Blutige Seedüne

Ostfrieslandkrimi

Dörte Jensen


ISBN: 978-3-96586-317-0
1. Auflage 2021, Bremen (Germany)
Klarant Verlag. © 2021 Klarant GmbH, 28355 Bremen, www.klarant.de

Titelbild: Unter Verwendung von shutterstock Bildern.

Sämtliche Figuren, Firmen und Ereignisse dieses Romans sind frei erfunden. Jede Ähnlichkeit mit echten Personen, lebend oder tot, ist rein zufällig und von der Autorin nicht beabsichtigt.

Inhalt

Ascheengel

 

Hamburg, Juni

 

Sie beugte sich über die Wiege. Ihr Sonnenschein lag darin – die Augen geschlossen, den Mund leicht geöffnet. Tränen liefen über ihre Wangen und tropften auf die rosafarbene Bettdecke, als sie mit den Fingern sanft über die kalte Haut des Babys strich.

Er legte seine Hand auf ihre Schulter. »Das Schicksal ist manchmal eine richtige Bitch.«

»Danke, dass du sofort gekommen bist. Ich wusste nicht, wen ich sonst anrufen sollte.«

Sie drehte sich zu ihm um.

»Was hatten wir uns einst versprochen?« Er sah ihr in die Augen.

»Dass wir immer füreinander einstehen. Aber damals waren wir noch Kinder«, wandte sie ein.

»Das ändert nichts an unserem Schwur.«

Sie nickte bestätigend. »Ich hätte die Kleine nicht aus den Augen lassen dürfen. Aber ich muss doch irgendwie Geld verdienen. Amelie sollte einmal ein sorgenfreies Leben führen.«

»Das wird sie auch.«

Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken aus dem Gesicht. Ihr Körper war von der Sucht gezeichnet. Die schwarzen Haare umrahmten ein blasses Gesicht und fielen strähnig bis auf die Schultern. Die Haut hatte eine gräuliche Farbe, die Augen wirkten in dem totenkopfartigen Schädel riesig.

Die Adern der Arme, die skelettartig unter dem verdreckten Kleid hervorstachen, sahen aus wie bläuliche Schläuche, die seit vielen Jahren ein tödliches Gift durch den Körper transportierten.

»Wie meinst du das?«

»Aus der Asche deiner Vergangenheit wird ein neues Leben erwachsen.«

»Was soll das denn bedeuten?«

Mit ihren klauenartigen Fingern, die wie mit Haut überzogene Knochen aussahen, strich sie sich eine Haar­strähne aus dem Gesicht.

»Als ich heute Morgen nach Hause kam, war Amelie schon tot. Ich habe nichts genommen. Das musst du mir glauben.«

»Lüg mich nicht an!«

Seine Stimme war plötzlich kalt wie Eis.

»Deine Pupillen sind wie schwarze Löcher.«

Sie blickte schuldbewusst zu Boden. Er legte die Hand unter ihr Kinn und hob den Kopf an.

»Sieh mir in die Augen. Was würdest du für eine zweite Chance geben?«

»Alles.« Der ausgemergelte Körper erbebte unter einem Schluchzer. Er nahm sie in den Arm.

»Ab morgen wirst du Amelie eine gute Mutter sein.«

»Aber …«

»Keine Fragen, hast du das verstanden?«

Sie bewegte den Kopf so ruckartig vor und zurück, dass es wie ein pickender Vogel wirkte.

»Ich werde dir bei deinem Entzug helfen. Ist das Jugend­amt schon auf dich aufmerksam geworden?«

»Nein, bisher war noch niemand da.«

»Was ist mit dem Vater der Kleinen?«

»Keine Ahnung. Ich weiß nicht einmal, wer das ist.«

»Dann wird auch niemand Ansprüche stellen.«

»Amelie ist ein Hurenbalg.« Sie lachte freudlos auf. »Keiner wird auch nur einen müden Cent für das Kind zahlen wollen.«

»Das ist gut.« Er dachte einen Moment lang nach, bevor er fortfuhr: »Ich werde für eine Weile hier einziehen und mich um dich und das Kind kümmern. Ab sofort wirst du nicht mehr anschaffen gehen. Das Geld für deinen Lebens­unterhalt bekommst du von mir.«

»Du hast doch selbst kaum etwas.«

»Das wird sich ändern. Wenn du wieder aufwachst, wird dir alles wie ein schrecklicher Albtraum vorkommen.«

»Wie willst du denn …«

»Psst.« Er legte ihr den linken Zeigefinger auf die Lippen. Mit der rechten Hand zog er ein kleines Tütchen aus seiner Hosentasche.

»Das ist dein Ticket für eine Fahrt ins Land des Vergessens. Es wird dein letzter Trip sein.«

»Natürlich. Danach werde ich keinen Stoff mehr anrühren.« Sie riss ihm den kleinen Plastikbeutel aus der Hand.

»Das weiß ich.« Er küsste sie auf die Stirn. »Geh jetzt ins Schlafzimmer.«

Er sah ihr nach, bis sie die Tür hinter sich geschlossen hatte. Dann wickelte er die Leiche in die dünne Bettdecke und nahm sie auf den Arm. Wenige Minuten später legte er den leblosen Körper behutsam auf den Rücksitz des gestohlenen Mercedes, startete den Motor und fädelte sich in den laufenden Verkehr ein. Er schaltete das Radio an und sang den Refrain des Schlagers Sonne, Sand und Sehnsucht der Sängerin Madame lauthals mit. Für den Tod der kleinen Amelie würde er der Glücksgöttin Fortuna ewig dankbar sein.

Feuerkind

 

Emden, Juni

 

Die kleine Flamme tanzte in einem Lufthauch, der durch das gekippte Fenster in den Raum wehte. Einen Moment lang drohte sie zu erlöschen und das Wohnzimmer wieder in Dunkelheit zu hüllen, doch dann fraß sie sich in die Titelseite der auf dem Couchtisch liegenden Tageszeitung.

Kurz darauf verwandelte sich die Flamme in ein feuriges Raubtier, das gierig nach weiterer Nahrung suchte – und diese in dem weißen Tischläufer fand. Das Feuer leckte zunächst zaghaft an dem Stoff, als wäre es eine Zunge, die den Geschmack einer neuen Sorte Eiscreme erkunden wollte – und dann gierig über die Leckerei herfiel.

Eine brennende Zeitungsseite wurde von dem leichten Windzug erfasst und schwebte wie ein tödlicher Schmetter­ling bis zum Vorhang, der sich innerhalb kürzester Zeit in eine Flammensäule verwandelte, die auf das daneben­stehende Bücherregal übergriff. Nachdem sich das Feuer die vielen Tausend Seiten einverleibt hatte, ging es auf den halbhohen Schrank über, in dem neben Spirituosen auch das Feuerzeugbenzin aufbewahrt wurde.

Bald brannte das Wohnzimmer lichterloh. Fünf Minuten später hatte sich das Untergeschoss des renovierungs­bedürftigen Einfamilienhauses in eine Feuerhölle verwan­delt, deren Flammen über die Stufen der Holztreppe zum Kinderzimmer der kleinen Anna krochen.

 

Flammenengel

 

Juist, Mai

 

Vier Jahre später legte der Philosoph seinen Pinsel zur Seite und rieb sich über den rechten Daumen. Dann trat er einen Schritt zurück und betrachtete das Gemälde, an dem er in den letzten Tagen gearbeitet hatte. Auf den ersten Blick wirkten die Flammen so lebendig, als würde die Leinwand brennen. Der weiblichen Gestalt, die mit einem Kind auf dem Arm aus dem Feuer trat, schienen die Flammen nichts anhaben zu können.

»Gefällt es dir?«

Diese Frage richtete er an die zierliche Melanie Rickert, die ihre haselnussbraunen Locken mit einem Pferdeschwanz gebändigt hatte. Trotz des sonnigen Inselsommers war ihre Haut so blass wie die einer Kranken, die das Bett seit Jahren nicht mehr verlassen hatte. Sie nickte stumm.

»Das freut mich. Kümmerst du dich gleich um die abschließenden Vorbereitungen für die heutige Feuer­taufe?« Der Philosoph nahm seine Lebensgefährtin in den Arm und küsste sie. Dann fuhr er mit den Fingerspitzen über das ein Zentimeter große Brandmal in Form einer Flamme, das ihren Unterarm zierte. Das Zeichen wurde den neuen Mitgliedern der Flammenengel in einer feierlichen Zeremonie in die Haut gebrannt und machte sie zu seinen Feuerkindern.

»Selbstverständlich.« Melanie ging zur Tür.

Nachdem sie diese hinter sich geschlossen hatte, warf er einen erneuten Blick auf sein Meisterwerk, das die Kunstkritiker sicherlich wieder verreißen würden.

Der Philosoph erinnerte sich noch genau an den Moment, in dem er nach einem vernichtenden Artikel in einer renommierten Kunstzeitschrift ein Gemälde, an dem er sieben Monate lang gearbeitet hatte, mit Benzin übergossen und angesteckt hatte. In dem Feuer war nicht nur das Bild verbrannt, sondern auch die Existenz von Alexander Jeschke, wie er mit bürgerlichem Namen hieß.

Aus der Asche hatte sich der Philosoph erhoben.

Das Grundprinzip seiner Flammenengel, über die er als Gründer in Seminaren und Vorträgen referierte, basierte auf der Annahme, dass jeder seine Vergangenheit hinter sich lassen und ein neues Leben beginnen konnte. Heute malte er seine Visionen nicht mehr mit Farbe auf eine Leinwand, sondern erschuf mit seinen Worten eine neue Welt, in der seine Zuhörer als Feuerkinder eine sorgenfreie Existenz finden würden.

Natürlich gab es Ungläubige und Nörgler, die in ihm einen Scharlatan sahen, der den Leuten in seiner Sekte eine Gehirnwäsche verpasste und ihnen das Geld aus der Tasche zog.

Dabei waren die Flammenengel keine Sekte, sondern lediglich eine Gruppe von Menschen, die sich aus der Sklaverei des Konsums befreit hatten und gegen die Verlockungen der digitalen Welt immun waren.

Der Philosoph ging ins Badezimmer. Nach einer schnellen Dusche rasierte er sich die Bartstoppeln aus dem Gesicht und die sprießenden Haaransätze von der Kopfhaut. In dem weißen Gewand mit den aufgestickten Flammen, das er bei jeder Feuertaufe trug, kam sein markanter Glatzkopf besonders gut zur Geltung. Im Gegensatz zu seinen Mitgliedern trug er sein Brandzeichen nicht auf dem Unterarm, sondern auf der Stirn, wo es jeder sehen konnte.

Das Kleidungsstück verlieh ihm die würdevolle Aura eines Priesters, den seine Anhänger in ihm sahen.

Rückblickend betrachtet war der Philosoph seinen Kritikern dankbar, denn ohne ihre Verrisse wäre er sicherlich noch immer einer jener Künstler, die für etwas Applaus in der Manege des Kunstbetriebes viele Demütigungen erduldeten. Statt weiterhin in einem heruntergekommenen Appartement zu hausen und durch den Verkauf seiner Bilder von der Hand in den Mund zu leben, verdiente er nun mehr Geld als jemals zuvor und konnte Melanie das Leben bieten, das er ihr einst versprochen hatte.

Der Philosoph verließ seine Wohnung und ging durch den Flur bis zur Empore des alten Gebäudes, das er vor wenigen Monaten gekauft hatte. Nach der Renovierung würde er die ersten Gäste in seinem neuen Feriendomizil auf Juist begrüßen.

Während der sogenannten Feuertage konnten die Urlauber ihrem Alltag entfliehen und in seiner Welt neben körperlicher auch geistige Entspannung finden. Mit diesem Angebot schlug der Philosoph zwei Fliegen mit einer Klappe: Zum einen spülten die Touristen viel Geld in seine Kassen, zum anderen waren sie nicht nur potentielle Mitglieder, sondern auch Werbeträger, die seine Botschaft in der Welt verbreiteten.

Der Philosoph ging über die Holztreppe nach unten, durchquerte die große Diele und trat auf die Feuerinsel, wie die Terrasse genannt wurde, auf der er von den zwölf Anhängern bereits erwartet wurde. Sie saßen in einem Halbkreis um eine Feuerschale, in der die Flammen gierig an den Holzscheiten leckten. Dazwischen lag das Brand­eisen mit dem Zeichen des Flammenengels.

Melanie stand hinter der Feuerschale und nickte ihm zu.

Demnach hatte sie alle Formalitäten erledigt. Da das Brandzeichen juristisch als Körperverletzung galt, musste er die Einverständniserklärung des zukünftigen Mitgliedes einholen. Zudem mussten beim Übergang des Vermögens auf die Flammenengel viele Papiere unterzeichnet werden. Um die Rechtswirksamkeit der Dokumente kümmerte sich Melanie ebenfalls. Da er als Einziger wusste, was sie zu verlieren hatte, würde sie sich dabei keinen Fehler erlauben.

Er trat zu ihr und küsste sie auf die Stirn. Dann wandte er sich an seine Zuhörer, die ihn anstarrten, als wollten sie die Worte wie Honig von seinen Lippen saugen.

»Heute wollen wir ein neues Feuerkind in unserer Mitte begrüßen. Martin, würdest du bitte zu mir kommen?«

Der Angesprochene stand auf und ging mit staksigen Schritten zur Feuerschale.

»Du hast deine Vorbereitung nun abgeschlossen und deinen weltlichen Besitz in die Hände der Flammenengel übergeben.« Der Philosoph hob in einer theatralischen Geste die Arme, als wollte er ihn segnen. »Willst du deine Vergangenheit verbrennen, um als Feuerkind aus der Asche deines Lebens aufzuerstehen?«

»Ich bin bereit.« Ein freudiges Lächeln ließ das Gesicht des ehemaligen Versicherungskaufmanns erstrahlen, als hätte jemand in seinem Innern eine Lampe angeschaltet.

»Komm zu mir.« Der Philosoph winkte ihn zu sich.

Der Mann zögerte einen Moment. Dann trat er einen Schritt vor.

»Empfange nun das Zeichen unserer Verbundenheit.«

Der Versicherungskaufmann streckte den rechten Arm vor. Melanie ergriff seine Hand und hielt sie fest.

»Der Schmerz wird dein altes Leben auslöschen, damit du als Feuerkind wiedergeboren werden kannst.«

Der Philosoph nahm das Brandeisen aus den Flammen und reckte es wie eine Trophäe in die Höhe. Dann senkte er das glühende Eisen langsam hinab. Wenige Zentimeter über dem Arm hielt er einen Augenblick inne. Dann drückte er das heiße Eisen in die Haut. Obwohl der Versicherungs­kaufmann die Zähne aufeinanderbiss, konnte er einen Schrei nicht unterdrücken. Schweiß lief über sein Gesicht und er zitterte am ganzen Körper.

»Wollt ihr das neue Feuerkind in eurer Mitte begrüßen?«

Diese Frage richtete der Philosoph nach der Zeremonie an die elf Zuschauer, die nun aufstanden und lauthals jubelten. Nachdem ein ehemaliger Arzt die Brandwunde fach­männisch versorgt und einen Verband angelegt hatte, begannen die Feierlichkeiten, die bis tief in die Nacht andauerten. Am frühen Morgen fielen die Feuerkinder in ihrem Schlafsaal erschöpft in die Betten.

Als der Raum von regelmäßigen Atemzügen und leisem Schnarchen erfüllt war, stand einer von ihnen auf und schlich hinaus. Im Dämmerlicht des anbrechenden Tages eilte er schattengleich zum Zimmer des Philosophen, in dem dieser mit Melanie wohnte, und lauschte. Die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne fielen durch ein Fenster und spiegelten sich auf der zweischneidigen Klinge des Messers, das in seinem Gürtel steckte.

 

Bombenstimmung

 

Oldenburg, Juli

 

»Willst du wirklich zu den Feuertagen nach Juist?« Joost Kramer nahm ein frisches Brötchen aus der Tüte der Stadtbäckerei und schnitt es auf.

»Darüber hatten wir doch schon gesprochen.« Seine Lebensgefährtin Ricarda Albers trank einen Schluck Kaffee. An diesem Samstagvormittag saßen sie in der Oldenburger Wohnung des Kommissars, in die er sich an seinen freien Tagen immer wieder gerne zurückzog.

»Warum verbringt ihr den Urlaub denn nicht wieder in der Pension Friesenbrise auf Norderney?« Er bestrich eine Brötchenhälfte fingerdick mit Nutella.

»Die Zimmer sind bis Mitte Oktober ausgebucht. Mit den Feuertagen …«

»… wird Touristen wie euch das Geld aus der Tasche gezogen.« Der Kommissar biss in seine Brötchenhälfte.

»Diese Behauptung trifft auf die meisten Hotels an der Nordseeküste zu«, konterte Ricarda schlagfertig.

Joost schluckte. »Dort findet man aber Zimmer mit traumhaftem Meerblick und zahlt nicht für eine billige Absteige.«

»Ich brauche keinen Luxus. Zudem hat der Philosoph gesagt, dass …«

»… alle Menschen auf Konsum verzichten sollen.«

»Was ist schlecht daran?« Seine Freundin reckte das Kinn vor.

»Echt jetzt?« Der Kommissar schüttelte den Kopf. »Der Kerl predigt eine spartanische Lebensweise und lebt selbst wie ein König.«

»Er bereichert sich keinesfalls am Vermögen seiner Mitglieder, sondern investiert die Gelder vollständig in die Gemeinschaft der Flammenengel.«

»Das ist doch Blödsinn. Der selbsternannte Philosoph kauft Bruchbuden zu Spottpreisen auf und lässt sie von seinen Feuerkindern kostenlos renovieren. Wie bescheuert muss man eigentlich sein, um sich dermaßen ausnutzen zu lassen?«

»Diesen Menschen geht es nicht um Profit, sondern um innere Ausgeglichenheit und ein Leben im Einklang mit der Natur.« Ricarda drehte den Becher mit dem Ankermotiv in den Händen.

»Das ist doch esoterischer Blödsinn. Im wirklichen Leben dreht sich alles …«

»… immer nur ums Geld, wolltest du das sagen?« Sie knallte den Becher so fest auf den Tisch, dass etwas von dem Kaffee herausschwappte.

»Natürlich nicht«, räumte der Kommissar ein und biss erneut in sein Brötchen.

»Die meisten Menschen haben den Fokus heutzutage nur noch auf sich selbst gerichtet«, fuhr Ricarda fort und rollte mit den Augen. »Täglich posten Millionen von Menschen Fotos von sich in den sozialen Netzwerken. Diese Wichtigtuer halten sich doch für den Mittelpunkt des Universums. Das Internet ist für viele User längst zu einem Zerrspiegel der eigenen Wirklichkeit geworden, in dem sie die Welt der Schönen und Reichen betrachten, zu denen sie allerdings niemals gehören werden. Dabei existieren diese Modepüppchen und Influencer nur in diesem digitalen Wunderland. Wenn jemand den Stecker zieht, sind sie …« Ricarda verstummte einen Moment, bevor sie fortfuhr. »… einfach weg.« Sie schnippte mit den Fingern, als wollte sie einen Zauber beschwören. »Follower sind nun einmal keine echten Freunde, und kein Like der Welt kann eine Umarmung ersetzen.«

»Bist du jetzt fertig mit deinem Vortrag?« Der Kommissar lehnte sich vor. »Mit der übertriebenen Selbstdarstellung im Internet hast du vollkommen recht. Aber dieser Wahnsinn hat nichts mit den Flammenengeln zu tun. Die Sekte …«

»Das ist keine Sekte«, fiel ihm Ricarda ins Wort. »Die Feuerkinder haben sich bewusst für ein Leben in menschlicher Gemeinschaft ausgesprochen und lehnen jede Form der Digitalisierung ab.«

»Willst du demnächst wieder in einer Höhle leben?« Joost runzelte die Stirn.

»Natürlich nicht«, ereiferte sich Ricarda. »Der Philo­soph …«

»… hat dir mit seinen Ideen gehörig den Kopf verdreht.« Der Kommissar seufzte. »Der Kerl ist ein Schwindler. Meine Ermittlungen gegen die Flammenengel auf Borkum …«

»… haben nichts ergeben«, giftete seine Freundin. »Der durchgeknallte Anwalt hat damals haltlose Anschuldi­gungen gegen den Philosophen erhoben.«

»Er ist nur ein besorgter Bürger«, widersprach Joost und sah seiner Freundin in die Augen. »Warum können wir uns beim Frühstück eigentlich nicht über das Wetter oder den nächsten Einkauf unterhalten wie andere Paare auch?«

Ein Lächeln huschte über Ricardas Gesicht. »Normal kann doch jeder.«

Joost grinste und ergriff ihre Hand. »Das ist richtig. Manchmal wäre etwas Normalität allerdings nicht schlecht.«

»Dann musst du dir eine andere Freundin suchen.«

Der Kommissar schüttelte entrüstet den Kopf. »Ich will aber mit dir leben.«

»Dann kann ich dir auch nicht helfen.« Sie zog ihn zu sich und küsste ihn.

»Ich mache mir Sorgen um dich. Der Philosoph ist ein moderner Rattenfänger.«

»Du musst keine Angst um mich haben. Zum einen kann ich gut auf mich selbst aufpassen und zum anderen bin ich nicht allein, denn ich treffe mich auf Juist mit meinen Freundinnen Henrike und Wiebke. Wir werden den Feuerkindern ordentlich einheizen.«

»Daran zweifle ich keinesfalls.« Joost grinste.

 

Fegefeuer

 

Emden, Juli

 

Frank Seliger lehnte sich in seinem Stuhl zurück und rieb sich über die Augen. Er hatte wieder einmal zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbracht. Inzwischen war es bereits nach Mitternacht und er hatte sich noch immer nicht auf den morgigen Gerichtstermin vorbereitet.

In den letzten vier Jahren hatte er so viel Zeit mit der Jagd auf den Philosophen verbracht, dass er seine Aufgaben als Anwalt vernachlässigt und dabei immer mehr Mandanten verloren hatte. Statt sich mit lukrativen Fällen von Wirtschaftskriminalität zu beschäftigen, verteidigte er inzwischen fast nur noch Verkehrssünder, Ladendiebe oder Drogendealer, die den Stoff nur verkauften, um sich die nächste Spritze leisten zu können.

Inzwischen hatte er nicht nur seinen Ruf als gewiefter Verteidiger ramponiert, sondern auch das gesamte Vermögen – von dem nach der Scheidung ohnehin nicht mehr viel übrig war – seiner Rache geopfert, ohne etwas erreicht zu haben.

Im Gegenteil.

Der Philosoph war nun reicher und mächtiger als jemals zuvor. Obwohl sich der Scharlatan gegen jede Form der Digitalisierung aussprach, unterhielten die Flammenengel eine eigene Website, auf der neugierige Gäste Seminare und Feuertage in ihren Ressorts buchen konnten – ohne zu ahnen, dass sie damit direkt in seine Falle tappten.

Mit seinen Vorträgen, in denen der Philosoph eine radikale Abkehr vom Egoismus der modernen Zeit und eine Rückbesinnung auf die menschliche Gemeinschaft forderte, schien er einen gesellschaftlichen Nerv getroffen zu haben, denn viele Zuhörer gaben ihr bisheriges Leben auf und wurden zu Feuerkindern.

Feuerkinder!

Für Frank war allein der Begriff eine schallende Ohrfeige, denn das einzige Kind, das er inbrünstig geliebt hatte, war ein Opfer der Flammen geworden. Aus der Asche war aber kein neues Leben entstanden, sondern nur eine abgrundtiefe Trauer, die sich im Laufe der Zeit in eine Wut verwandelt hatte, die in ihm wie eine Feuersbrunst wütete. Der Philosoph hatte ihm das Liebste genommen – und dafür würde er bezahlen.

Ohne dass es Frank bewusst wurde, fuhr er mit den Fingern über die Brandwunde an seinem Unterarm. Dann lehnte er sich vor und überflog den Text ein letztes Mal, bevor er ihn auf seinem Blog Fegefeuer postete. Obwohl er regelmäßig neue Beiträge online stellte, in denen er den Philosophen als Heuchler bezeichnete und seine Flammenengel als gefährliche Sekte brandmarkte, folgten nur wenige Follower seinen Berichten.

Frank rief die Website der Flammenengel auf und betrachtete die Ankündigung für die Feuertage auf Juist, die in dem neu eröffneten Haus stattfinden sollten. Wenn alles nach Plan lief, würde er dem Philosophen dort die heuchlerische Maske vom Gesicht reißen und der Welt die Fratze des Feuerteufels präsentieren, die sich dahinter verbarg.