zu ihnen um.

„Lass den Quatsch und gib mir das Bild wieder!“

„Schon geküsst?“ Jonas spitzte die Lippen.

„Gib mir das Bild!“

Erst jetzt sah sich Jonas das Foto genauer an. „Ach, jetzt verstehe ich“, rief er aus. „Das ist dein Brieffreund aus Afrika. Ist dein Brief tatsächlich da unten angekommen?“

„Es reicht. Gib mir das Bild.“

„Was hast du denn? Ich werd doch wohl mal gucken dürfen.“

Inzwischen hatten sie die Aufmerksamkeit der ganzen Klasse erregt. Jonas hielt sich demonstrativ das Foto vor die Nase.

„Junge, ist der schwarz!“, brüllte er.

Angelina spürte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. „Hör auf!“

„Wenn der dir nachts im Dunkeln begegnet, dann rennst du glatt dagegen, weil du ihn nicht sehen kannst.“

Angelina trat dicht an Jonas heran. „Bist du bald fertig?“

„Sag mal, wenn er dich küsst, bleibt dann was von dem Schwarz auf deiner Backe zurück?“

„Jetzt reicht’s!“ Angelina griff nach dem Foto, doch Jonas war schneller. Er riss seine Hand in die Höhe und wedelte mit dem Foto in der Luft.

„Idiot!“

Jonas lachte laut auf. „Du glaubst doch nicht wirklich, dass …“

In diesem Moment stürzte sich Laura auf Jonas und schnappte ihm das Foto aus der Hand.

„He!“

Mit einem Grinsen gab Laura das Bild an Angelina zurück. „Große Klappe, wenig dahinter, was?“, kicherte sie und streckte Jonas die Zunge raus.

„Danke, Laura!“ Angelina steckte das Bild zusammen mit dem Brief schnell in ihre Schultasche.

„Er kann manchmal ein ziemlicher Kotzbrocken sein!“, sagte Laura seelenruhig, wohl wissend, dass Jonas immer noch neben ihr stand.

Angelina nickte. „Leider nicht nur manchmal.“

Jonas spielte den Beleidigten und zog sich zurück. Angelina setzte sich auf ihren Stuhl, fischte das Bild noch einmal aus ihrer Tasche hervor und schaute es in Ruhe an, gemeinsam mit Laura.

„Der sieht wirklich nett aus“, meinte Laura und Angelina nickte.

„Was schreibt er denn so?“

„Bin noch nicht dazu gekommen, den Brief zu lesen“, erwiderte Angelina. „Aber sieh mal.“

Frau Drusemann, die Geschichtslehrerin, hatte die Klasse betreten. Ihr erster Blick galt wie immer Jonas und Michael, die nebeneinander saßen. Die drei führten einen offenen Krieg, seit Frau Drusemann die beiden kürzlich erwischt hatte, wie sie eifrig Verse auf einen Zettel schrieben.

„Frau Drusemann, Frau Drusemann, darf ich an Ihre Busen ran?“, hatte Jonas gedichtet und Michael hatte ergänzt: „Sind vorne an der Drusemann auch wirklich dicke Drüsen dran?“

Alle in der Klasse hatten vor Schreck die Luft angehalten. Nicht einer hatte gelacht. Jonas und Michael hatten seither im Geschichtsunterricht auch nichts mehr zu lachen.

Angelina ließ Brief und Foto aus Afrika in ihrer Tasche verschwinden. Auch, wenn es ihr schwerfiel.

Zu gerne hätte sie gewusst, was der Junge geschrieben hatte. Und zu gerne hätte sie auch seinen Namen erfahren. Denn den wusste sie noch immer nicht.

Aber das musste bis heute Nachmittag warten. Auf keinen Fall wollte sie noch einmal eine solche Szene wie vorhin erleben.

„Liebe Angelina, dein Brief hat mich gerührt. Ich habe mich sehr gefreut über deine Zeilen.“

Angelina war erstaunt, dass es ihr überhaupt keine Mühe bereitete, seine Worte zu verstehen. Er schrieb in reinem Französisch, so wie sie es von der Schule her kannte. Sie hatte geglaubt, dass es schwierig werden könnte, seine Briefe zu lesen, und mit einer Sprache gerechnet, in der sich französische und afrikanische Begriffe vermischten. Doch es fiel ihr überhaupt nicht schwer, die Zeilen zu übersetzen. Das Wörterbuch brauchte sie lediglich, um unbekannte Begriffe nachzuschlagen.

Sie drehte den Brief um und ließ ihren Blick zur Unterschrift gleiten.

Bakari.

Das also war sein Name: Bakari. Das passte zu dem Gesicht auf dem Foto.

Schnell blätterte Angelina wieder zurück und las weiter:

„Ich kenne nicht viel von dem, was du magst. Was bedeutet MP3? Was ist eine Spielekonsole?

Dein Bild ist sehr schön. Du bist das erste Mädchen mit hellen Haaren, das ich bisher gesehen habe. Hier bei uns, in unserer Schule, arbeitet eine Frau aus deinem Land. Sie hat auch helle Haare. Aber die sind nicht so lang wie deine. Du bist ein schöner Mensch.“

Angelina atmete tief durch.

So etwas hatte noch nie jemand zu ihr gesagt. Es war doch gut, dass sie den Brief nicht heute Morgen in der Schule gelesen hatte. Nicht auszudenken, was geschehen wäre, wenn Jonas diese Sätze laut vorgelesen hätte.

„Bald wird sich meine Adresse ändern. Dann kannst du mir nicht mehr in die Schule schreiben. Denn ich werde nur noch dieses eine Jahr in meine Schule gehen können“, schrieb Bakari weiter. „Hier, in Ruanda, gehen die meisten Schüler nur bis zur sechsten Klasse in die Schule. Wir lernen, was wir zum Leben brauchen. Doch um einen Beruf erlernen zu können, müsste ich die Schule wechseln und von zu Hause fortgehen. Die nächste Schule liegt im Norden Ruandas. Dort kann ich nicht mehr zu Fuß hingehen und ich müsste deswegen in ein Internat. Aber das würde mir sehr gefallen.

Der Weg zu meiner jetzigen Schule ist weit. Ich gehe jeden Tag über eine Stunde bis dorthin und über eine Stunde zurück. Wenn ich in einem Internat wäre, müsste ich nicht mehr so viel hin- und herlaufen, um lernen zu können. Doch unsere Ernte in den letzten Jahren hat nicht genug erbracht. Wir können das Internat nicht bezahlen. Ich werde wohl nicht Arzt werden, wie ich mir das wünsche.

Ich weiß, dass das in Deutschland anders ist. Ich weiß, dass ihr alle Berufe lernen könnt, die ihr erlernen wollt.

Was ist dein Wunsch? Schreib mir doch wieder. Hast du auch ein Foto von deinem Pferd? Das würde ich gern einmal sehen. Mit großer Neugier erwarte ich deinen nächsten Brief.

Bakari.“

Angelina faltete den Brief zusammen und blickte noch einmal auf Bakaris Foto.

Was hatte sie sich denn da nur gedacht?

Spielekonsole? MP3??

Sie erinnerte sich noch sehr gut, dass sie von ihrem MP3-Player geschrieben hatte.

„Was ich mag“, hatte sie ihm im ersten Brief geschrieben, „vor allem mein Pferd: Leda. Und Musik hören. Meinen Player nehme ich überallhin mit.“

Und das stimmte ja auch. Angelinas Vater witzelte schon, dass das Gerät langsam an ihr anwachsen könnte. Wo immer sie hinging, ihren MP3-Player trug sie stets am Schlüsselband mit sich und die kleinen Kopfhörer hingen aus dem Kragen ihres Pullovers oder T-Shirts heraus.