Günther Fuchs & Hans-Ulrich Lüdemann
Alfred Jude Dreyfus
Der nicht vollendete Justizmord
ISBN 978-3-86394-869-6 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1995 beim Kiro Verlag Schwedt.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
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Uns reicht's. Wir brauchen eine Frischluftdusche. Nach jahrelanger Beschäftigung mit der Affäre Dreyfus soll jetzt das literarische Kind eines Autors und seines akademischen Beraters im Lichte der Öffentlichkeit bestehen. Das wohlgepolsterte gelbe Kuvert mit dem Manuskript unterm Arm, springt mich in der auch für die Affäre Dreyfus berühmt-berüchtigten Berliner Wilhelmstraße, zu DDR-Zeiten hieß sie Otto-Grotewohl-Straße, eine Idee an: Der Geschichtsprofessor und ich werden einfach auf x-beliebige Passanten zugehen und sie nach ihrem Wissensstand zu unserem Thema befragen. Ändern können wir ohnehin nichts mehr. Alles ist quasi in Papier und Tüten. Dass wir statt einer Antwort auf die Nervenärzte im nicht weit entfernten Klinikum Charité verwiesen werden - unser Risiko.
Überhaupt - wen kümmert in diesen bewegten deutschen Zeiten irgendeine Affäre im Frankreich des ausgehenden 19.Jahrhunderts? Wen das Drumherum zum Spionageprozess gegen einen unscheinbar wirkenden Artilleriehauptmann Dreyfus? Wir glauben schon zu hören: Ach was - tatsächlich - die Deutsche Außenpolitik samt dem Kaiser soll darin verwickelt gewesen sein? Oder wird sich ein Theaterfreund des am 20. Juni 1847 in Paris geborenen erfolgreichen französischen Bühnendichters Abraham Dreyfus erinnern? Dann wäre da ja noch der vier Jahre später ebenfalls in Paris zur Welt gekommene republikanische Politiker Camille Ferdinand Dreyfus, Mitherausgeber einer 1903 abgeschlossenen ‘Grande Encyclopédie’ ...
"Dreyfus is mia schnurzpiepejal, wissen Se!" Diese unwirsche erste Antwort ist immer noch besser als das vom einfachen Mann auf der Straße seinen gewählten Volksvertretern eigens abgelauschte wichtigtuerische: Kein Kommentar.
"Dreifuß, sagen Sie, meine Herren?", vergewissert sich der alte Müßiggänger auf einer Parkbank in Höhe des Pariser Platzes. Wir atmen tief durch. Eine historische Orientierung ist also schon mal vorhanden. Die Ernüchterung folgt: "Ich bin Jahrgang 1906. In den schlechten Zeiten, wissen Sie, da hatte unser Vater einen Dreifuß. Da stülpte er immer den Schuh rüber, wenn die Sohle oder der Hacken durch war und ausgebessert werden musste. Neues Schuhwerk kam ja nicht infrage. Bei fünf Kindern, wissen Sie."
Wir beglückwünschen ihn zur augenscheinlich guten gesundheitlichen Verfassung für einen Achtundachtzigjährigen. Und bei anno 1906 signalisieren unsere grauen Zellen prompt, dass am 20. Juli jenes Jahres der nach aufopferungsvollen Kämpfen rehabilitierte Hauptmann Alfred Dreyfus zum Ritter der Ehrenlegion ernannt worden war. Für einen ehemals lebenslänglich Deportierten war dies der wohl tollste Rechts- und Karrieresprung seiner Zeit. Andererseits - die gescheitesten Köpfe Frankreichs hatten sich jahrelang trotz antisemitischer Morddrohungen für ihn eingesetzt.
Aller guten Dinge sind drei, sagt der Volksmund. Wir stoppen also eine Radfahrerin und fragen die atemlos Eilige, woran sie wohl denke bei dem Wort DREYFUS:
"Dreyfus? Hat irgendetwas mit Juden und Spionage zu tun? Da steht doch jetzt einiges in der Zeitung. Ich glaube, es handelt sich um eine Oper über diesen Dreyfus. Oder war es ein Ballett? Also nichts Deutsches - irgendein Franzose ..."
Eine akkurate Zeitungsleserin. Und schon tritt die junge Frau wieder in die Pedalen. Wir atmen auf. Wollen uns eine vierte Befragung schenken. Aber da jagt ein dunkler Schatten heran, bremst scharf. Es ist vom ganzen Habitus her ein akademischer Nachfahre Albert Einsteins. Vom Skatebord springen und uns wegen des erzwungenen Stopps grimmig mustern - das ist eins bei ihm. Aber wir sind wohl nicht seine Gewichtsklasse. Die unverhoffte Gelegenheit nutzend, fragen wir also doch noch einmal nach Dreyfus.
"Da seid Ihr bei mir goldrichtig, Männer!" Und der Typ dreht gelassen den Schirm seiner Baseballkappe nach vorn. "Also Dreyfus, Alfred ..."
Jetzt ist erst einmal Sendepause, weil Einstein junior sich bückt und sein Fahrbrett richten muss. Seine Angaben kommen also quasi aus der Froschperspektive - aber sie treffen es haargenau: Dass der Mann ein Franzose aus dem Elsaß war. Und Jude. Und Offizier. Wenn uns das was sagen würde. Und die eigenen Leute haben ihn reingelegt - wegen Spionage für Deutschland ab nach Übersee auf die Teufelsinsel. In der Gegend liegt heute der Startplatz für europäische Raketen: Kourou. Wenn uns das was sagen würde. Ja - und weil der Antisemitismus im damaligen Frankreich wie ein muffiger blutbesudelter Mantel der Geschichte ...
Wir bedanken uns. Erfahren noch, dass wir es nicht mit einem Romanistik-Studenten zu tun haben, sondern mit einem, für den Frankreich eine Art Hobby ist. Seit er als Ostgermane dort Urlaub machen kann. Wenn uns das was sagen würde ...
Wir nicken. Und verzichten darauf, die Befragung auf eine Handvoll zeitgenössischer Personen auszudehnen. Nach dem Willen des Autors sollen jetzt alle Hauptfiguren der Dreyfus-Affäre - die Guten und die Bösen - über ihr Verhalten in jenem Justizskandal Rede und Antwort stehen müssen.
Noblesse oblige: Zwischen drei und vier Uhr nachmittags entlohnt Major Graf Marie-Charles Ferdinand Walsin-Esterhazy in auffallend herablassender Art und Weise den Kutscher. Ist dieses Gebaren typisch für den verarmten Adel? Egal wie - für die späteren Gerichtsakten im Prozess gegen Alfred Dreyfus ist auch nicht von Belang, ob dieser 20. Juli 1894 ein strahlend schöner oder ein verregneter Sommertag war. Fakt ist - der mittelgroße, eher schmächtig wirkende Mann läuft eine kurze Strecke über die Pont de la Concorde zum Boulevard Saint Germain, um dann links in die Rue de Lille abzubiegen. Zielbewusst steuert Graf Esterhazy die Nummer 78 an: Ambassade d’Allemagne. Zivil gekleidet, steht dem Major nicht der Sinn nach Botschafter Graf Münster - nein, er muss und will allein den Militärattaché Oberst von Schwartzkoppen sprechen. Aber da ein Infanterie-Major der Französischen Armee nicht avisiert ist, steht auch niemand zu seinem Empfang bereit. Die Enden des hochgezwirbelten Schnauzbartes zittern gereizt wegen dieser offensichtlichen Nichtachtung gegenüber einem Grafen Esterhazy, der von sich behauptet, Spross aus uraltem Adelsgeblüt und mit königlicher Linie verbunden zu sein. Wenn hakennasiges Profil und auffallend vorspringende Kinnpartie dero Merkmale bestimmen, dann mag es in Gottes Namen so sein. Was aber gewisse Kreise der Grande Nation auch hundert Jahre später noch immer in Abrede stellen möchten, das ist eben Sinn und Zweck dieser gräflichen Visite.
"He! Sie da!", blafft Esterhazy in den Hintergrund der großen Empfangshalle.
Eine Frau kommt stöhnend aus der Hocke in die Senkrechte. Sie streckt ihren malträtierten Rücken durch und nähert sich mit einem Gesicht, das von vornherein diesem herrischen Besucher nicht wohlgesonnen zu sein scheint. Um ihrem Phlegma die Krone aufzusetzen, dreht Madame Bastian noch einmal vergewissernd den Kopf in die Richtung, aus der sie gerade gekommen ist. Dann erst mustert sie aufmerksam den Mann vor sich. Und Madame Bastians intensiv prüfender Blick steht ganz im Gegensatz zur vorgeführten Langsamkeit einer Reinigungskraft in der Deutschen Botschaft anno 1894.
"Meinen Sie mich, Monsieur?", bequemt sich Madame Bastian endlich zu einer Äußerung.
Major Esterhazy ballt beide Fäuste in den Taschen seines schwarzen Gehrocks. So jemand Lahmarschiges auf dem Kasernenhof in Rouen - den Kerl würde er schleifen, bis der Blut schwitzt! Auch dieser Schlampe wird er wohl zeigen müssen, aus welch ehernem Holz ein Graf Esterhazy geschnitzt wurde:
"Ist außer uns noch jemand zugegen, Kanaille?!", zischt es giftig zwischen den schmalen Lippen unter dem Schnauzer. "Oberst von Schwartzkoppen! Dalli!"
Aufreizend gelassen dreht Madame sich wieder ihrer Arbeit zu. Aber irgendetwas scheint sie zu hindern, sich in Bewegung zu setzen.
Esterhazys Fäuste fliegen geradezu aus den Taschen. Als wäre er auf dem Kasernenhof in Rouen beim Drillen ihm untergebener Infanteristen, legt der Major beide Hände an die Hosennaht und schnarrt: "Also melden Sie mich jetzt dem Herrn Militärattaché von Schwartzkoppen in Sachen Passformalitäten für eine Reise in den Elsaß oder ich werde Sie sofort ...“
Nichts in Madame Bastians Gesicht regt sich. Von Ängstlichkeit schon gar keine Spur.
"Ich bin hier nur die Putzfrau, Monsieur! August ist für solche wie Sie zuständig. Aber der holt gerade die Zeitung für Seine Exzellenz. Wenn Sie etwas für den Monsieur von Schwartzkoppen abgeben wollen - ich kann's nachher raufbringen."
Der fast schmächtige Mann scheint zu begreifen, dass er gegen diesen Plebs nicht ankommt. Esterhazy deutet zur Treppe und befiehlt: "So beschreiben Sie mir endlich den Weg!"
Das Desinteresse in Madame Bastians Mienenspiel zeigt sich nun unverhohlen. Sie schlurft die wenigen Schritte zu ihrem Arbeitsplatz zurück, bückt sich nach einem Wischtuch und spricht mehr in den halb gefüllten Wassereimer als zum honorigen Besucher des Deutschen Militärattachés: "Tut mir leid, Monsieur. Wie gesagt - legen Sie Ihre Papiere ruhig auf das Tischchen dort in der Empfangsloge ...“
Major Esterhazy hat keine Lust, noch mehr Atemluft an diese unbotmäßige Person zu vergeuden. "Kanaille!", wiederholt er ein zweites Mal. Dann läuft er mit behänden Schritten die prunkvolle Freitreppe empor und verschwindet so aus Madame Bastians Augen. Schließlich verhallen die eiligen Schritte und ein lautes Türenöffnen dringt herunter bis in die Empfangshalle.
Madame Bastian lässt sofort die Arbeit ruhen. Sie schleicht zum Treppenaufgang. Es hat den Anschein, als wolle sie dem Besucher folgen. Dann aber besinnt sich Madame Bastian. Sie bleibt stehen und sieht sich vergewissernd um. Wie zur Tarnung ihres seltsamen Tuns schnäuzt die Frau jetzt ausgiebig in ein groß kariertes Taschentuch.
An dieser Stelle halten wir es für angebracht, die ersten Fragen loszuwerden. Egal, ob es Madame Bastian passt oder nicht - sie kann uns nur schwerlich ausweichen.
"Warum gehen Sie nicht weiter, Madame?", fragen wir behutsam. Am Ende hat die Bastian ein schwaches Herz und - salopp gesprochen - kippt uns aus den Pantinen. Außer dass sie stocksteif am Treppenaufgang verharrt, tut sich nichts. Jedenfalls nichts, was wir befürchtet haben. Und so reichen wir die nächste Frage nach: „Also, Madame Bastian - warum gehen Sie nicht weiter? An der Tür zu den Arbeitsräumen des deutschen Militärattachés lauschen?"
"Wer sind Sie denn?“, lautet die Gegenfrage.
Es hat den Anschein, dass die überraschte Putzfrau sich schnell auf ihre offizielle Rolle im Haus der deutschen Botschaft in der Rue de Lille besinnt.
"Pech, was?", fragen wir. Nicht ohne Schadenfreude.
"Was zum Teufel soll denn mein Pech sein, Messieurs?“
Die Frau hat scheinbar gute Nerven. Wozu also weitere Vorgefechte führen? Kommen wir also zur verbürgten Historie: "Pech, dass der Monsieur seine Papiere Ihnen nicht gegeben hat."
Madame Bastian beugt sich wieder und beginnt, den Fußboden zu schrubben. Erstaunlich für uns - diese Stelle ist ganz augenscheinlich von ihr schon akkurat gesäubert worden.
"Mach ich vielleicht auch noch die Arbeit von August!", brummt es von unten. "Dieser Faulpelz sitzt jetzt bestimmt irgendwo im Bistro und an mir lassen die Leute ihre schlechte Laune aus."
"Reden Sie nicht drum herum, Madame Bastian", sagen wir in bestimmtem Ton. "Sie geben doch jeden noch so kleinen Papierschnipsel an das Nachrichtenbüro weiter ..."
"Nachrichten ... was?" Madame Bastian - ganz Überraschung und Nichtwissen - richtet sich jetzt auf.
Wir lassen sie nicht in Unwissenheit stehen: "Oder auch Statistisches Büro genannt. Die Spionage und Spionageabwehr im Französischen Generalstab. Falls Ihnen das auf die Sprünge hilft, Madame Bastian."
"Jetzt ist's aber genug! Sie!" Die Frau droht uns mit ihren kleinen Fäusten. "Verschwinden Sie! Aber dalli - wenn ich bitten darf!"
Wir bleiben ungerührt bei diesem Ausbruch eines schlechten Gewissens. Oder ist es die Angst, entdeckt zu sein? Verbrannt zu sein - wie es in der Agentensprache heißt? "Angst, Madame Bastian? Angst vor der Wahrheit?"
"Verschwinden Sie endlich!", faucht die Frau entnervt. Dabei schaut sie furchtsam hinüber zur Empore. Als Madame Bastian sich wieder umdreht, sind wir längst entschwunden. Eine völlig aus dem Gleis gebrachte Frau zurücklassend. Eine Papierkorb-Agentin mit dem schwachen Nervenkostüm einer Amateuse. Doch was ihr entgeht, spionieren ganz gewiss die anderen vielen Augen- und Ohrenpaare aus, die außer einem Angestellten-Salär vom siebzigjährigen Deutschen Botschafter Graf Münster noch ein monatliches Zubrot von Oberst Sandherr, Chef der Spionageabteilung des Französischen Generalstabes, erhalten ...
"Sehen Sie es mir bitte nach, dass ich hier so hereinplatze. Ich hätte mich ja anmelden lassen, Monsieur Attaché. Aber außer einer etwas sperrigen Domestikin unten im Empfang Ihres geschätzten Hauses ..."
Esterhazys französischer Akzent gibt seinen deutschen Worten einen ganz eigentümlichen Reiz. Der Major sieht sich unauffällig um. Er hat genug Zeit dafür, und er kennt sich aus in dem Spielchen, das dieser von Schwartzkoppen gerade mit ihm spielt. Soll der Deutsche doch seine angeblich unaufschiebbaren schriftlichen Eintragungen machen - Graf Marie-Charles Ferdinand Walsin-Esterhazy schürzt überheblich die Lippen. Gäbe er, ein Offizier der Französischen Armee, jetzt seine Identität preis, würde der Attaché sich gar nicht genug über einen quasi freiwillig zugeflogenen neuen Militärspion freuen können ...
Ganz nach Hausherrenart streckt Major Esterhazy die Beine lang aus. Er fingert sich schließlich, ohne den Attaché um Raucherlaubnis zu bitten, eine seiner kostspieligen schwarzen Übersee-Zigarren aus der Gehrocktasche. Dann flammt zischend ein Streichholz. Esterhazys geschickt geblasener Ring aus blaugrauem Qualm schwebt zur Zimmerdecke empor. Der Rauch steigt jetzt auch von Schwartzkoppen in die Nase. Der vierundvierzigjährige Militärattaché blickt auf und schiebt seine Kladde beiseite. Höflich und entschuldigend sagt er in fließendem Französisch: "Ja, die Madame Bastian. Ich erinnere mich jetzt, unseren Portier August vorhin wegen einiger Mittagszeitungen fortgeschickt zu haben."
Die entstehende Pause nutzen die Männer im teuren Tuch zu unauffällig taxierenden Blicken. Was sie nicht zu wissen scheinen - keiner hat dem anderen etwas Grundsätzliches voraus. Sie nehmen sich auch nicht viel im Alter - der Besucher mit dem Gehabe eines allerweltserfahrenen Raben zählt drei Lenze mehr. Als militärische Handlanger des Todes können beide mit ähnlichen Etappen aufwarten. Nicht, dass sie mit eigenen Händen jemand zu Schaden gebracht hätten. Generalstäbler sind in der Regel schon immer Schreibtischtäter gewesen. V. Schwartzkoppen kämpfte 1870/71 als Leutnant für Kaiser und Vaterland gegen und in Frankreich. Damals muss er positiv aufgefallen sein: 1881 dient er bereits im Generalstab. Avanciert dortselbst in einem Jahr zum Hauptmann. Bis 1885 übt er schon mal als Zweiter Militärattaché in Paris. Dann wird er Major in Freiburg im Breisgau, und ab 1891 ist der hochgewachsene, schmalschultrige Schnauzbartträger ranghöchster Militär in der Pariser Botschaft.
Aber nicht der Deutsche Botschafter Graf Münster ist sein tatsächlicher Chef, sondern die Herren Generalstäbler in der eingangs erwähnten Berliner Wilhelmstraße. Nunmehr peilt Maximilian von Schwartzkoppen eine erneute Beförderung an, und wir können gewiss sein, dass auch dann an seinen feingliedrigen Händen noch immer kein Feindesblut klebt. Dass der Allerdurchlauchtigste Kaiser und Oberste Feldherr viel Großes mit dem Spross eines Infanteriehauptmanns aus Potsdam vorhat, das ahnt der Diplomat im leicht taillierten Gehrock nicht nur - er will es auch. Und wir wissen noch mehr: Am 1. August 1903 beginnt von Schwartzkoppen ‘Die Wahrheit über Dreyfus’ niederzuschreiben. Im Januar 1917 stirbt er - seit 1907 General der Infanterie - im Elisabeth-Krankenhaus in der Berliner Lützowstraße. Etwa anderthalb Kilometer Luftlinie entfernt von seinen Dienstherren im Kriegsministerium und im Auswärtigen Amt. Noch weitere dreizehn Jahre sollen vergehen, ehe ein Oberst Schwertfeger im Verlag für Kulturpolitik jene Niederschrift über die Dreyfus-Affäre aus Maximilian von Schwartzkoppens Nachlass herausgibt. Vom Biografen beziehungsweise von der Frau Generalin, geborene Gräfin von Wedel, ist uns überliefert, dass ihr Gatte erst in Frieden gestorben ist, nachdem er im Fieberwahn eine flammende Verteidigungsrede - selbstredend fließend in französischer Sprache - für den unschuldig verurteilten Hauptmann Dreyfus gehalten hat ...
"Nennen Sie mich bitte keinesfalls unhöflich, Monsieur Attaché, wenn ich mich nicht vorstelle", nimmt Esterhazy endlich das Wort. Und er korrigiert sich sofort. "Jetzt noch nicht vorstelle. Aber ich habe meine Gründe. Sie werden gleich verstehen, was ich meine."
V. Schwartzkoppen stützt behutsam seine spitzen Ellenbogen auf die Schreibtischplatte und lächelt hintergründig. Dann übernimmt er mit einem eher heiteren Mienenspiel die Regie in dieser Unterredung:
"Wenn mich meine Menschenkenntnis nicht trügt, sitzt ein Offizier der Französischen Armee in Zivil nachmittags gegen ..." schmunzelnd vergewissert sich von Schwartzkoppen mit einem Blick auf die Kamin-Uhr, "sagen wir, gegen vier Uhr nachmittags im Militärbureau der Deutschen Botschaft vor mir, um ..." Oberstleutnant von Schwartzkoppen schaut sein Gegenüber um Ergänzung heischend an.
Major Esterhazy rutscht verblüfft vor zur Sesselkante. Etwas in ihm signalisiert Gefahr. Die Warnung, einen deutschen Standeskameraden nicht zu unterschätzen, kommt wohl gerade noch rechtzeitig: "Ich brauche Ihre Hilfe!“
"Inwiefern, Monsieur?"
"Die wirtschaftliche Notlage - meine Sorge um Frau und Kinder zwingen mich, Ihnen meine Dienste anzubieten, Monsieur Attaché!"
Peng! Dieser Treffer sitzt tief. Verunsichert den adligen Offizier im Dienste Seiner Kaiserlichen Majestät. V.Schwartzkoppen erhebt sich und geht rasch zum Fenster, um es mit herrischen Bewegungen zu öffnen. Als ob er Tabakqualm nicht ausstehen kann, pumpt er seine Lungenflügel voll frischer Luft. Bleibt also Zeit genug, die militärischen oder sonstigen Verdienste in der Karriere eines Grafen Esterhazy auszubreiten. Ein ganz großer Kopf in der an jenem Sommertag beginnenden Dreyfus-Affäre und später ein berühmter Politiker Frankreichs wird diesen von Walsin-Esterhazy einmal wie folgt sinngemäß abschätzig charakterisieren: Nichts steht von ihm fest, außer dass er ja mal irgendwann und irgendwo geboren wurde ...
Der, um den es geht, scheut sich nicht, seine Abstammung auf den Gotenkönig Alarich zurückzuführen. Nehmen wir also das zeitgenössisch zu nennende Meyers Konservationslexikon, Band 6, Seite 128 für bare Münze. Zitat: Der in der Dreyfusaffaire oft genannte ehemalige französische Major Walsin-Esterhazy stammt nicht aus der bis 1876 blühenden französischen Linie der E.-Hallewyl, sondern ist der Urenkel der Gräfin Marie Anna E., die morganatisch (standesungleich, Anm. d. A.) einem Offizier namens Walsin angetraut war.
Also - wer fürderhin behauptet, Major Graf Marie-Charles-Ferdinand Esterhazy sei nur das unwillkommene lebendige Zeugnis der Liaison eines von Esterhazy mit seiner niederen Gespielin, den könnte der Herr Graf wohl zu Recht stehenden Fußes zum Duell fordern. Da besitzt er schon ausreichend praktische Erfahrung - auch als Sekundant. Jedenfalls soll dieser zwielichtige Mann in Wien eine Militärschule besucht und absolviert haben. Pikanterweise verführte ihn der Sold, 1866 im Österreichischen Heer gegen Preußen zu kämpfen. Danach gab es - laut Graf Walsin-Esterhazy - eine kurze aber ehrenvolle Visite im Dienste des Papstes, um von dort mit seltsam christlicher Logik als Unterleutnant in die Französische Fremdenlegion zu wechseln.
1870/71 bestand, wie bereits ausgeführt, nicht wirklich eine reale Chance, dass die im Zimmer anwesenden Militärs sich gegenseitig die blaublütigen Köpfe hätten einschlagen können. Frankreichs hoher Blutzoll unter den Schlachtenführern auf mittlerer Ebene bescherte Esterhazy ein Offiziers-Patent. Den Grafen trieb es danach auf seiner verwinkelten Straße zum hehren Ruhme in einen Krieg, der in Tunesien vom Zaune gebrochen ward. Alle vollbrachten Siege sind, wohlgemerkt, Kunde aus des Grafen Esterhazy höchsteigenem Munde. Später soll er unter anderen auch dem von uns noch zu befragenden Geheimdienstler Hubert-Joseph Henry Geld geliehen haben, das dieser nicht zurückzahlen konnte - ergo erhielt der ansonsten stets in Geldschwierigkeiten agierende skrupellose Offizier Graf Esterhazy einen ihm gemäßen Posten in der Heeres-Spionageabteilung als Übersetzer. Welcher erbfeindlichen Nation im Osten sollte wohl sein besonderes Augenmerk gelten? Dreimal darf geraten werden ...
Graf Esterhazy laviert also und avanciert. Selbst Bekannte - Freunde zählten ganz gewiss nie zu seinem Leben - halten ihn für eine nicht seltene Sorte Geschmeiß, das hinten wieder reinkommt, wenn es vorn rausgeschmissen wird. Das sind nicht unsere bösartigen Worte - sein infames Rollenspiel in der letztlich weltbewegenden Affäre Dreyfus mag am Ende diese Charakterisierung bestätigen.
Endlich hat von Schwartzkoppen sich gefasst. Er wendet sich ins Zimmer und fixiert den entfernt sitzenden Major, dessen Finger etwas verunsichert mit seinem roten Band der Ehrenlegion im Knopfloch spielen. Ab jetzt müssen wir den Auftakt zu einem mörderischen Justizskandal etwas realistischer darstellen, als der sensible Herr von Schwartzkoppen es beschönigend in seinen Memoiren tut. Als Militär war er zeitlebens durch viele Feuer gegangen und mit allen Salben gesalbt - der Herr Attaché will dennoch nur Abscheu gegenüber Esterhazy verspürt haben. Und das bei dem ständigen Druck aus der Wilhelmstraße, beispielsweise Erkenntnisse über die 1892 zwischen Frankreich und Russland beschlossene Allianz zu beschaffen. Ähnlich wissbegierig war Berlin über eventuelle Aufmarsch- und Mobilmachungspläne der Französischen Armee. Non olet - da werden zu Friedenszeiten für Agenten schon mal Zehntausende in Francs aus der Kriegskasse lockergemacht.
"Was also wollen Sie, mein Herr?" Ab jetzt führt der deutsche Militärattaché das Gespräch in seiner Muttersprache.
"Ich brauche Geld! Sie sind meine letzte Rettung, Monsieur von Schwartzkoppen! Andernfalls muss ich mir eine Kugel durch den Kopf schießen!"
Nach Esterhazys erregt herausgeschleuderten Worten hat von Schwartzkoppen sich wieder völlig in der Gewalt. Ihm ist, als sei vom Gegner ihre erste gemeinsame Schach-Partie mit einem schwachen Zug eröffnet worden. Jetzt gilt es gut kombinieren. Und - in der Ruhe liegt noch immer die Kraft. Mit elastischen Schritten kehrt von Schwartzkoppen an seinen Schreibtisch zurück. Er nimmt Platz. Den Oberkörper nach hinten gestreckt, bewegt der schlanke Mann die Arme nach vorn. Seine aneinanderliegenden Fingerspitzen bilden jetzt ein kleines lebendiges Zeltgestänge. Bei allem strategischen Interesse - von Schwartzkoppens Blick drückt eine unüberwindliche Distanz aus:
„Werter Herr, ich verstehe noch immer nicht. Wenn Sie doch die Güte hätten, mich ...“
Major Esterhazy lässt den anderen nicht ausreden: "Ich bin gezwungen, Dinge zu tun, die mir sonst fernliegen, Monsieur Attaché." Und nach einem unendlich langen Atemzug kommt er seufzend zum Kern der Sache. "Ich bin bereit, Ihnen Informationen über die Französische Armee zu liefern. Für Ihre Regierung dürfte das ganz gewiss von außerordentlichem Wert sein."
Es ist schwer auszumachen, was jetzt echt und was gespielt ist - von Schwartzkoppen reagiert prompt auf ein derartiges Ansinnen: "Ich bitte Sie, mein Herr! Gehen Sie und - dessen darf ich Sie versichern - ich vergesse dieses Gespräch."
Major Esterhazy bleibt unbeweglich in seinem Fauteuil sitzen: "Ich kann mir denken, dass Sie als deutscher Offizier meinen Schritt nicht billigen. Aber ich sagte bereits ..."
Ob gewollt oder ungewollt - der Militärattaché bleibt bei seiner beschlossenen Eröffnungsvariante. V.Schwartzkoppen tut so, als verschmähe er das gegnerische Bauernopfer - er will partout den Läufer. Um in der Sprache des Königlichen Spiels zu verbleiben - der Offizier hat es ihm angetan. Kein Bauer also, sondern eine Qualität. Und so fällt von Schwartzkoppens Antwort demgemäß aufreizend kühl aus: "Sie haben sich gänzlich in der Adresse geirrt, mein Herr. Ich werde Sie jetzt hinausgeleiten.“
Max von Schwartzkoppen erhebt sich. Trotz ziviler Kleidung geht in diesem Augenblick etwas straff Militärisches von ihm aus. Ordnend fährt seine rechte Hand über den pomadisierten Mittelscheitel. Von dort gleitet sie prüfend über den länglichen Schlipsknoten. Alles Etikette. Dass der andere trotz eindeutiger Aufforderung zum Gehen sitzen bleibt, scheint von Schwartzkoppen zu verwundern. Aber er darf den Bogen auch nicht überspannen und so nimmt der Attaché wieder in seinem Schreibtischsessel Platz.
"Geben Sie mir eine Liste von Fragen, Monsieur von Schwartzkoppen!" Esterhazys Stimme klingt hoffnungsfroh und ist wegen seiner Erregtheit kaum zu verstehen.
Des Grafen Verzweiflung scheint so echt zu sein, dass der Gedanke an einen Agent provocateur weit in den Hintergrund rückt. Ihm geht es einzig und allein um den in Aussicht stehenden Judaslohn. Um die Silberlinge, mit denen er wiederum seine Spielschulden begleichen kann. Um bei Schwartzkoppens Schachstrategie zu bleiben - Esterhazy wird vom heutigen Tage an zu wahnwitzigen Rösselsprüngen fähig sein müssen. Ihm allein zum Nutzen und seinen Allianzen oder Feinden die Galle ins Blut treibend. Der Infanterie-Major und Bataillonschef Graf Esterhazy hat sich auf eine Partie mit den Deutschen eingelassen, in deren Verlauf sich zeigen wird, dass ein Abenteurer und Spion seines Schlages für alles denkbar Schlechte gut ist.
„Fragen", setzt Esterhazy nervös schluckend fort, „die Ihnen wichtig sind! Überlassen Sie es mir, Ihnen die entsprechenden Antworten zu bringen. Bitte!"
V.Schwartzkoppen versteckt seine Genugtuung hinter einem etwas mitleidigen Achselzucken. Aus wachen Augen verfolgt er Esterhazys plötzliches und hektisches Tun. Nicht auszudenken - sollte dieser als Zivilist getarnte Militär ihm etwa mehr anzubieten haben als das überdrüssig gewohnte Achtgroschenjungen-Material?
Ein großformatiger Stoß Papier raschelt, als Esterhazy wichtigtuerisch damit in der Luft wedelt: "Hier ist der erste Beweis von mir, Monsieur von Schwartzkoppen. Sie können diese Blätter sogar behalten. Es handelt sich um Abschriften von ..."
"Gut, gut", sagt von Schwartzkoppen besänftigend. "Wenn Sie also partout wollen - legen Sie alles nur hierher auf meinen Schreibtisch."
Esterhazy springt wie von einer Feder getrieben auf. Fast unbewusst steht er vor dem Deutschen in Habtachtstellung, als er hinzufügt: "Monsieur Attaché! Ich werde mir erlauben, gelegentlich wieder bei Ihnen vorzusprechen!"
Ein kurzes, nun wieder fast herrisch anmutendes Kopfnicken beendet diese zweifelhafte Unterredung - Graf Walsin-Esterhazy verlässt mit schnellen Schritten den Ort seines schnöden Verrats. Draußen verschluckt ein teppichbelegter Flur alle weiteren Geräusche.
Oberstleutnant von Schwartzkoppen erhebt sich ebenfalls und geht nachdenklich zu einer dunkel gebeizten Anrichte. Er öffnet zwei Glastürchen und entnimmt dem Schrank eine dickbauchige Flasche. Dann fließt eine dunkle Flüssigkeit zäh wie Öl in das stilechte Kristallglas. V.Schwartzkoppen starrt, ohne etwas zu sehen, zum offenen Fenster hinüber. Seine Eröffnungsvariante á la Frankreich scheint gelungen. Alles Weitere hängt von den Kombinationen im Mittelfeldspiel ab. Zufrieden lächelnd genehmigt sich der Militärattaché noch einen Schluck des süffigen Getränks aus der Gegend um Cognac: Sie sind schachmatt, mon Chevalier Esterhazy ...