Georg Kreis

Die Schweiz im Zweiten Weltkrieg

 

Georg Kreis

Die Schweiz im
Zweiten Weltkrieg

 

 

www.haymonverlag.at

Aktualisierte Neuausgabe des 1999 bei Pro Helvetia erschienenen Werks

Alle Rechte vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (Druck, Fotokopie, Mikrofilm oder in einem anderen Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-7099-7465-0

Umschlagfoto: W. Rings, „Die Schweiz im Krieg“, Zürich 1974

Inhalt

Vorwort

I. Die Schweiz vor dem Krieg

II. Die Schweiz im Krieg

III. Phasen des Kriegs

IV. Bereiche der Politik

V. Innenpolitik

Vollmachtenregime und Staatsquote

Zusammensetzung der Landesregierung

Parteiengefüge

Nationaler Konsens?

Pressekontrolle

VI. Finanz- und Sozialpolitik

Lohnentwicklung

Bundesfinanzen

Arbeitsbeschaffung

Frauenarbeit

Bevölkerungsentwicklung

VII. Verkehrspolitik

Eisenbahntransporte

Schiffstransporte

Lufttransporte

Lastwagentransporte

VIII. Wirtschafts- und Handelspolitik

Organisation der Kriegswirtschaft

Außenhandel

Überwachung der Warenströme

Kriegsmaterial

Ernährung und Landwirtschaft

Funktion als Finanzplatz

IX. Sicherheitspolitik

Die Armee bei Kriegsbeginn

Moral der Truppe

Zahl der Mobilisierten

Freiwillige Kräfte

Reduit-Konzept

General Guisan

Militärische Internierung

Luftraumverletzungen

Bewahrung dank der Armee?

X. Außenpolitik

Nachrichtenzentrum

Gute Dienste

Friedensvermittlung

Rotes Kreuz

Humanitäre Hilfsaktionen

Schweizer im Ausland

XI. Flüchtlingspolitik

Flüchtlingszahlen

Lebensbedingungen

Verantwortungsfrage

XII. Sport- und Kulturpolitik

Offiziöse Kulturförderung

Nationale Einheitskultur?

Die zwei Seiten der „Geistigen Landesverteidigung“

Radiosendungen

Filmschaffen

Beiträge von Emigranten

Kulturgüter

XIII. Der Aufbruch in die Nachkriegszeit

XIV. Der Preis der Zeit

Nachwort

Auswahl neuerer Literatur

Vorwort

Die Jahre des Zweiten Weltkriegs und die Vorkriegsjahre sind von bleibendem Interesse. Nicht nur die Zeitgenossen, welche diese aufwühlenden Zeiten selbst erlebt haben, bleiben ihnen aus naheliegenden Gründen verbunden. Auch für die Nachgeborenen sind sie eine wichtige Referenzgröße, die zeigt, was vor noch nicht allzu langer Zeit möglich war, was Menschen zugemutet und abverlangt wurde.

Obwohl die Schweiz diese Periode nur am Rande des Kriegsgeschehens erlebt hat oder vielleicht sogar gerade deswegen, stellt sich die Frage, wie es dieses Land geschafft hat, sich einigermaßen herauszuhalten. Diese Schrift möchte das aufzeigen, ohne auf einfache Erklärungen zurückzugreifen und ohne von einem Wunder zu reden. In mancher Hinsicht ging vieles gut, anderes dagegen weniger oder gar nicht gut. Die Bewahrungsgeschichte wird nicht als simple Bewährungsgeschichte verstanden.

Eine erste Version der hier präsentierten Geschichte ist 1999 erschienen, als die öffentliche Debatte um die Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg im Zenit stand. Die Forschungsarbeiten der von Parlament und Regierung eingesetzten Historikerkommission, welcher der Verfasser dieser Schrift angehörte, waren damals noch nicht abgeschlossen. Ihre Ergebnisse sollten erst 2002 veröffentlicht werden. Wegen dieser Ergebnisse und anderer inzwischen vorgelegter Resultate kann die Darstellung von 1999 nicht ohne leichte Überarbeitung ein weiteres Mal herausgegeben werden.

Die hier neu aufgelegte Schrift entstand im damaligen Kontext und kann nach Meinung des Verlags und des Autors noch heute bestehen. Sie soll lediglich um ein paar ergänzende Hinweise erweitert werden. Zum einen, um einige neue Resultate anzusprechen, und zum anderen, um den weiteren Verlauf des allgemeineren Interesses an diesem Teil der Geschichte aufzuzeigen.

Die Arbeiten der genannten Historikerkommission waren auf ganz spezielle Fragen ausgerichtet und hatten nicht zum Auftrag, ein umfassendes Bild (etwa zur militärischen Landesverteidigung oder zur Ernährungslage) zu vermitteln. Anderseits hat die hier erneut aufgelegte kleine Schrift es sich nicht zum Ziel machen können, die über 10.000 Seiten umfassende Berichterstattung der Historikerkommission auch nur in allen wichtigsten Punkten zu berücksichtigen. Außer leichten Ergänzungen im laufenden Text wird die Schrift um ein Nachwort erweitert, das die Umstände umschreibt, unter denen sich die Schweiz in den Jahren nach 1995 gezwungen sah, kritische Rückschau auf die Kriegsvergangenheit zu halten. Im weiteren wird gefragt, was diese jüngste Rückschau im gesellschaftlichen Bewußtsein der Schweiz bewirkt und auch nicht bewirkt hat.

I.

Die Schweiz vor dem Krieg

Der Zweite Weltkrieg ist ohne Zutun der Schweiz ausgebrochen. Eine Geschichte über die Schweiz im Zweiten Weltkrieg könnte sich demnach damit begnügen aufzuzeigen, was die Schweiz in dem von ihr nicht zu verantwortenden Krieg gemacht hat, in erster Linie für ihr eigenes Überleben, und wie sie ihre scheinbar mehr gezwungenermaßen als gewollt unterhaltenen Beziehungen zum kriegerischen Umfeld gestaltet hat.

Dieser Ansatz würde aber die im Ausland immer weniger verstandene und für das eigene Nationalverständnis fatale Meinung verstärken, daß die Schweiz ein isolierter Betrachtungs- und Gestaltungsgegenstand sein könne; eine Meinung, die nach 1945 von der Schweiz selber und vom westlichen Ausland, das darin einen Vorteil hatte, kultiviert wurde.

Wenn man vom Zweiten Weltkrieg sagt, er sei ohne Zutun der Schweiz ausgebrochen, dann geschieht das aus der gleichen Mentalität, wie die zur Jahreswende 1996/97 vom abtretenden Bundespräsidenten gemachte Bemerkung, daß Auschwitz fernab und nicht in der Schweiz liege, die Schweizer und Schweizerinnen dafür also keine Verantwortung trügen. Dieser verräterische Umgang mit der Kategorie des Territoriums belegt, wie der Schriftsteller Adolf Muschg dann dargelegt hat, in entlarvender Weise die Vorstellung von der angeblichen Nichtzugehörigkeit zu einer Zivilisation, mit der man doch im guten wie im bösen aufs engste verbunden ist.

Darum soll doch auch für die Zeit vor 1939 gefragt werden, welche Rolle die Schweiz im Vorfeld des Krieges gespielt, was die Schweiz auf internationaler Ebene zur Vermeidung des Krieges und auf nationaler Ebene zum Selbstschutz im Falle eines Krieges unternommen hat. Das in dieser Zeit praktizierte Verhalten ist für die Beurteilung des späteren Verhaltens von Interesse, weil es zeigt, daß sich jenes in wichtigen Punkten kaum von diesem unterschied, daß also die nach 1939 eingenommenen Haltungen nicht einfach als Folge der extremen Bedrohung gedeutet und gerechtfertigt werden können.

Nach 1918 zeigte sich eine leichte Tendenz hin zu einer stärkeren Solidarisierung mit den aufkommenden Bemühungen zur kollektiven Wahrung der Sicherheit. Zunächst bestand schweizerischerseits die Erwartung, als reguläres Mitglied zur Friedenskonferenz der Sieger zugelassen zu werden. Gegen jede diplomatische Gepflogenheit pilgerte Bundespräsident Gustave Ador deswegen sogar nach Paris. Es ging aber nicht nur um die Frage des Mitmachens oder Nichtmitmachens, man brachte sogar den Elan auf, einen eigenen Vorschlag auszuarbeiten, wie eine künftige Ordnung der kollektiven Friedenssicherung aussehen solle. Der Entwurf selbst war in seiner Behutsamkeit allerdings typisch schweizerisch, jedenfalls sah er bloß eine schrittweise Verwirklichung eines Völkerbundes vor. Und wie man bereits 1918 die Friedenskonferenz gerne in Genf beherbergt hätte, stellte man 1920 gerne Genf als Domizil des Völkerbundes zur Verfügung. Daß von diesem Angebot Gebrauch gemacht wurde, ist weitgehend auf das Betreiben des amerikanischen Präsidenten Wilson zurückzuführen.

Das Mitmachen war in der Schweiz freilich keine Selbstverständlichkeit. In der – im Gegensatz zu anderen Ländern – in diesem Lande immer wieder nötigen Volksabstimmung wurde die Völkerbundsmitgliedschaft bei einer hohen Stimmbeteiligung von 77,5 % nur knapp gutgeheißen, zwar mit einem Volksmehr von 56,3 %, aber mit einem hauchdünnen Ständemehr von 111/2 zu 101/2 Kantonen. Hätten in Appenzell Außerrhoden nur 94 Bürger anders gestimmt, die Schweiz hätte dem Völkerbund nicht beitreten können. Insofern war die Stimmung beim Souverän alles in allem nicht offener, als sie es in der „zweiten“ Nachkriegszeit nach 1945 dann war. Offener und engagierter als 1945 war 1918 aber die Haltung der Verantwortungselite.

Die Schweiz hatte 1920 aus Rücksicht auf ihre Neutralität einen Sonderstatus gefordert – und erhalten. Sie war zwar bereit, sich an wirtschaftlichen Sanktionen des Völkerbunds gegen Friedensbrecher zu beteiligen, und differenzierte insofern ihr vormals integrales Neutralitätsverständnis. Eine Mitwirkung an kollektiven Militärmaßnahmen lehnte sie hingegen strikte ab. Ein Ernstfall sollte 1935 im italienisch-abessinischen Krieg eintreten. Schweizerischerseits zog man sich aus der Affäre, indem man beide Konfliktparteien in gleicher Weise mit einem Kriegsmaterial-Embargo belegte (was sich de facto allerdings nur auf Italien auswirkte). Mit einer gewissen Bitterkeit stellte man aber fest, daß selbst die Führungsmächte des Völkerbunds den Boykott gegen den Aggressor Italien nur halbherzig umsetzten.

Der Völkerbund entsprach in mehrfacher Hinsicht nicht den ursprünglich angestrebten Prinzipien. Zwei Mängel wirkten sich besonders nachteilig aus: Zum einen wurden wichtige Angelegenheiten außerhalb des Völkerbunds entschieden, zum anderen war der Völkerbund nicht universal, die USA blieben ihm fern, und die Sowjetunion kam erst 1934 hinzu. Es zeigte sich ferner, daß den Völkerbundsmitgliedern, insbesondere Frankreich und Großbritannien als den beiden Mitgliedern mit Vormachtstatus, die nationalen Egoismen jeweils wichtiger waren als das gemeinsame Interesse.

Die Beziehungen der Schweiz zur Sowjetunion waren formal inexistent und in der Praxis schwierig. Die Schweiz wünschte nach 1917/18 wegen des revolutionären Charakters des jungen Staates keine diplomatischen Beziehungen. Eine Normalisierung des Verhältnisses sollte erst 1946 zustandekommen. Die schweizerische Exportwirtschaft hätte allerdings bereits in den zwanziger Jahren eine Wiederaufnahme der Beziehungen befürwortet, weil sie in der Sowjetunion einen interessanten Markt für ihre Produkte sah. Diese Perspektive wurde jedoch hinfällig, nachdem die Schweiz, namentlich ihr Außenminister Giuseppe Motta, 1934 die Aufnahme der UdSSR in den Völkerbund vehement (aber erfolglos) bekämpft hatte.

Was die Alltagsarbeit betraf, stellte sich die schweizerische Diplomatie vor, mit Staaten, welche ähnliche Politiken verfolgten (mit den Niederlanden und den drei nordischen Staaten), eine engere Kooperation aufbauen zu können. Die diesbezüglichen Erwartungen erfüllten sich jedoch nur in beschränktem Maße. Mit einigem Engagement förderte man die 1922 nach Genua einberufene internationale Wirtschaftskonferenz und lud sogar zu einer Vorkonferenz unter den erwähnten Neutralen (plus Spanien) ein.

Die Schweiz strebte keinen Sitz im ständigen Völkerbundesrat (dem heutigen Sicherheitsrat der UNO) an, sie arbeitete aber als Mitglied der Völkerbundsversammlung (der heutigen Generalversammlung der UNO) in zahlreichen Fachkommissionen engagiert mit, etwa in der Hygienekommission und den Kommissionen für geistige Zusammenarbeit, für die Einschränkung des Handels mit Betäubungsmitteln, für die Bekämpfung des Frauen- und Kinderhandels, für die Rückführung von Kriegsgefangenen aus Rußland und Sibirien, im Internationalen Arbeitsamt, bei den Bemühungen um die Sanierung der österreichischen Finanzprobleme etc.

Schweizer wirkten im weiteren bei den Lösungen oder Lösungsversuchen von bestimmten Sachfragen mit, etwa bei der Regelung des Ålandkonflikts, des Oberschlesienkonflikts, der Konflikte um Danzig; sie präsidierten die Brüsseler Finanzkonferenz und die Konferenz für Wirtschaftsstatistik. Sobald das Geschäft einen politischen Einschlag hatte und mit politischen Risiken verbunden war, hielt man sich indessen zurück. So konnte der Völkerbund nicht auf die Unterstützung durch die Schweiz zählen, als er 1934/35 neutrale Beobachter für die Wahlen im Saarland benötigte.

Mit anderen Worten: Die Schweiz war im Bereich der „technischen Fragen“ präsent und kooperativ. Während sie sich hier durchaus engagierte, zeigte sie sich im politischen Bereich zurückhaltend, setzte sich zwar (wenn man vom gestörten Verhältnis mit der Sowjetunion absieht) für die Durchsetzung der Universalität ein (d. h. für die Pflege normaler Beziehungen mit allen) und verstand sich auch als Anbieterin von Humanitäts- und Mediationsdiensten. Die politischen Auftritte konzentrierten sich darauf, sich selber, mit wenig Verständnis für die Konflikte der Welt, als Musternation vorzustellen. So pries im Moment, da der Auftakt der Genfer Abrüstungskonferenz von 1932 durch Japans Angriff auf Schanghai stark überschattet wurde, Giuseppe Motta, der Chef der schweizerischen Außenpolitik, in selbstgerechter Manier die an sich unbestreitbare Tatsache vorlaut als positives Exempel: „Unser Volk hat der Kriegführung entsagt, es sei denn zur Selbstverteidigung“ („Notre peuple a renoncé à porter les armes contre l’étranger, si ce n’est pour la défense.“) Die damit verbundene Idee, daß die Welt ihren Frieden finden könnte, wenn es nur alle Staaten der Schweiz gleichtäten, war in der Schweiz zwar verbreitet, aber nicht geeignet, aus schweizerischer Warte eine adäquate oder gerechte Betrachtungsweise (und Einschätzung) der weltpolitischen Vorgänge zu ermöglichen.

Am Zustandekommen des Vertrags von Locarno, der 1925 das Siegerdiktat von 1919 wenigstens für den westeuropäischen Raum in eine Verständigungslösung überführte, war die Schweiz überhaupt nicht beteiligt. Sie stellte im Tessin die örtliche Infrastruktur für diese Konferenz zur Verfügung, sorgte für die Sicherheit, hatte aber an dem hoffnungsvollen Treffen nicht einmal einen protokollarischen Auftritt. Schweizerische Pressestimmen anerkannten, daß die in Locarno zustande gekommene Versöhnung auch im schweizerischen Interesse läge (z.B. wegen der Rhein-Schiffahrt und der Gotthard-Eisenbahn), und aus etwas abseitigen Positionen wurde kritisiert, daß man trotz der günstigen Zukunftsaussichten das Militärbudget zu erhöhen gedenke.

Für die Einführung eines Obligatoriums im Schiedsgerichtswesen setzte sich die Schweiz vorbehaltlos und vehement ein. Und sie trat dem alle zu nichts verpflichtenden und mit den Namen Briand und Kellogg verbundenen Kriegsächtungspakt von 1928 bei wie viele andere Staaten auch.

Zurückhaltung praktizierte sie hingegen gegenüber den Beschränkungsvorschlägen im Rüstungswesen, weil sie in ihnen eine Benachteiligung vor allem der Kleinen erblickte. Von schweizerischer Seite wurde betont, daß man nur schon wegen der Neutralität verpflichtet sei, eine den neutralen Status sichernde Armee zu unterhalten; zudem bestünde im Falle der schweizerischen Armee ja Gewähr, daß sie einzig zu Verteidigungszwecken eingesetzt würde. Das im Ausland als vorbildlich gepriesene Milizsystem zwinge die Schweiz jedoch, relativ hohe Bestände zu haben. An der Abrüstungskonferenz von 1932 sprach sich die schweizerische Delegation für verschiedene Beschränkungsmaßnahmen aus, insbesondere für ein vollständiges Verbot der Luftbombardemente, und es war wohl zutreffend, wenn der Bundesrat in seinem Rechenschaftsbericht an die Bundesversammlung 1934 beteuerte, alles unternommen zu haben, was von ihm erwartet werden konnte, um der Konferenz zum Erfolg zu verhelfen.

Daß das 1919 geschaffene System kollektiver Sicherheit seine zentrale Aufgabe nicht erfüllte, zeigten ganz offensichtlich der Abessinienkonflikt, in einem gewissen Sinn auch der Spanische Bürgerkrieg und der deutsche Einmarsch in Österreich, einem Land, das immerhin ein souveränes Mitglied des Völkerbundes war. Auf den „Anschluß“ vom März 1938 reagierte die Schweiz mit einer Erklärung, welche die Erwartung aussprach, daß die Schweiz oder Teile der Schweiz nicht das oder die nächsten Anschlußopfer würden. Keiner der drei Nachbarstaaten könne den Untergang der Schweiz anstreben. Jeder Angriff auf die Unversehrtheit ihres Gebietes würde „ein verabscheuungswürdiges Verbrechen gegen das Völkerrecht“ darstellen. Das besänftigende Gegenstück zu dieser Erwartung bestand in der Beteuerung, man wolle mit allen Nachbarstaaten gleich korrekte und freundschaftliche Beziehungen unterhalten. Wörtlich wurde unter Verwendung eines alten Leitgedankens versichert: „Die Schweiz hält sich von fremden Händeln fern.“

Dies hat sie dann auch so gehalten, als im September 1938 vier Großmächte ohne Beizug der Direktbetroffenen in München über das Schicksal der Tschechoslowakei entschieden. Der Bundesrat richtete zwar auf amerikanisches Betreiben einen sonderbar symmetrischen Friedensappell an die Herren Hitler und Beneš. Bundesrat Motta war aber nicht bereit, die ansonsten vielbeschworene Mediationsfunktion zu aktivieren und die Schweiz als Konferenzort anzubieten (was u. U. auch seine gute Seite hatte, weil der Schandpakt jetzt als Münchener- und nicht als Genfer- oder Lausanner-Abkommen in die Geschichte eingegangen ist). Die Schweiz praktizierte statt aktive eine passive Neutralität. Die Hauptfrage, die damals diskutiert wurde, war, ob defensive Maßnahmen ergriffen werden sollten, d.h. eine Teilmobilmachung angeordnet werden müsse. Verbal aber stellte sich der schweizerische Außenminister auf die Seite der Diktatoren. Motta lobte insbesondere den Duce öffentlich als Mann „besonderer Intuition des Geistes und erhabener Willenskraft“. Die Presse dagegen wußte das Münchener-Abkommen richtig zu deuten als Auslieferung auch der „Rest-Tschechei“ und als Brücke für Hitlers „Marsch nach dem Osten“.

Bereits seit Januar 1938 hatte die Schweiz begonnen, Wege und Möglichkeiten zu suchen, den Status der integralen Neutralität wiederzuerlangen. Dies bedeutete ein gewisses Entgegenkommen gegenüber Deutschland und Italien, den beiden Achsenmächten, die bereits aus der „Genfer Liga“ ausgetreten waren und von der Schweiz im Grunde den gleichen Schritt erwarteten. Der Rückzug von 1938 geschah aber auch unter innenpolitischem Druck: Bern wollte mit diesem Schritt innenpolitisch noch weitergehenden Forderungen nach Selbstisolation zuvorkommen. Im Mai 1938 wurde die Schweiz offziell von der Verpflichtung entbunden, sich an Wirtschaftssanktionen des Völkerbundes beteiligen zu müssen. In der Folgezeit konnte der allerdings stark reduzierte Völkerbund bis 1945 in Genf bleiben, er wurde aber vom Gastland aus naheliegenden Gründen eher als belastende denn als aufwertende Anwesenheit gewertet. Die Schweiz beglich erst 1944 bei sich abzeichnendem Kriegsende die längere Zeit geschuldeten Mitgliederbeiträge.

1938, im gleichen Jahr also, da die offzielle Schweiz auf dem internationalen Parkett ihr Engagement zurücknahm, entstanden auf der militärischen Ebene aus „privaten“ Kontakten mit französischen Kollegen erste Kooperationspläne für den Fall eines deutschen Angriffs – unter Verletzung der schweizerischen Neutralität. Diese Planung lag gewiß im beidseitigen Interesse, konkret hätte die französische und britische Hilfe aber das bestehende Defizit an schweren Waffen (Kanonen, Panzer, Flugzeuge) ausgleichen sollen.

Die schnelle Anerkennungen der von Mussolini in Abessinien und von Hitler in Österreich und im Sudetenland durchgesetzten Machtwechsel fanden ihre Fortsetzung in der ebenso frühen Anerkennung von Francos Herrschaft in Spanien. Zur Wahrung schweizerischer Interessen (der Investoren und der Auslandschweizer) waren offziös bereits im Mai 1938 und offziell im Februar 1939 diplomatische Beziehungen aufgenommen worden. Eine schweizerische Großbank hatte schon im Oktober 1938 den Aufständischen einen beträchtlichen Kredit gewährt.

Wie reagierte die Schweiz auf die in der „Reichskristallnacht“ vom November 1938 vom NS-Staat gegen seine jüdischen Bürger organisierten Pogrome? Die „Neue Zürcher Zeitung“ stufte die Vorgänge als „ebenso wohlüberlegtes und planmäßiges wie brutales Vernichtungswerk“ ein. Der amerikanische Präsident rief seinen Botschafter zurück, das britische Unterhaus verabschiedete eine Resolution, die schweizerischen Behörden schwiegen, der Bundesrat erklärte in einer Stellungnahme zu seiner Flüchtlingspolitik, daß „die bereits schwere Last“ angesichts der geographischen Lage, der Überfremdungsgefahr und der Arbeitslosigkeit kaum vergrößert werden könne, daß aber alle Einreisegesuche sorgfältig geprüft würden.

In der Fremden- und Flüchtlingspolitik war eine Art von Rückzug schon gegen Ende des Ersten Weltkrieges eingetreten. Die Erfahrung mit einigen der aufgenommenen Emigranten und Deserteure, aber auch mit einem Teil der ohne Notlage eingewanderten Ausländer entsprach nicht der Erwartung, daß sich die Aufgenommenen aus purer Dankbarkeit still und bescheiden verhalten würden. Die gesamtgesellschaftliche Umbruchsituation 1918 und in den folgenden Jahren führte zu einem Anwachsen und – unabhängig von den tatsächlichen Verhältnissen – zu einer Intensivierung von Überfremdungsängsten. Die Schaffung der Fremdenpolizei 1917 ist ein Merkdatum für den Anfang dieses Prozesses. Die schweizerisch-deutschen Verhandlungen von 1938 zur Einführung des „J“-Sichtvermerks in Pässen deutscher und österreichischer Juden ist zu einem Schandmal für die Entschlossenheit der schweizerischen Fernhaltepolitik geworden. Im multilateralen Rahmen kam – damals wie später – keine Kooperation zur gemeinsamen Bewältigung der Probleme zustande, die sich aus der Massenflucht von Verfolgten stellten. Die im Juli 1938 auf Initiative der USA in Evian durchgeführte internationale Flüchtlingskonferenz führte, statt die Aufnahmebereitschaft insbesondere der Überseeländer zu fördern, weltweit zu eher noch restriktiveren Haltungen. Bei Kriegsbeginn 1939 lebten etwa 7000–8000 Emigranten in der Schweiz.

1936, nach der unter Verletzung der Locarno-Vereinbarung von Deutschland durchgesetzten Remilitarisierung des Rheinlandes, wurde immer klarer, daß ein weiterer Krieg unvermeidlich werde und der Völkerbund – trotz seines überparteilichen Auftrages inzwischen zu einer Konfliktpartei geworden – im Ernstfall nicht (beziehungsweise: noch weniger als bisher) in der Lage wäre, dem internationalen Recht den nötigen Nachdruck zu schaffen und Unabhängigkeit und Sicherheit zu garantieren. Die in der kleinstaatlichen Gemeinschaft seit Jahrhunderten bestehende starke Neigung, für die Wahrung der eigenen Interessen selber besorgt sein zu wollen, erfuhr damit eine weitere Verstärkung.

Das gesteigerte Schutzbedürfnis führte zu einer Forcierung der Landesverteidigung auf drei Ebenen: der Ebene der militärischen, der wirtschaftlichen und der geistigen Landesverteidigung. Das Startsignal für den Ausbau der militärischen Landesverteidigung gab der 1936 über eine öffentliche Anleihe im Volk breit abgestützte Rüstungskredit von 235 Mio. Franken, was immerhin etwa der Hälfte der ordentlichen Bundesausgaben jenes Jahres entsprach. Damit hätte der militärische Schutz wenigstens teilweise auf den Stand des aktuellen Bedarfs gebracht werden können. Mangelnde Professionalität sollte dann allerdings dazu führen, daß die Armee bei Kriegsausbruch vor allem im Rüstungsbereich dennoch schlecht ausgestattet war. Die wirtschaftliche Landesverteidigung wurde 1937/38 durch die Ernennung eines Delegierten für Kriegswirtschaft und die Schaffung einer Organisation vorbereitet, welche für den Kriegsfall die kriegswirtschaftlich wichtigen Güter in Kooperation zwischen Staat und Privatwirtschaft sicherstellte. Mit diesen präventiven Maßnahmen wollte man den schlechten Erfahrungen des letzten Weltkrieges Rechnung tragen.

Das Dispositiv der geistigen Landesverteidigung ergab sich aus der gesamtgesellschaftlichen Selbstmobilisation zur Wahrung der politischen Selbständigkeit. Ihr Abbild war die schweizerische Landesausstellung in Zürich „Landi 39“. Schon 1938 war zur Abwehr des italienischen Sprachimperialismus und als allgemeine Manifestation gegen ausländische Kulturpropaganda das Rätoromanische zur vierten Nationalsprache erklärt und diese Aufwertung mit einer Volksabstimmung bekräftigt worden.

Die Politik erfuhr eine Einfärbung ins Nationale. Die differenzierenden Parteifarben verblaßten, es kam zu einer Konzentration auf die Mitte. Ohne größere Anhängerschaft blieben die radikalen Kleingruppen, die einerseits auf dem rechten Flügel in Anlehnung an Nationalsozialismus und Faschismus und andererseits auf dem linken Flügel in Umsetzung der von der Sowjetunion dirigierten kommunistischen Internationale je ihre Gesellschaftskonzepte propagierten.

Zwischen den Klassenkampfpositionen der Arbeiterschaft und den Unternehmern der Maschinenindustrie wurde 1937 ein exemplarisches Friedensabkommen geschlossen, das statt der Konfrontation die Kooperation zur Devise machte. Die Konzentration auf die Mitte war auch mit einem Moratorium der Reformpläne verbunden. Die Verlangsamung der gesellschaftspolitischen Entwicklung – zum Teil bis hin zum Stillstand – hatte zur Folge, daß manches erst nach 1945 wieder in Bewegung kam und realisiert wurde (wie 1948 die Alters- und Hinterbliebenen-Versicherung [AHV] oder die Wirtschaftsartikel).

Die Schweiz konnte, gefaßt und moralisch einigermaßen vorbereitet, als geschlossene Nation in den Krieg „eintreten“. Sechs Jahre später verstanden viele das Ende dieses Krieges als Befreiung von einem von außen auferlegten Eingeschlossensein. 1945 konnte man endlich – wieder oder zum ersten Mal – reisen! Die Annahme, daß dies ein Durchbrechen der Isolation gewesen sei, die man nicht gesucht habe, ist jedoch nur teilweise zutreffend. Denn bis zu einem gewissen Grad betrieb die Schweiz als Reflex auf die Zeitumstände auf mentaler Ebene doch auch Selbstisolation.

II.

Die Schweiz im Krieg

Die Schweiz war nicht wie andere Länder im Krieg und blieb von den Greueln des Krieges ziemlich verschont, war nur am Rande direkt betroffen, wenn einzelne Bomben, zumeist irrtümlich, auf Schweizer Boden fielen. Der schwerste Schlag dieser Art traf am 1. April 1944 Schaffhausen und kostete vierzig Menschen das Leben.

Die Frage nach den für die Schweiz anfallenden „Kosten“ des Krieges soll am Schluß nochmals aufgegriffen werden.

Obwohl weitgehend in der Zuschauerrolle, war sie dennoch vom Krieg geprägt, insbesondere durch den jahrelangen Militärdienst und die Versorgungsknappheit und, ebenfalls über Jahre hinweg, durch die dumpfe Befürchtung, mit allen Konsequenzen plötzlich doch noch von den feindlichen Nachbarn angegriffen und besetzt zu werden.

Die Schweiz lebte während der längsten Zeit des Krieges in einem ausgesprochen feindlichen Umfeld. Die Feindlichkeit der Nachbarschaft war dreifacher Natur und bestand darin, daß ihre demokratiefeindlichen Regime die Schweiz dauernd unter politischen Druck setzten, daß ihre Ideologie von Volkszugehörigkeit für die verschiedensprachigen Landesteile der Schweiz eine stetige Annexionsdrohung bedeutete und daß ihre Ausbeutermentalität die Schweiz permanent unter wirtschaftlichem Druck hielt.

Die für den schweizerischen Kleinstaat wichtige Balance der Nachbarschaftsverhältnisse erlitt zudem zwei wesentliche Störungen: 1938 mit dem Anschluß Österreichs und 1940 mit der Besetzung Frankreichs. Vom Juni 1940 an war die Schweiz von den Achsenmächten (Deutschland und Italien) eingeschlossen. Diese Situation sollte beinahe bis Kriegsende andauern. Der faktisch bestehende und überdies das Bewußtsein prägende „Belagerungsring“ wurde erst im August 1944 aufgebrochen, als erste amerikanische Truppen an der Westgrenze die Schweiz erreichten.

Die Bedrohung war ein objektives Faktum, subjektiv wurde sie aber nicht von allen in der Schweiz gleich wahrgenommen und wirkte sich auch nicht auf alle in gleicher Weise aus. Alles in allem herrschte aber in den zentralen Fragen mindestens bis 1943 eine bemerkenswerte Einmütigkeit.

Die zentralen Fragen: Einerseits die auf einer höheren Ebene angesiedelte, aber durchaus reelle Frage, wie die Schweiz ihre Unabhängigkeit und damit ihre demokratische Ordnung, also die äußere und zugleich die innere Freiheit, wahren konnte. Und andererseits die etwas schlichtere, aber trotzdem wichtige Frage, wie die Gesellschaft und wie der einzelne in der außerordentlichen Situation die schwieriger gewordene Bewältigung des Alltags meistern konnte.