Das große Märchenbuch
Mit Bildern von Marina Krämer
cbj ist der Kinder- und Jugendbuchverlag in der Verlagsgruppe Random House
Gesetzt nach den Regeln der Rechtschreibreform
1. Auflage 2013
© 2013 cbj, München
Alle Rechte vorbehalten
Buchidee und Konzept: Patricia Schröder
Umschlagbild und Innenillustrationen: Marina Krämer
Illustration Serienlogo: Ute Krause
Umschlaggestaltung: Anette Beckmann, Berlin
SaS ∙ Herstellung: UK
Satz: dtp im Verlag, LJ
Reproduktion: ReproLine Mediateam, München
ISBN 978-3-641-11073-4
www.cbj-verlag.de
Inhalt
Dornröschen
Das tapfere Schneiderlein
Der süße Brei
Die Prinzessin auf der Erbse
Der Froschkönig
Der Rattenfänger von Hameln
Sterntaler
Schneewittchen
Der dicke fette Pfannkuchen
Rumpelstilzchen
Frau Holle
Die Gänseliesel
Aschenputtel
Des Kaisers neue Kleider
Die Bremer Stadtmusikanten
Über die Autorin/Illustratorin
Leserätsel
Es waren einmal
ein König
und eine Königin.
Die bekamen endlich das Kind, auf das sie viele Jahre gewartet hatten. Es war eine wunderschöne kleine Prinzessin. Das sollte mit einem großen Fest gefeiert werden. Dazu wollte der König auch die Feen im Lande einladen. Sie sollten Patentanten sein und dem Kind Glück bringen. Für sie wurde ein Ehrentisch mit goldenen Tellern gedeckt. Leider gab es nur zwölf davon.
So verschickte man zwölf Einladungen, obwohl es auch eine dreizehnte Fee gab, von der man allerdings nicht wusste, ob sie überhaupt noch lebte und wo sie wohnte.
Die zwölf weisen Frauen kamen zum Fest und beschenkten das Kind mit ihren Wundergaben.
Die erste Fee wünschte dem Mädchen:
Schönheit.
Die zweite:
Klugheit.
Die dritte:
Fröhlichkeit.
Die vierte:
Reichtum.
Die fünfte:
Gesundheit.
Die sechste:
Glück ...
Und so wurde die kleine Prinzessin mit allen guten Gaben bedacht, die man sich nur vorstellen konnte. Doch gerade als die elfte Fee ihren Wunsch geäußert hatte, flog krachend die Tür auf und eine dunkel gekleidete Gestalt polterte herein. Es war die dreizehnte Fee, die gekränkt und wütend war, dass sie nicht eingeladen worden war. Ohne jemanden zu grüßen oder auch nur anzusehen, steuerte sie direkt auf die Wiege zu und rief mit lauter Stimme: „Die Königstochter soll sich in ihrem fünfzehnten Jahr an einer Spindel stechen und tot umfallen!“
Dann drehte sie sich um
und verließ den Saal.
Krachend fiel hinter ihr die Tür ins Schloss. Alle waren stumm vor Schreck, bis die zwölfte Fee hervortrat, die ihren Wunsch noch nicht geäußert hatte.
Sie sagte: „Ich kann den Fluch der bösen Fee zwar nicht aufheben, aber zumindest abschwächen: Die Prinzessin soll nicht sterben, sondern nur in einen hundertjährigen tiefen Schlaf fallen.“
Der König, der sein Kind natürlich vor dem Unglück bewahren wollte, befahl, dass ab sofort alle Spinnräder und Spindeln im ganzen Königreich verbrannt werden sollten.
Alle Wünsche der zwölf Feen
erfüllten sich.
Die Prinzessin war so schön,
freundlich und klug,
dass jeder sie gern hatte.
Am Tag ihres fünfzehnten Geburtstags waren alle mit den Festvorbereitungen beschäftigt. Der König und die Königin machten sich längst keine Sorgen mehr, denn die Jahre waren vergangen, ohne dass ihrer Tochter etwas geschehen war. Und so kam es, dass die Prinzessin ganz allein im Schloss herumlief.
Sie sah in Zimmer
und Kammern
und kam endlich auch
in einen alten Turm.
Sie stieg die enge Wendeltreppe hinauf und gelangte zu einer kleinen Tür. Im Schloss steckte ein verrosteter Schlüssel.
Als sie ihn herumdrehte, sprang die Tür auf. Im Turmstübchen saß eine alte Frau und spann Flachs.
„Guten Tag, liebes Mütterchen“, sprach die Königstochter, die noch nie ein Spinnrad gesehen hatte. „Was machst du da?“
„Ich spinne“, sagte die Alte und wackelte mit dem Kopf.
„Was ist das für ein Ding, das da so lustig herumspringt?“, fragte die Prinzessin neugierig.
„Ein Spinnrad. Willst du es ausprobieren?“, erkundigte sich die Alte freundlich.
„Gern!“, sagte die Prinzessin und setzte sich ans Spinnrad.
Neugierig berührte sie
die Spindel mit dem Finger
und stach sich.
So wie es die böse Fee
vor vielen Jahren
gesagt hatte.
Noch ehe die Prinzessin begriff, was geschehen war, wurde sie unendlich müde und fiel in einen tiefen Schlaf. So verbreitete sich der Zauber über das ganze Schloss.
Erst schliefen der König und die Königin. Dann der ganze Hofstaat. Und bald schliefen auch:
Die Pferde im Stall,
die Hunde im Hof,
die Tauben auf dem Dach
und die Fliegen an der Wand.
Sogar das Feuer im Herd schlief ein. Der Braten hörte auf zu brutzeln, und der Koch, der dem Küchenjungen gerade eine Ohrfeige geben wollte, weil er die Milch hatte überkochen lassen, hielt mit erhobener Hand inne und schlief ebenfalls ein. Selbst der Wind legte sich, und auf den Bäumen vor dem Schloss regte sich kein Blättchen mehr.
Ringsumher aber begann eine Rosenhecke zu wachsen. Höher und höher rankte sie, bis sie endlich das ganze Schloss umgab. Schon bald war vom Schloss gar nichts mehr zu sehen. Nicht einmal mehr die Fahne auf dem Turmdach.
Im ganzen Land
erzählte man sich
von der schlafenden Prinzessin.
Dornröschen nannten sie die Leute und immer wieder kamen Königssöhne und versuchten vergeblich, die Hecke zu durchdringen, um zu dem schönen Mädchen zu gelangen. Aber es war, als hätten die Dornen Hände aus Stahlspitzen. Sie hielten fest zusammen.
Die Prinzen blieben darin hängen
und keiner erreichte den Turm.
Nach vielen Jahren aber kam wieder einmal ein Königssohn ins Land. Im Dorf hörte er, wie ein alter Mann von der Dornenhecke erzählte, und von dem Schloss, das dahinter verborgen lag, in dem eine wunderschöne Königstochter nun schon seit hundert Jahren schlief.
Der Alte berichtete auch, dass schon viele Prinzen vergeblich versucht hätten, die Hecke zu durchdringen und dass alle es mit ihrem Leben bezahlen mussten.
Davon ließ sich der junge Prinz jedoch nicht entmutigen und sprach:
„Ich fürchte mich nicht.
Ich will zum Schloss
und Dornröschen wecken!“
Und als der Prinz sich der Dornenhecke näherte, begannen dort mit einem Mal lauter schöne große Rosen zwischen den Dornen zu erblühen. Die Zweige breiteten ihre grünen Arme aus und ließen ihn ohne Verletzung passieren.
Hinter dem Prinzen schloss sich die Hecke wieder. Wie staunte der Prinz, als er im Schlosshof all die schlafenden Tiere sah. Die Pferde und Jagdhunde und die Tauben auf dem Dach.
Als er in die Küche kam,
schliefen sogar
die Fliegen an der Wand.
Der Koch hielt die Hand erhoben, als wolle er dem Küchenjungen gerade eine Ohrfeige geben. Und die Köchin saß vor einem Huhn, das gerupft werden sollte.
Der Prinz ging weiter und entdeckte im Thronsaal den schlafenden Hofstaat. Selbst der König und die Königin lehnten mit geschlossenen Augen in ihrem Thronsessel.
Da ging er auf Zehenspitzen weiter und kam zum Schlossturm. Er kletterte hinauf und öffnete schließlich die Tür zu der kleinen Stube, in der Dornröschen schlief. Da lag die Prinzessin und war so schön, dass er sich sofort in sie verliebte.
Er beugte sich über sie
und gab ihr einen Kuss.
Kaum hatte er ihre Lippen berührt, schlug Dornröschen die Augen auf. Sie sah ihn freundlich an und sagte: „Ich muss wohl ein wenig geschlafen haben?“
Da musste der Prinz lachen und erklärte der staunenden Prinzessin, dass sie ganze hundert Jahre geschlafen habe und was in der Zwischenzeit alles geschehen sei.
Aufgeregt rief die Prinzessin: „Lass uns hinuntergehen und meine Eltern wecken!“
Dann zog sie den Prinzen
die Treppe hinunter.
Der Zauber war gebrochen.
Der König erwachte und die Königin und der ganze Hofstaat. Die Pferde im Hof standen auf und schüttelten sich, die Jagdhunde sprangen hoch, die Tauben auf dem Dach schlugen mit den Flügeln, die Fliegen an den Wänden krochen weiter, das Feuer in der Küche loderte auf und kochte das Essen, der Braten fing wieder an zu brutzeln, der Koch gab dem Küchenjungen die Ohrfeige, die er sich vor hundert Jahren verdient hatte und die Köchin rupfte das Huhn fertig. Wie froh und glücklich waren alle, dass der böse Fluch endlich vorbei war!
Kurz darauf feierten Dornröschen und ihr Prinz eine prächtige Hochzeit. Alle freuten sich über das Glück der beiden. Die Kinder aus der Umgebung pflückten die schönsten Knospen aus der Rosenhecke, die ihre Dornen verloren hatte, und streuten Blütenblätter auf ihren Weg.
Und so macht man es bei Hochzeiten noch bis zum heutigen Tag.
Es war einmal
ein Schneidermeister.
Der saß eines Morgens auf seinem Tisch am Fenster und nähte. Da kam eine Bauersfrau die Straße entlang. Sie wollte ihr selbst gemachtes Pflaumenmus verkaufen, das angeblich Kraft und Stärke verlieh. Sie pries es lautstark an und rief immer wieder:
„Kauft Pflaumenmus!
Kauft Pflaumenmus!
Das Mus, das jeder haben muss!“
Der Schneider lehnte sich zum Fenster hinaus und winkte sie zu sich heran. Daraufhin schleppte die Frau ihren schweren Korb die sieben Treppen zu seiner Werkstatt hinauf.