Lord Byrons letzte Fahrt
Eine Geschichte des
Griechischen Unabhängigkeitskrieges
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© Wallstein Verlag, Göttingen 2021
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Umschlaggestaltung: Susanne Gerhards, Düsseldorf, unter Verwendung des Gemäldes von Peter Hess, Palikaren bei Athen (1829)
Lithografie: SchwabScantechnik, Göttingen
ISBN (Print) 978-3-8353-3870-8
ISBN (E-Book, pdf) 978-3-8353-4595-9
ISBN (E-Book, epub) 978-3-8353-4596-6
Einleitung
Ein sinnloser Gang: Byron sticht in See
Warum Fletcher nicht ganz unrecht hatte
Erster Teil. Die Grundlagen
Die Dankesschuld
Wie das Nationale entstand: Das Crêpe-Modell
Sie nannten sich Romioi
Exkurs: Wie griechisch waren die alten Griechen eigentlich?
Das osmanische Griechenland
Das slawische Element
Das albanische Element
Das türkische Element
Das jüdische Element
Das wlachische Element I: Die Nomaden
Banditen oder Freiheitskämpfer – Palikaren, Kleften und Hajducken
Die Sulioten
Die Manioten
Die Fanarioten
Die Donau-Fürstentümer
Die Händler
Das wlachische Element II: Die nordgriechischen Händler- und Produzentenrepubliken
Hydra, Spetses, Psara und die anderen Inseln
Die Ionischen Inseln
Die Kotzabasides oder Primaten
Die orthodoxe Kirche
Diafotismos – Die griechische Aufklärung
Agrotia – Die Bauern
Zweiter Teil. Die Vorgeschichte
Orlofika – Der Orlov-Aufstand
Rigas Feraios – Vordenker einer Balkandemokratie
Mahmut II. – Sultan auf undankbarem Posten
Filiki Eteria – Die geheime Gesellschaft
Der internationale Rahmen
Ali Pascha, der Löwe von Tepelene
Der serbische Aufstand
Alex
Dritter Teil. Der Aufstand
Alexandros Ypsilantis – Der Aufstand begann in Rumänien
Der Sturm bricht los
Die Vergeltung
Exkurs: Die Frauen der Epanistasis
Troja überall – Der Fall von Tripolitsa
Der Krieg zur See
Die Philhellenen I – Der Weg nach Marseille
Epidauros – Der lange Weg zur Verfassung
Die Philhellenen II – Der Kulturschock
Chios
Die Philhellenen III – Stille Tage in Korinth
Die Philhellenen IV – Der Weg nach Peta
Dramalis Untergang
Die erste Belagerung von Messolongi
Das unheilige Tryptichon – Byron, Shelley und Trelawny
Der erste Bürgerkrieg
Der Kredit I – Idealismus mit Eigennutz
Byron wartet ab
Die 100 Tage von Messolongi – Byron’s Farewell
Der Kredit II – Korsaren des freien Marktes
Der zweite Bürgerkrieg und andere Ereignisse des Jahres 1824
Die Ägypter kommen
Hastings und Fabvier
Der Kredit III – Bevormundung und Missmanagement
Der Fall Messolongis
Als die Amerikaner bella figura machten – Jarvis, Miller und Howe
Athen oder die letzte Chance
Da plötzlich vor Navarino
Vierter Teil. Der Krieg geht weiter
Die 1.000 Tage des Ioannis Kapodistrias
Bavarokratia
Was wurde aus dem Byron’schen und den anderen »Helden« dieses Krieges?
Kleines Land, große Ideen – Was wurde aus der Pallikaria?
Schlussbemerkung
Anmerkungen
Literatur
Glossar
Dank
If I am fool, it is, at least, a doubting one; and I envy no one the certainty of his self-approved wisdom.
Lord Byron
Ihr Berge, wollt euch nicht senken,
ihr Gipfel nicht weichen,
damit wir die grünen Felder erblicken
und die blühenden Hänge?
Die Wiesen mit den Schafen, das Meer mit den Schiffen.
Und die Gipfel wichen zurück, es senkten sich die Berge,
und da sahen wir Felder voll Kreuzen, Hänge voll Toten,
schäumendes Meer, das Gerippe an Land spie,
Scharen von Raben, Rudel von Hunden.
Vassilis Rotas
Mylord ist vielleicht sehr wunderlich, aber er hat ein gutes Herz.
Er hatte nicht sieben Jahre seines Lebens in Italien vergeudet, um nun, da große Taten und Gefühle am Horizont lockten, im Hafen von Genua festgehalten zu werden. Am 13. Juli 1823 stach die Hercules nun doch in See.
Ein moderner Jason führte ihre Passagiere an: George Herbert Byron, populärster und verrufenster Dichter seiner Zeit. Ihr Ziel: das osmanische Rumelien, auf dessen Boden sich einst das antike Griechenland befand. Ihre Mission: die Befreiung der Griechen vom türkischen Joch. Ihr Kapitän: John Scott, ein erfahrener und meist betrunkener Seebär. Mit an Bord: der Medizinstudent Francesco Bruno, der junge Graf Pietro Gamba, Bruder von Byrons Geliebten Teresa Guiccioli, und in seinem Tatendrang dem bewunderten Lord in nichts nachstehend; weiters Edward John Trelawny, ein robuster Draufgänger aus Cornwall und angeblicher Ex-Pirat, dessen Hochachtung für Byron sich mittlerweile in verhohlene Abneigung gewandelt hatte und der in Griechenland sein eigenes Süppchen zu kochen gedachte, und schließlich William Fletcher, Lord Byrons getreuer Diener, der seinen Herren schon vierzehn Jahre zuvor in die Levante begleitet hatte. Keine nordenglische Landratte seines Standes dürfte zu seiner Zeit je so viel von der Welt gesehen haben wie Fletcher. Sieben weitere Diener befanden sich an Bord, fünf Pferde, Byrons Hunde, Gewehre, Munition, zwei Kanonen, Unmengen Medikamente und 50.000 spanische Dollars.
Für Trelawny und sich hatte Byron »zwei Helme entworfen, die denen glichen, die nach dem sechsten Buch der Ilias das Kind Astyanax so erschreckten«.[1] Trelawny weigerte sich, den seinen aufzusetzen, und so blieben die Helme in Genua.
Byron, das sei zur Ehrenrettung dieses noblen Narren vorausgeschickt, war sich seiner Lächerlichkeit wohl bewusst, und nur wenige derer, die seine Zerrissenheit bewunderten und imitierten, kannten die widerstrebenden Kräfte, die in ihm rumorten: neben unzähligen anderen etwa der Hang zu tragischem Pathos, stets in Allianz mit dem Zwang zu dessen ironischer Zerstörung. Ersterer machte ihn zum Popstar, Letzterer stieß seine Bewunderer konsequent vor den Kopf.
Am Vorabend seines griechischen Abenteuers hatte Byron an Lady Blessington geschrieben: »Nie öffnen sich mir die Augen für die Narrheit der Wegstücke, zu denen Leidenschaft mich treibt, ehe ich nicht so weit hineingezogen bin, dass mir ein ehrenvoller Rückzug versperrt bleibt. Daher erhebt sich meine Klugheit zur Unzeit und verjagt die Begeisterung, die mich in das Unternehmen trieb und die ich unbedingt brauchte, um es fortzusetzen. So wird der Abstieg hart für mich. Und gälte es, mein Leben zu retten, es gelingt mir nicht, meine Vorstellung von neuem anzuheizen, und meine Situation bringt mir nur komische Bilder und Gedanken. Wenn ich diesen Feldzug überleben sollte (und das ist ein großes Vielleicht in der Folge meiner Geschichte), werde ich zwei Gedichte über dieses Thema schreiben, ein episches und ein burleskes, und darin werde ich niemanden schonen und mich weniger als irgend jemand anderes …«[2]
Und wenig später würde er bekennen: »Ob ich scheitere oder nicht scheitere, ich kann kaum eine Enttäuschung erleben – denn ich habe von Anfang an gewusst, dass ich einen sinnlosen Gang tue.«[3]
Es ist ein Freitag, der 13., als die Hercules aus dem Hafen von Genua ausläuft, denn Byron will seinen notorischen Aberglauben mit Paradoxie austricksen. Ein schwüler, heißer Tag, kein Lüftchen regt sich. Auf offener See jedoch zieht ein Sturm auf, die Pferde scheuen, zertrümmern mit den Hufen die Wände ihrer Boxen, und die nur leidlich seetüchtige Brigg kehrt in den Hafen zurück. Byron betrachtet den misslungenen Beginn der Mission als gutes Omen. Beim zweiten Versuch sind die Winde günstig.
Einige Tage später macht das Schiff Zwischenstopp in Livorno, wo Byron zu seiner Freude einen Brief von Goethe vorfindet, worin dieser sich mit einigen freundlichen Versen für Gedichte bedankt, die ihm Byron hat zukommen lassen. Der Lord schreibt seinen letzten Brief an Goethe und setzt die Reise, von der er – wie er ahnt – nicht wiederkehren wird, fort. Byron liebt Goethe und wird sich bis zu seinem Tode nicht bewusst sein, wie sehr der alte Meister den jungen Heißsporn liebt. Jener war wohl der einzige, der Byrons Fähigkeit über dessen Starkult hinaus nüchtern einzuschätzen wusste. »Die Engländer«, sagte er einmal zu Eckermann, »mögen auch von Byron halten, was sie wollen, so ist doch so viel gewiß, daß sie keinen Poeten aufzuweisen haben, der ihm zu vergleichen wäre. Er ist anders als alle übrigen und meistenteils größer.«[4]
Lord Byron weiß also, dass sein Gang sinnlos ist, und er ahnt die Nähe seines Todes. Er, der so viele düstere Helden gemalt hat, zählt 35 Jahre, verliert Haare und gewinnt an Gewicht und kann neben seinen Versen auf nicht mehr Heldentaten zurückblicken als einige provokative Reden im House of Lords, eine Reihe mehr oder weniger skandalöser Affären – und seinen Keller in Bologna den aufständischen Carbonari [5] als Waffenlager zur Verfügung gestellt zu haben.
»Von Herzen müde des eintönigen Lebens, das ich in Italien mehrere Jahre lang führte, krank durch Vergnügungen, müde des Schreibens […] fühle ich die dringende Notwendigkeit, dem Gang meiner Ideen eine neue Richtung zu geben, und die aktiven, gefährlichen, aber ruhmreichen Szenen der militärischen Laufbahn fesselten meine Phantasie …«[6] Ursprünglich wollte er sich den südamerikanischen Revolutionären um Simón Bolívar anschließen. Dann entschied er sich doch für die Griechen. Die Ziele seines selbsttherapeutischen Tatendrangs schienen austauschbar zu sein.
Und doch war er kein Schwärmer. Als der ebenso schöngeistige wie geschäftstüchtige Sekretär des London Greek Committee, John Bowring, in einem Brief an den Poeten selber den Poeten in sich auszuleben versuchte und die üblichen Floskeln vom »klassischen Land der Freiheit, der Wiege der Künste und des Genies, des Wohnsitzes der Götter, dem Paradies der Dichter und anderer schönen Dinge«[7] bemühte, dürfte er keinen Begriff gehabt haben, wie sehr Byron das hasste, was er enthuzymuzy nannte. Nüchtern hatte er diesem geantwortet: »An Material wird für die Griechen zunächst Folgendes vonnöten sein: eine Feldartillerieausrüstung – leicht und für den Bergeinsatz tauglich; zweitens Kanonenpulver; drittens Sanitätsfahrzeuge …«.[8] Auf vier Seiten folgte ein logistisches Fachtraktat mit Kostenanalysen, Nennungen von geeigneten Verbindungsleuten und Versorgungswegen.
An Bord erwachten Byrons Lebensgeister, und er tat alles, um seinen sein ganzes junges Leben lang einstudierten Posen gerecht zu werden: Ritter und Raubein, Spaßvogel und dämonischer Herrenmensch. Er frönte auf der Hercules also ganz dem Byronismus: Er boxte mit Trelawny, focht mit Gamba, nahm nur Käse, Gurken und Cider zu sich, schoss mit Pistolen auf Möwen, spielte mit seinen Hunden und spann mit dem Kapitän Seemannsgarn.
Kapitän Scott indes freundete sich mit Fletcher an, und Trelawny gibt in seinen Erinnerungen ein aufschlussreiches Gespräch wieder, das die beiden am Heck der Brigg geführt haben. »Warum«, fragte der Kapitän, »geht Ihr Herr in diese wilden Länder?« Fletcher fragte sich dasselbe. »Da gibt es nur Felsen und Räuber«, sagte er, »sie leben in Löchern und kommen wie die Füchse daraus hervor. Sie haben große Flinten, Pistolen und Messer. […] Die Türken sind die einzigen achtbaren Männer im Land. Wenn sie weggehen, wird Griechenland wie ein Haus voll freigelassener Irrer sein … Es ist ein Land von Flöhen, Fliegen und Dieben. Warum Mylord hingeht? Gott allein mag es wissen, nicht ich.« Und in diesem Augenblick, als er bemerkte, dass sein Herr zuhörte, sagte er noch: »Und mein Herr kann nicht leugnen, dass alles wahr ist, was ich gesagt habe.« – »Nein«, entgegnete Byron, »für alle, die die Dinge mit Schweinsaugen betrachten und nichts weiter sehen können, ist das so.«[9]
Und jetzt, was soll aus uns werden ohne die Barbaren? Diese Leute, sie waren eine Art Lösung.
Es sei gleich vorausgeschickt: Lord Byron, der prominenteste Freiwillige des Griechischen Unabhängigkeitskrieges, interessiert in diesem Buch weniger als was er sich selbst gerne gesehen hat, als Held, als Subjekt, als Persönlichkeit, denn als tauglicher und tragischer Knotenpunkt der Ideologien und Widersprüche seiner Zeit. Da er diese Rolle so mustergültig erfüllt, soll auch für seine Persönlichkeit einiges an Aufmerksamkeit abfallen. Denn von all den Romantikern, die dazu neigten, mehr von Ironie zu parlieren, als sie zu pflegen, war er der gewitzteste, und von allen Romantikern, die mit ihrem militärischen Engagement erstmals die Ästhetisierung der Politik in Angriff nahmen, war er der abgeklärteste. Auch wenn er in diesem Buch sowie im gesamten Aufstand selbst nur eine Gastrolle hat, so schwebt sein desillusionierender Geist über jeder Seite. Zum Beispiel in der Abfolge von Abenteuergeschichten und Börsenberichten, von romantischer Überhöhung und materiellem Eigennutz, in Porträts von edelmütigen Idealisten als Werkzeugen von Völkermorden und windigen Schurken als Vollstreckern rechtsstaatlicher Standards.
Interessanterweise würde Byron als »unbyronischster« aller Philhellenen erst spät (1824) am Kriegsschauplatz erscheinen, als Dutzende der von ihm beeinflussten Byron’schen Helden sich dort bereits ihre Hörnchen abgestoßen hatten, gefallen oder zurückgekehrt waren.
Lord Byron in albanischer Tracht. Gemalt 1813 von Thomas Phillips, National Portrait Gallery, London.
Byron wusste, dass Fletcher mit seiner Einschätzung von Griechen und Türken nicht ganz unrecht hatte, und doch wusste er auch, dass den alten Dynastien, gleich ob in Okzident oder Orient, die Stunde geschlagen hatte, und hoffte wie so viele seiner Generation, dass im Zwischenstadium eines neuen Staates mit einem eigenen Staatsvolk die Ideen der Französischen Revolution auf ein Neues, und diesmal vielleicht humaner, ausprobiert werden könnten – immer wieder, bis es einmal klappt. Und auch er hoffte wohl, die Weltgeschichte würde – in den Worten des Byronanhängers Heinrich Heine – von der »Nationalität zur Fraternität« führen. Doch schon die Entwicklung des Staates, für dessen Gründung Byron starb, und all der anderen Nationalismen auf dem Balkan, und zuvor noch im restlichen Europa, hätte ihm genug Beispiele geben können, wofür der österreichische Dichter Franz Grillparzer 1849 die ernüchternden Worte fand: »Der Weg der neuen Bildung geht von Humanität durch Nationalität zur Bestialität.«[10]
Da alle Parteien der Aufständischen und ihrer Unterstützer die Freiheit Griechenlands im Sinn hatten, aber beinahe jede etwas anderes damit meinte, sollen im vorliegenden Buch die Fragen geklärt werden: Für welche Freiheiten kämpften diese Parteien? Gegen oder für welche internationalen Interessen taten sie dies? Und: Wer waren die Griechen überhaupt?
Als Fürst Alexandros Ypsilantis am 22. März 1821 mit einem kleinen Regiment den Grenzfluss zwischen Russland und dem Donaufürstentum Moldau,[11] den Pruth, überquerte, um eine anti-osmanische Revolution auszurufen, ahnte niemand, welche weltpolitischen Auswirkungen dieser zum Scheitern verurteilte Alleingang des Vorsitzenden der griechischen Geheimgesellschaft Filiki Eteria haben würde. Obwohl Ypsilantis überall vollhalsig verkündete, die Vorhut einer zaristischen Armee anzuführen, handelte er ohne Mandat der russischen Regierung. Die etwa zur gleichen Zeit ausbrechenden Aufstände auf der Peloponnes wurden von Sultan Mahmut und seinem Kabinett, dem Diwan,[12] zunächst nicht besonders ernst genommen. Der Sultan vermutete in ihnen die seit Generationen üblichen Mückenstiche lokaler Warlords, um die Zentralgewalt auf sich aufmerksam zu machen. Dieses Spiel war hochriskant. Entweder verloren die Aufwiegler ihren Kopf, oder sie wurden für ihre Renitenz mit einer semiautonomen Position innerhalb der osmanischen Verwaltungshierarchie belohnt. Denn wer die Steuern abführte und wie er sie einhob, darum konnte sich die äußerst fragile Oberhoheit in Istanbul längst nicht mehr kümmern. Als Mahmut erkannte, dass diese Revolte doch eine ernstere Angelegenheit war, hielt er sie für ein russisches Komplott, so wenig traute er der sogenannten Rajah,[13] seinen christlich-orthodoxen Untertanen, eine eigenständige Revolution zu. Was er schwer begreifen konnte: dass er es hier mit einem völlig neuartigen Phänomen zu tun hatte – einer nationalen Erhebung.
Was die Sache noch komplizierter macht: Ein Großteil der Griechen, und zwar derer, die zu den Waffen griffen, wusste es selbst nicht. Keiner der am Aufstand beteiligten Bauern, meinte Eric J. Hobsbawm, sei Patriot gewesen. Und um die Verwirrung am Beginn dieses Buches gleich vollkommen zu machen: Diese Griechen wussten nicht einmal, dass sie Griechen waren. Dies wussten dafür die mit ihnen solidarischen Europäer. Oder glaubten es zu wissen.
Die raffinierteste Form der Komödie spottet der Selbstüberschätzung ihrer Protagonisten, der Illusion, nach Plan und Wille vorzugehen, indem sie alles aus dem Ruder laufen lässt und jene in völlig andere als die erwarteten Situationen schleudert. Die Königinnendisziplin der Burleske bringt sie über amüsante Umwege dann im letzten Augenblick doch noch ans Ziel ihrer Wünsche, ganz anders freilich, als sie sich das vorgestellt hatten. Die Irrungen und Wirrungen des Aufstandes von 1821, der Epanastasi tou Ikosiena, wie die Griechen ihn nennen, waren weniger amüsant; sie ließen Hunderttausende Tote zurück, und die wenigsten von ihnen fielen im Feld, sondern waren Zivilisten, wurden massakriert, starben an Seuchen, verhungerten oder ertranken.
Eine kleine Skizze, um zu Beginn dieses Buches die Muster der Missverständnisse zu konturieren: Die überwiegende Mehrheit der Aufständischen dachte zutiefst osmanisch – sie wollte die Paschas aus ihren Serails vertreiben und selbst Paschas sein, christliche zumal. Einer kleinen Schicht westlich gebildeter Intellektueller gelang es jedoch, dieser Mehrheit eine erstaunlich progressive Verfassung auf der Höhe ihrer Zeit aufzuerlegen. Nicht nur das, sie schaffte es, mit wechselndem Erfolg, aber unter schlauer Instrumentalisierung der lokalen Fronten und Animositäten, nicht nur eine Verfassung, sondern auch eine Regierung mit Gewaltenteilung und rechtsstaatlichen Standards zu bilden. Auch wenn diese teils nur dem Schein nach existierte, so bedeutete es eine geradezu übermenschliche Leistung, diesen Schein durch zehn Jahre der inneren wie äußeren Anfechtungen aufrechtzuerhalten. Wenige dieser Politiker taugten als Identifikationsfiguren, sie waren zuweilen korrupt und machtgierig, lächerlich und untereinander zerstritten, doch unter den denkbar schwierigsten Bedingungen Werkzeuge einer notwendigen Modernisierung, deren Saat zwar jahrzehntelang kaum austreiben würde, aber unwiderruflich in der kargen Erde stecken blieb, die nun eine griechische war.
Um die etwas bizarre Skizze zu vollenden: Die konservativen Großmächte Europas missverstanden die griechische Erhebung als eine dieser jakobinischen oder republikanischen Umtriebe, die es mit Stumpf und Stiel auszurotten galt. Die bürgerliche Öffentlichkeit hingegen erklärte sich in nie zuvor gesehenem Enthusiasmus solidarisch mit den Griechen. Und hätte das nicht getan, wenn der Aufstand nur die östliche Fortsetzung der spanischen und italienischen Demokratiebewegungen gewesen wäre. Denn zwei weitere Missverständnisse nährten die glühende Solidarität mit den Griechen, deren Name bereits Programm war. Es waren keine Revolutionäre und Königsmörder, sondern – Griechen. So missverstand ein Großteil der solidarischen Europäer den Aufstand als das Wiedererwachen des alten Hellas, eine überwiegend deutsche Minderheit hingegen als den Befreiungsnationalismus einer unterdrückten Kultur, so wie sich die in Fürstentümer zersplitterten Deutschen, die nur die »Tiefe ihrer Kultur« vereinte, gegen französische Despotie und deren civilisation aufgelehnt hatten.
Diese blutige Burleske der Verkennungen erzeugte eine Dynamik, die wider Erwarten, mit Hilfe des Zufalls und einiger Großmachtinteressen, im letzten Augenblick, kurz vor der Kapitulation, dann doch einen griechischen Staat zuwege brachte.
Die soeben entworfene Skizze gilt es im vorliegenden Buch mit Farbe zu füllen. Darin soll zunächst die ethnographische und soziale Vielfalt der griechischen Gesellschaft aufgeschlüsselt werden. Weiters wird das Buch das Wesen der osmanischen Herrschaft, die Ideologien der philhellenischen Unterstützer und die historische Basis des Aufstandes erörtern und schließlich den Krieg selber in seiner ganzen verstörenden Planlosigkeit erzählen.
Werke über den Griechischen Unabhängigkeitskrieg neigten bisweilen entweder zu einer bloß westlichen Perspektive oder einer allzu nationalen Eigeninterpretation. Ich werde versuchen, den griechischen, den westlichen und den osmanischen Fokus in ein neues Bild einzubeziehen, das zwar anders aussieht als die heroischen Opfergemälde des Eugène Delacroix, dafür aber keiner der gängigen Deutungen ein passendes Spiegelbild gewährt.
Die Epanastasis mag ein lokaler Konflikt gewesen sein, doch sie löste einen weltanschaulichen Weltkrieg aus. So viele unterschiedliche Konzepte und Motive, alte wie neue, in ihr aneinandergerieten – den Kritikern eines ethnokulturellen Nationalismus bietet sie trotzdem wenig Angriffsfläche. Dafür war die Zeit noch nicht reif. Niemand hatte damals vorhersehen können, dass der Volksgeist, die Vorstellung von der Selbstverwirklichung einer kulturellen Einheit in Form von Eigenstaatlichkeit zu einem hegemonialen Ordnungsprinzip werden würde. Um 1820 existierte sie nur als Projektion der Romantiker, welche sich noch nicht recht entscheiden konnten, ob sie die Griechen als Nachfahren einer antiken Zivilisation oder als Träger einer lokalen Kultur unterstützen sollten.
So ist der antinationale Duktus dieses Buches weniger auf die Griechen als auf ihre westliche Wahrnehmung, heute wie damals, gemünzt. Dass die Kulturnation eine Konstruktion sei, gilt seit langem als ausgemacht. In welchem Ausmaß sie konstruiert ist, überfordert aber das Denken selbst kritischer Geister, aus dem einfachen Grund, weil sie in Schule und Medien, bevor sie kritische Geister wurden, Völker und Nationen als natürliche Aggregatszustände der Menschheit übermittelt bekamen und diese Völker, welche in dieselben Schulen gingen und dieselben Medien rezipierten, ja mittlerweile zu fassbaren Realitäten geronnen sind.
So sei als Akklimatisierung anhand einiger Begriffserklärungen gleich vorweg demonstriert, wie sehr unsere Vorstellungen von Geschichte und Kultur – wie Immanuel Wallerstein einmal bemerkte – nicht in Stein gemeißelt, sondern bloß in Lehm geritzt sind.[14]
Wenn im Folgenden von Griechen und Türken die Rede ist, sind damit nie die geschlossenen ethnischen Kategorien gemeint, deren Kontinuität wir für selbstverständlich halten. Die Volksbezeichnungen dienen (ebenso wie in ihrem vornationalen Gebrauch) als Vereinfachungen, die das Bezeichnete nicht exakt fassen, aber eine für den konkreten Kontext ungefähre Richtung vorgeben. Ich werde sie selbst verwenden, um nicht jedes Mal schreiben zu müssen: Menschen, die Griechisch sprachen und orthodoxen Glaubens waren oder Menschen die sich selbst Romäer nannten, aber von gebildeten Europäern und einer dünnen Schicht romäischer Intellektueller mit Griechen identifiziert wurden. Oder damit ich statt Türken nicht schreiben muss: muslimische Untertanen des Osmanischen Reichs.
Westeuropäer, aber auch katholische Griechen und mitunter orthodoxe Bewohner der Ionischen Inseln wurden seit den Kreuzzügen im Orient, und somit auch von »Türken« wie »Griechen«, Frangoi bzw. Frenkler, also Franken genannt.
Deshalb sei dem Vorwurf gleich am Anfang der Wind aus den Segeln genommen, ich würde die Griechen nicht zu den Europäern zählen, wenn ich etwa von europäischer Wahrnehmung der Griechen und europäischen Griechenlandfreiwilligen schreibe. Es handelt sich dabei nicht um Eurozentrismus oder Orientalismus, sondern die Perspektive der levantinischen Griechen selbst. Sie hatten sehr klare Vorstellungen, wer und was Westler, Franken, Europäer sind. Keine ethnologischen oder historischen Haarspaltereien sind das, sondern Vorgriffe auf den didaktischen Nebeneffekt dieses Buchs: unsere Bezeichnungen und die damit verbundenen Vorstellungen einer kritischen Revision zu unterziehen. Diesem Zweck könnte auch das Choronym Morea dienen.
Morea verwende ich nicht nur als ein Synonym für die Peloponnes, um zu viele Wortwiederholungen zu vermeiden. Vielmehr war der Begriff, unter dem der südliche Teil Griechenlands im gesamten Mittelmeer bekannt war, auch bei den Griechen gebräuchlich. Peloponnes war in Vergessenheit geraten. Und wurde von Staats wegen, durch eine Allianz westlich gebildeter Griechen und Bayern, im Rahmen einer neuklassizistischen Rehellenisierung von oben wiedereingeführt. Die Bewohner der Morea,[15] die seit 1.000 Jahren ihr Land als Morea und nichts anderes kannten, benutzten den Begriff unverdrossen weiter. Man könnte nun einwenden, Morea sei eine venezianische oder slawische Fremdbezeichnung, und somit sei den Griechen, die sich als Romäer (Oströmer) verstanden, und den Peloponnesiern, die sich Moreoten nannten, ihr rechtmäßiges, urgriechisches Toponym zurückerstattet worden. Doch spiegelt der Begriff, anders als das museale Peloponnes, die Dynamik von Einwanderungen und Landnahmen wieder, die Herrschaft der Venezianer, Genuesen und weiterer fränkischer Usurpatoren oder aber die vergessene und verdrängte Präsenz von Slawen. Mit aller Wahrscheinlichkeit handelt es sich um kein slawisches Wort (von more: Meer), wahrscheinlicher ist die romanische Ableitung eines griechischen Begriffs: mouro: Maulbeere. Auf Maulbeerbaumblättern ließ man die Seidenraupen ihre Fäden und damit eines der Hauptexportprodukte der Region spinnen. Somit verriete uns die Landesbezeichnung ein interessantes Stück Wirtschaftsgeschichte. Und erwiese sich als relevanter als das Land des Halbgottes Pelops, zu dem die Moreoten so viel Bezug hatten wie zur Formel 1 oder japanischer Gartenkunst. Doch höchstwahrscheinlich handelt es sich bei Morea nur um eine Metathese, also eine Lautumwandlung der alten Bezeichnung Romea.
Den meisten Griechen um 1800 waren die antiken Griechen nicht etwa fremd, weil, wie der Orientalist Fallmerayer behauptete, kein Tropfen hellenisches Blut, sondern nur slawisches und albanisches in ihren Adern flösse, sondern weil das Christentum die Kontinuität aus dem kollektiven Gedächtnis radiert hatte.
Was man allgemein unter Griechenland versteht, nämlich in etwa das Territorium innerhalb der Grenzen des heutigen gleichnamigen Staates, war schon 500 v. Chr. nicht mehr der letzte Stand der Dinge, als sich die griechische Welt auf Kleinasien und Süditalien (Magna Graecia) ausgebreitet hatte. Sie war polyzentrisch. Lediglich die politische Bedeutung von Athen und Sparta lenkte die Aufmerksamkeit aufs »Mutterland«. Die Griechen um 1800 kannten nur die Morea, das Land nördlich davon war als Rumeli bekannt, ein gräkisierter türkischer Begriff, der sich von einem türkisierten griechischen Begriff ableitete. Zwischen Moreoten und Rumelioten bestand eine althergebrachte Animosität, jedenfalls kein ausgeprägtes Gemeinschaftsgefühl.
Rumeli heißt Land der Römer, also der Oströmer, heißt: der orthodoxen Christen. Aus osmanischer Perspektive war damit der gesamte Balkan gemeint, aus griechischer entweder alle griechischsprachigen Regionen nördlich des Golfs von Korinth, häufiger jedoch das gebirgige Mittelgriechenland (Sterea Ellada plus Akarnanien und Ätolien). Auch die antiken Provinzbezeichnungen Epiros, Thessalien und Makedonien fanden kaum mehr Verwendung. Nur die klassizistischen Projektionen der Philhellenen und westlich gebildeter Griechen lokalisierten Hellas als das Griechenland des südlichen Balkans. Die Griechen selbst hatten da schon eine kulturell und geografisch weiträumigere – post- und neobyzantinische Vorstellung. Ihre rechtmäßige Hauptstadt wäre nicht Athen, sondern Konstantinopel gewesen. Und hätten die moderneren Akteure der Revolution – Mavrokordatos, Kolettis, Metaxas, Negris und die Ypsilantis-Brüder – geahnt, dass sie bloß die Ziegenweiden des mykenischen Hellas befreien würden, hätten sie wohl darauf verzichtet.
Oft wird im Buch von Kleften die Rede sein, was schlichtweg Diebe bedeutet. Da das Wort im Ethos des Kleftes nichts Ehrenrühriges hatte und durchaus als Eigenbezeichnung diente, ist seine Verwendung nicht diskriminierend gemeint. Ein neutralerer Ausdruck wäre aber Palikare (Pallikari), also junger, tapferer Krieger. Gleich ihren nördlichen Kollegen, den Hajducken, waren die Kleften und Palikaren wirklich nichts als Banditen, und – von einigen interessanten Ausnahmen abgesehen – wird man nach eingehendem Studium der Materie die Wunschvorstellung von Robin Hoods, also Sozialrebellen (Eric J. Hobsbawm) ebenso respektvoll bestatten müssen wie die von patriotischen Befreiern eines unterdrückten Volkes. Eher glichen sie den Warlords im heutigen Somalia, die mit ihren bewaffneten Banden in Pickups von Dorf zu Dorf fahren, um deren Bewohner zu terrorisieren und ihnen Abgaben abzupressen.
Die überwiegende Mehrheit der Aufständischen rekrutierte sich aus dieser Brigantenschicht. Nicht alle Palikaren waren Kleften, aber alle übernahmen sie im Krieg Ethos, Tracht und Methoden des Kleftenwesens (Kleftouria).
Lesern und Leserinnen wird vielleicht auffallen, dass ich den Begriff Revolution für das beschriebene Ereignis nur äußerst sparsam verwende. Revolution bedeutet eine grundlegende, abrupte Umwälzung der vorangehenden Verhältnisse, eine systemische Progression. Hierin ist sich die Fachwelt nicht einig. Es gibt einige Aspekte, die beim griechischen Fall dafür sprechen, aber doch viele, die den Terminus Revolution nicht ratsam erscheinen lassen. Jeder und jede soll am Ende des Buches selbst entscheiden, ob der Krieg von 1821 bis 1829 eine Epanastasis, eine Revolution war oder bloß eine nationale Umfärbung bestehender Strukturen mit moderner Fassade. Beides wäre argumentierbar. Ich werde es vorziehen, vom Unabhängigkeitskrieg oder vom Aufstand zu schreiben, und nichts anderes taten die Griechen von 1821 selbst, sie nannten ihn zunächst Apeleutherotikos agonas – Freiheitskampf. Der Begriff Revolution hätte sie im neoabsolutistischen Europa nicht nur die Kreditwürdigkeit gekostet, sondern war auch der Mehrheit der wertkonservativen orthodoxen Gläubigen suspekt.
Das vorliegende Buch kann und will keine vollständige Ereignisgeschichte bereitstellen. Die Abfolge der unzähligen Scharmützel, Hinterhalte und Massaker mag den Actionfan wie den Militärhistoriker erfreuen, und für manchen Leser, manche Leserin könnte es noch immer zu viel Pulverdampf, Säbelgeklirre und Gewalt hier geben. Auch eine detailgetreue Wiedergabe der Regierungsumbildungen, die permanente Fluktuation der innergriechischen Allianzen, ihrer Intrigen und Interessen sowie die für Politologen und Rechtshistoriker bestimmt interessante Analyse der verschiedenen Verfassungsentwürfe kann nur kursorisch erfolgen, so wie ich überhaupt lediglich exemplarische Ereignisse aus dem unübersichtlichen Strom der Geschehnisse gefischt habe.
Der Griechische Unabhängigkeitskrieg war mehr als nur ein exotischer Mikrokonflikt an der Peripherie Europas, er war die vorauseilende Antwort auf die für das gesamte 19. Jahrhundert virulente Orientalische Frage und stellte die Heilige Allianz vor eine Zerreißprobe. In ihm hielt manche Ideologie, manch Thema der Zukunft Probe: Nationalismus, Imperialismus, Orientalismus, Medienpropaganda, humanitärer Interventionismus, die Erfindung von Traditionen, Plünder- und Hilfslieferungsökonomie, Muslimophobie und Turkophilie, Free Trade, die Paradoxien der Nahostpolitik, Ethnoromantik, Zivilisationsdünkel, Aufklärung und romantische Gegenaufklärung … Kurzum: Er war ein Nabelbruch der Moderne.
Schon zu Beginn des Aufstands wurden unvorstellbare Gräueltaten begangen. Von beiden Seiten. Doch hatte die griechische Seite damit begonnen. Dennoch muss jedem Versuch widerstanden werden, durch Verweis auf die verdrängten Genozide an der muslimischen Bevölkerung Griechenlands die Verantwortung für jüngere Massenmorde zu relativieren und eine posthume Täter-Opfer-Umkehr zu versuchen. Pikanterweise könnten die aktuellen Griechen sich von ihrer kollektiven Verantwortung nur befreien, wenn sie nicht länger auf ihren Nationalnarrativen beharren würden und sich der historischen Wahrheit stellten: dass sie erst nach diesen Massenmorden erfunden wurden. Das ist, zugegeben, etwas tendenziös formuliert. Aber im Vergleich zu den Deutschen von 1940 waren die Griechen von 1820 als kollektives Rechtssubjekt noch nicht auf der Welt. Nur in der retrospektiven Mystifizierung erhoben sie sich als Nation. Das ist kein staatsrechtlicher Winkelzug zur Exkulpierung, sondern bloß ein Angebot, geschichtlich zu denken. Der Aufstand war ein polymotivisches Unternehmen völlig diverser Interessengruppen, in das der Großteil der Bevölkerung, Bauern und Handwerker, wie in ein dunkles Verhängnis hineingezogen wurde, und der Exzess einer noch weitgehend vormodernen Welt. Ob barbarisch oder nicht, viel barbarischer würde sich die Diskrepanz zwischen ethischem Anspruch und Praxis der modernen bürgerlichen Gesellschaften gestalten: im Imperialismus und schließlich dem Zivilisationsbruch von Faschismus und Nationalsozialismus.
Der griechische Aufstand hatte, entgegen der allgemeinen Auffassung, noch keine ethnonationale Agenda. Weil diese damals selbst in Deutschland, wo sie zur Welt kam, noch in den Kinderschuhen steckte. Und das Ziel der Erhebung war alles andere als eindeutig: Konfessionell-dynastische Vorstellungen, republikanische Ideen, Raubökonomie und Usurpation lokaler Macht waberten ohne Vermittlung hin und her wie ein losgelassener spritzender Gartenschlauch. Für die Konzeption einer auf gemeinsamer Sprache gründenden Volksidentität war die Zeit noch nicht reif. Sie konnte nur mithilfe einer höchst artifiziellen Rückbesinnung auf ein imaginäres antikes Hellas von ihrem rein konfessionellen Bezug emanzipiert werden; und diese Emanzipation würde erst ein halbes Jahrhundert später bei der städtischen bürgerlichen Bevölkerung greifen, bei der ländlichen, welche die überwiegende Mehrheit bildete, dauerte das länger, und es dauert noch immer an.
Eine frühe kritische Aufarbeitung des Aufstandes, History of the Greek Revolution (1861), stammt von einem Zeitzeugen und aktiven Teilnehmer: George Finlay – einem der wenigen Philhellenen, die beschlossen, im Land zu bleiben. Sein trockener Realismus ist der Duktus des enttäuschten Romantikers, was ihn allerdings immun machte gegen nationale Beschönigungen und die oft schwelgerische und personalisierende Historiografie seiner Zeit. Sätze wie der folgende erklären seine mangelnde Beliebtheit bei den griechischen Intellektuellen, die ihn ebenso selten zu zitieren wie zu kritisieren wagten: »Ihre Rebellion leitete eine zu lange Periode der administrativen Anarchie ein, vergeudete die Ressourcen Griechenlands und schuf eine neue Rasse von Tyrannen, die so despotisch wie die verhassten Türken und weitaus gemeiner als diese waren.«[16] Trotz solcher Übertreibungen blieb Finlay der griechischen Sache treu, während andere britische Philhellenen wie David Urquhart, Julius Millingen und der spätere Premierminister Benjamin Disraeli sich in veritable Turkophile verwandelten. Die abschätzigen Worte des Liberalen Finlay hätten auch von den Intellektuellen der griechischen Linken stammen können, doch die brauchte noch ein halbes Jahrhundert, ehe sie zur Stimme der Unterprivilegierten und Ausgebeuteten werden konnte.
Im Freiheitskampf kämpften Verbrechen und Heroismus Schulter an Schulter, der tragische Heroismus derer, die ihr Leben, ihre Jugend, ihr Vermögen gaben für Ideen, die sie dem Aufstand andichteten, welcher sich diesen aber beständig entzog. Der plötzliche Kontakt so vieler westlicher Gebildeter mit der Kleftouria, der Welt der griechisch-albanischen Banditen, gewährte unschätzbare Einblicke in die Mentalität und Sitten dieser Gesellschaft, die sonst verborgen oder im Stadium der Romantisierung geblieben wären. Bildungsreisende hatten mit ihnen zuvor bloß in Form gelegentlicher Überfälle zu tun, nun aber krochen sie aus ihren Höhlen, kamen von ihren Bergen herunter und traten machtvoll ins Licht der Geschichte, und viele ihrer Clans wechselten in die Kasernen, Villen und Palazzi künftiger Regierungen und bestimmten die Geschicke des Landes mit.
Selten tummelten sich an einem Platz so viele Individualisten, Exzentriker, Abenteurer, Idealisten, Hochstapler und Narren. Eine Schnittmenge unglaublicher Biografien hält die Epanastasi Tou Ikosiena bereit, die viele weitere Bücher füllen könnte.
Genauso wie vor 200 Jahren entzieht sich der Aufstand auch heute noch den gängigen Deutungsmustern und offenbart die Unsinnigkeit, aktuelle ideologische Frontlinien in diese Zeit zurückzuprojizieren. Er gibt eine harte historische Nuss zu knacken. Die üblichen Märchen der nationalen Befreiung führen sich an ihm am leichtesten ad absurdum; chauvinistischen Vorstellungen von Primitivität und Demokratieunfähigkeit konterten die Ingenieure der Epanastasis mit dem modernsten Verfassungsentwurf ihrer Zeit; auch die antiimperialistische Erzählung funktioniert weder in Bezug auf die Osmanen noch auf die Briten noch die Deutschen recht. Die Briten hatten zunächst kein unmittelbares ökonomisches oder geopolitisches Interesse an Griechenland, sehr wohl aber am Osmanischen Reich. Vergleiche mit den aktuellen Schuldenfallen hinken zumindest bei den ersten beiden englischen Krediten, da es sich bei den Gläubigern nicht um Staaten und Nationalbanken, sondern private Banken und Shareholder handelte; auch antideutsche Spekulationen über die bayerische Fremdherrschaft König Ottos werden die erwünschten völkischen Herrenmenschenallüren nicht finden, eher ihr gleichfalls recht deutsches Diapositiv: romantisch übersteigerten Respekt vor der fremden Kultur bei völligem Unverständnis der politischen und sozialen Situation. Das Zarenreich arbeitete übrigens zwar intensiv an der Ablöse des Osmanischen Reichs, doch gerade zur Zeit des Aufstandes gönnte es sich eine Pause davon und sah von direkter Unterstützung der Griechen ab. Auch taugen die Osmanen von damals weder zu pro- noch anti-islamischen Interpretationen.
Als nicht minder widersprüchlich erwiesen sich die Positionen der philhellenischen Freiwilligen: Auf Hellas’ trockenen Karsten fochten und starben für eine gemeinsame Sache Republikaner, Nationalisten, Royalisten, Bonapartisten, Reaktionäre und Antikeschwärmer, mit weltanschaulichen Motiven, für die sie eigentlich einander hätten bekämpfen müssen. Was sie auch eifrig taten, denn hätte es die verlustreichen Schlachten von Peta (1822) und Athen (1827) nicht gegeben, wären mehr Philhellenen durch Krankheiten und in Duellen umgekommen als bei Kampfhandlungen.
Kaum eines ihrer Motive deckte sich aber mit denen der aufständischen Griechen, zwischen welchen noch viel mannigfaltigere Konfliktlinien verliefen: solche zwischen Moreoten und Rumelioten und den Parteien der Inseln, zwischen Moreoten und Räubern aus der Mani (Manioten), zwischen Bauern und Hirtennomaden, zwischen Bauern und Großgrundbesitzern (Primaten), zwischen Festlandgriechen (Autochthonen) und solchen aus Kleinasien (Heterochthonen), zwischen Primaten und Kleften, zwischen Kleften und Bauern, zwischen Kleften und Armatolen, zwischen Primaten, Kleften und westlich gebildeten Politikern, zwischen diesen und der orthodoxen Kirche, zwischen einer Englischen, einer Französischen und einer Russischen Partei, zwischen regulären und irregulären Militärs, zwischen Griechen und europäischen Griechenlandfreiwilligen. Man addiere hinzu die unerbittlichen Kämpfe, Rivalitäten und Blutfehden innerhalb der genannten Fraktionen und zwischen Einzelpersonen und füge die im Saisontakt fluktuierenden Allianzbildungen hinzu, und fertig ist ein Mosaik, das über weite Teile kein zusammenhängendes Bild ergibt, und dort, wo schon, kein schönes: ein bizarrer Reigen der Bestialitäten, Inkongruenzen und Vergeblichkeiten, der wie ein Malstrom Menschen, Weltanschauungen und Machtinteressen in sich hineinzog, in dem nichts so war, wie es schien, und die Teilnehmer auf wundersame Weise erst über ihre gegenseitigen Missverständnisse zueinanderfanden. Sein siegreiches Ende wurde durch weltpolitische Zufälle entschieden. Danach würde Europa nicht mehr sein, was es zuvor war.
Diese Geschichte lässt sich nur als Farce erzählen. Die Geburt der griechischen Nation indes war ein Kaiserschnitt ohne Baby. An dessen Stelle barg man eine antike Statue, die in München angefertigt wurde, und vergaß die blutige Wunde zu vernähen.
Es bedeutet keinen Mangel an Haltung und Gesinnung, die Ereignisse nüchtern zu betrachten, anstatt sie zu verdammen oder zu heroisieren. Haltung und Gesinnung gewinnen dadurch, dass man die Geschichte nicht nach deren Mustern knetet, sondern ihre Ambivalenzen erträgt. Haltung und Gesinnung aber, die sich nur durch Verdrängung erhalten können, scheinen nicht besonders solide und realitätsfest zu sein. Ahistorische Wertungen trüben das Verständnis des dialektischen Beziehungsgeflechts aus Katastrophen und Fortschritten; der Genese der Welt eben, wie sie sich uns heute darbietet, und die wir nur heute, aber nicht 1821 verändern können. Nicht mehr verändern, aber verstehen können wir die Welt von 1821. Zum Beispiel, indem wir falsche und interessengeleitete Historiografie korrigieren, was – Gewinn an allen Fronten – unabdingbar für die emanzipatorische Veränderung der Gegenwart wäre. Zum Beispiel unser Verständnis des Nationalen.
Wenn man wie ich überzeugt davon ist, aus Geschichte lernen zu können, dann ist der Apeleutherotikos agonas, der griechische Freiheitskampf, eines der lehrreichsten Schulschiffe der Desillusionierung, der therapeutischen Verwirrung, der intellektuellen Klarheit durch Kränkung unserer Gewissheiten.
Sage, wo ist Athen? ist über den Urnen der Meister
Deine Stadt, die geliebteste dir, an den heiligen Ufern,
Trauernder Gott! dir ganz in Asche zusammengesunken,
Oder ist noch ein Zeichen von dir, dass etwa der Schiffer,
Wenn er vorüberkommt, sie nenn und ihrer gedenke?
Stiegen dort die Säulen empor und leuchteten dort nicht
Sonst vom Dache der Burg herab die Göttergestalten?
Rauschte dort die Stimme des Volks, die stürmischbewegte,
Aus der Agora nicht her, und eilten aus freudigen Pforten
Dort die Gassen dir nicht zu gesegnetem Hafen herunter?
Es gab seit dem 15. Jahrhundert in Europa kein künstlerisches, intellektuelles und gesellschaftliches Feld, das sich nicht in irgendeiner Weise auf die römische und griechische Antike bezogen hätte. Überall wo sich im Rahmen einer allgemeinen Säkularisierung ein rein konfessionelles Weltbild zurückzog, wurden die Leerstellen sofort mit antiken Referenzen besetzt. Somit taugten die Griechen, welche sich 1821 gegen den Sultan erhoben, als legitime Erben der alten Hellenen und folglich als Projektionsfläche aller Hoffnungen, Aspirationen und Wünsche der gebildeten Schichten Europas.
Die Romantik hatte dem Griechenland-Enthusiasmus vorangegangener Generationen neue Infusionen des Gefühlsüberschwangs verabreicht. Der Sehnsuchtsort Griechenland war auf die Bühne aktuellen Weltgeschehens zurückgekehrt, und doch war es geheiligte Erde, die es da zu befreien galt – kein Ort bloß plebejischer Revolte, sondern retrospektiver Nährboden abendländischer Transzendenz. Der Gelehrte Carl Jacob Iken fasste die vorherrschende Stimmungslage in seinem Hellenion 1822 in folgende rhetorische Frage: »Waren nicht ihre Urahnen auch unsere Väter in Gesinnung und in Ausübung der Tugend, in Worten und Werken, nicht auch unsere Ahnen in der Wissenschaft, nicht unsere Muster in der Poesie, nicht unsere Lehrmeister in der Kunst, sind sie nicht jeden Augenblick Erzieher unserer Jugend, Bildner unseres Zartgefühls, Richtschnur für den Denker, Führer und Geleit dem Schriftsteller und dem Volkslehrer, Richtscheit für den Geschmack, Kompaß und Leitstern im Gebiet der Wahrheit, des Wissens und des Empfindens?«[1]
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