THE RED 3
Ins Deutsche übertragen von
Helga Parmiter
Die deutsche Ausgabe von THE RED 3: FUNKSTILLE
wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern, Übersetzung: Helga Parmiter; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Kerstin Feuersänger und Gisela Schell; Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Cover Artwork: Larry Rostant;
Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohorelice. Printed in the Czech Republic.
THE RED: GOING DARK
Copyright © 2014 by Linda Nagata
Published in agreement with the author, c/o BAROR INTERNATIONAL, INC., Armonk, New York, U.S.A. through.
German translation copyright © 2017 by Amigo Grafik GbR.
Print ISBN 978-3-95981-198-9 (Juli 2017) · E-Book ISBN 978-3-95981-199-6 (Juli 2017)
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LEBEN DANACH
KOMMANDOKETTE
NICHTLINEARER KRIEG
EINSATZREGELN
DIE TRAGISCHE SCHLUSSSZENE
UNFREIWILLIGE TRENNUNG
DANKSAGUNGEN
»Wir sind an einem nichtlinearen Krieg beteiligt. Das bedeutet, es gibt keine ›Seiten‹. Es gibt keine echten Verbündeten, keine festen Feinde, keine bestimmten Kriegsschauplätze. Der Konflikt findet auf Finanz-, Kommunikations-, Propaganda-, Terror- und Militärkanälen in einer sich ständig verändernden Matrix statt, die eine Kultur zerstören, eine Wirtschaft zusammenbrechen lassen oder Kämpfe auslösen kann – je nach Gewicht und Richtung der rivalisierenden Interessen …«
»Einschließlich unserer Interessen«, unterbricht Lieutenant Logan mich, als sei das ein irgendwie triftiger Kontrapunkt meines Arguments.
Ist es nicht.
»Einschließlich unserer Interessen«, räume ich ein. »Wie auch immer die aussehen mögen.«
Ich bin James Shelley, Captain des EGM-Einsatzkommandos 7-1, einer vernetzten Kampfgruppe, die in keiner offiziellen Akte der US-Army existiert. Ray Logan ist mein Lieutenant. Unsere leise geführte Unterhaltung findet nur wenige Schritte entfernt von den sechs Soldaten statt, die EGM 7-1 zugeteilt sind.
Wir bewohnen zurzeit eine provisorische Koje, die im Torpedoraum eines schnellen Interventions-U-Boots der Virginia-Klasse der US-Navy eingerichtet wurde. Das U-Boot gleitet momentan unter dem dicken Wintereis des arktischen Ozeans dahin. Der Rest der Gruppe schläft in provisorischen Etagenbetten, die zwei Ebenen übereinander und Seite an Seite in einer langen Reihe zwischen den grünen Röhren der in ihren Gestellen aufgehängten Torpedos stehen. Die Gruppe ist zum größten Teil nicht zu sehen und ruht in den unteren Betten. Ihre Ausrüstung ist ordentlich auf den oberen Betten aufgestapelt. Nur Logan und ich sind auf den Beinen und halten am Ende eines engen Durchgangs, der zwischen dem Fußende der Betten und einem der Torpedogestelle verläuft, eine Besprechung ab.
»Es geht darum«, fahre ich fort, »dass die Identität der Guten und der Schlechten sich ändern wird – sie müssen sich ändern, wenn die Umstände sich ändern. Also weiß man nie, wer nächstes Jahr der Feind sein wird … oder beim nächsten Gefecht.«
Ray Logan ist vierundzwanzig und somit ein Jahr jünger als ich. Mit eins siebenundsiebzig ist er kein großer Mann, aber sein schlanker Körperbau und seine kantigen Gesichtszüge hätten ihm eine Rolle als Statist eingebracht, wenn er es in Hollywood statt bei der Army versucht hätte. Er ist ein verdammt guter Kämpfer, der gerne bei jedem Angriff in der ersten Reihe steht, also ist es beinahe absurd, zu sehen, wie er einen unsicheren Blick über seine Schulter wirft, als sei er besorgt, dass jemand aus der Gruppe uns belauschen könnte. Ich folge seinem Blick, aber ich sehe nur Carl Escamillas großen, hässlichen, nackten Fuß, der aus dem letzten Bett ragt.
Logan spricht noch leiser. »Jesus, Shelley, ich hätte nie gedacht, dass ausgerechnet die Scheißkanadier sich als die bösen Jungs herausstellen würden. Ich meine, meine Mutter ist Kanadierin.«
»Nichtlinearer Krieg«, erinnere ich ihn. »Wechselnde Bündnisse. Das Ziel ist kanadisch. Falls es Ihnen hilft … Was sich in dem Ziel abspielt, hat vielleicht gar nichts mit der kanadischen Regierung zu tun oder gar einem kanadischen Unternehmen.«
Unsere derzeitige Mission trägt den Codenamen Fahles Pferd und wie jede Mission, die wir absolvieren, wurde sie uns von dem Roten zugewiesen. Unser Ziel ist eine Forschungs- und Ölplattform, die Siegel des Tiefsten Winters heißt. Sie überwintert in einem umkämpften Meeresgebiet, das Kanada für sich beanspruchen will – aber wir sind nicht hier, um Schiedsrichter in einem Gebietskonflikt zu spielen. Die Informationen, die wir erhalten haben, deuten darauf hin, dass sich etwas Ungewöhnliches in den Laboratorien an Bord der Plattform abspielt. Das wird von ungewöhnlich strengen Sicherheitsvorkehrungen untermauert. Diese sind so wasserdicht, dass selbst das Rote sie nicht durchdringen kann.
Wenn ein Geheimnis so gut abgeschirmt wird, nehmen wir an, dass es gefährlich und möglicherweise existenzbedrohend ist.
Also lautet unsere Mission: Getarnt annähern, Türen eintreten, die Kontrolle über die Anlage übernehmen und herausfinden, was dort versteckt wird. Wir nennen diese Art Einsatz eine »Hingehen-Nachsehen«-Mission.
Ich glaube, wir werden immer wieder losgeschickt, weil das Rote nach einer ganz bestimmten Operation sucht. Wie diese Operation aussehen könnte, weiß ich nicht. Man sagt uns, wir sollen hingehen und nachsehen – und erst, wenn wir das tun, wissen wir, was dort ist. Es könnte alles sein von unüberwindlichen Verteidigungssystemen bis hin zu irgendeinem völlig unschuldigen Vorgang.
Logan setzt eine säuerliche Miene auf. Wie ich – wie wir alle – hat er früher in der regulären Army gedient. Vor neun Monaten gehörte er noch zur Ausbildungstruppe der Vereinigten Staaten in Bolivien. Sein CO befahl der Gruppe, eine ortsansässige Einheit bei einer Abriegelung zu begleiten, was so ähnlich ist wie »Hingehen-Nachsehen«. Logan hatte ein mulmiges Gefühl bei der Sache. Er sagte, die Informationen seien falsch. Er hatte recht. Als die örtliche Einheit die Tür eintrat, waren drinnen Kinder und keine bösen Jungs. Sie haben trotzdem alles abgefackelt.
»Ich hasse Hingehen-Nachsehen-Missionen«, sagt er mit verbitterter Aufrichtigkeit.
Ich will ihm antworten, dass ich sie auch hasse, aber stattdessen sage ich: »Ich werde die Gruppe aufwecken. Bereiten Sie sich darauf vor, mit ihnen noch einmal den Missionsplan durchzugehen, bevor wir aufbrechen.«
Unsere Kommandokette ist einfach. Wir haben Offiziere, weil jemand das Sagen haben muss, aber wir benutzen keine bestimmten Ränge bei unseren Soldaten. Das ist nicht nötig. Keiner von ihnen ist wegen der Bezahlung hier oder wegen der Beförderungsaussichten.
Mein Fokus richtet sich auf ein halb durchsichtiges Symbol, das am unteren Rand meines Sichtfelds schwebt. Es ist der Befehlsknoten für das gen-com. Mein Blick sorgt dafür, dass das Symbol heller wird und sich von den anderen in seiner Umgebung abhebt. Sie werden alle auf das optische Overlay projiziert, das ich wie Kontaktlinsen in meinen Augen trage.
Das Symbol bietet mir ein Menü an, das ich aber nicht beachte. Ich murmele: »Weckruf senden.« Mein Befehl löst ein Signal aus, das an jeden Einzelnen meiner Soldaten gesendet wird.
Alle Soldaten in meiner VKG tragen ein okulares Overlay wie meins und außerdem ist jeder von ihnen mit einem Schädelnetz ausgestattet – einem Netz aus dünnen Drähten, das unter der Kopfhaut eingesetzt wird und die Hirnaktivität misst und reguliert. Jedes Overlay empfängt meinen Befehl und leitet ihn an das Schädelnetz des Soldaten weiter. Die einfache KI, die das Schädelnetz überwacht, reagiert und löst eine Weckroutine aus.
Es gibt keinen Moment des Übergangs, keine Verwirrung, keine Schläfrigkeit. Meine Soldaten wachen gleichzeitig mit der Präzision von Maschinen auf. Einige strecken sich, andere husten, aber innerhalb von zehn Sekunden tauchen alle auf – einige sitzen auf der Bettkante, andere stehen im Durchgang –, alle sehen mich mit wachem Blick an und sind gespannt darauf, unseren Status zu erfahren.
Logan übernimmt: »Pinkeln und Waschen. Sie haben fünf Minuten, dann gehen wir die Rollen und Vorschriften noch einmal durch.«
Alle meine Soldaten vom EGM 7-1 wurden offiziell im Einsatz »getötet« oder sind ihren Verletzungen erlegen. Doch der Tod gewährt ihnen keine Atempause von dem endlosen Training und den Missionsvorbereitungen, die mit der Army einhergehen; denn ihre beste Chance, eine Mission zu überleben, liegt darin, diese bis in die letzten Einzelheiten zu verinnerlichen.
Siebzig Minuten später ruft der Kommandant des U-Boots aus dem Kontrollraum herunter und lässt uns wissen, dass wir noch zehn Minuten vom Absetzpunkt entfernt sind.
»Urlaub ist vorbei!«, bellt Logan. »Und das wird verdammt noch mal auch Zeit. Fertig machen!«
»Hoo-yah!«, ruft Alex Tran aus und tauscht einen Fauststoß mit Thomas Dunahee über den Gang hinweg aus.
Die Stille des Torpedoraums verpufft, als sich alle gleichzeitig bewegen. Unsere Rucksäcke, unsere Waffen und unsere Ausrüstung stehen bereit. Es muss nur noch eine Vorbereitung abgeschlossen werden – wir müssen unsere Thermokleidung anlegen.
Schulter an Schulter stehen wir in dem engen Durchgang, zappeln uns in unsere Thermoanzüge und ziehen sie über die seidenen Hightech-Shorts und T-Shirts, die wir standardmäßig als Unterwäsche tragen.
Die Anzüge sind 1,5 Zentimeter geschmeidige Isolierung, die uns vor Unterkühlung bewahren wird – obwohl wir an Hitzschlag sterben könnten, wenn unser Ausstieg aus dem U-Boot verzögert wird.
Ich trage lange Leggins wie alle anderen und ziehe sie über meine Beinprothesen. Die Roboterbeine müssen nicht warm sein, um zu funktionieren, aber sie sind Wärmeleiter. Wenn ich sie nicht isoliere, ziehen sie mir die Wärme aus dem Körper.
Eine graue, eng anliegende Thermokapuze mit Vollgesichtsmaske folgt als Nächstes. Ich setze sie sorgfältig auf. Es wird keine Gelegenheit geben, sie zu richten, wenn wir einmal unterwegs sind, also sorge ich dafür, dass sie bequem sitzt und mir nicht die Sicht nimmt oder meine Atmung erschwert.
Ich fange jetzt schon an, zu schwitzen, aber ich füge noch eine Schicht hinzu: eine gefütterte Kampfuniform mit grauweißem, arktischem Tarndruck. Sie ist mit der Uniform identisch, die ich bei der Mission Erstes Licht getragen habe, und weist keine Rangabzeichen oder Identifikationsmarkierungen auf. Wir behaupten nicht, dem Militär der Vereinigten Staaten anzugehören, denn wir sind kein Teil davon. Wir tun nur so.
Manchmal hilft das.
Ich ziehe meine Stiefel an und schnalle mir dann ein Oberschenkelholster mit einer 9 mm SIG Sauer um. Ein Paar dünner Handschuhe, die mit eingewebten Drähten beheizt werden, schützen meine Hände. Als Letztes lege ich meine gepanzerte Weste an. Dann lasse ich meinen Blick an der Reihe entlangschweifen.
Stiefel stampfen übers Deck, während die Gruppenmitglieder ihre Vorbereitungen abschließen. Schultern straffen sich. Köpfe mit grauen Kapuzen drehen sich in meine Richtung. Nur ihre Augen sind sichtbar und flehen darum, in die Kälte entlassen zu werden.
»Jesus«, murmelt Dunahee. »Noch eine Minute in dieser Hitze und ich kotze.«
Er ist mitten im Durchgang eingepfercht. Hinter ihm steht Fadul, die für Gejammer überhaupt nichts übrighat
»Kotz mich an und ich stopfe dich unters Eis.« Ihr Ton ist ruhig und gefährlich.
»Fadul, Sie sollen dem Feind Angst einjagen«, erinnere ich sie, während ich meinen Rucksack vom oberen Etagenbett neben mir hole. »Nicht Ihren Waffenbrüdern und -schwestern.«
Sie verzieht die Lippen zum Anflug eines Lächelns und fängt meinen Blick auf. »Ich kann beides, Captain Shelley.«
Dunahee murmelt: »Da kannst du deinen Arsch drauf wetten.«
Pia Fadul ist groß und schlank und hat große, dunkle Augen. Ihr schwarzes Haar trägt sie kurz geschoren. Nach dem Atomangriff des Koma-Tags musste ihre Einheit, die in der Sahelzone stationiert war, neun Tage ohne Nachschub oder Verstärkung durchhalten. Sie verfeuerten ihre gesamte Munition, während sie sich gegen einen Frontalangriff verteidigten. Ihr Posten wurde schließlich von einer rachsüchtigen Armee der Aufständischen überrannt. Ich habe einen Ausschnitt des Videos gesehen, das von ihrer Helmkamera gefilmt wurde. Das ist nichts, was man zweimal sehen möchte. Es gab keine Überlebenden. Offiziell nicht einmal Fadul.
Thomas Dunahee ist Faduls körperliches Gegenteil: Kurz, untersetzt und blond. Er hat an der Universität graduiert und arbeitete als Bankangestellter, als der Koma-Tag die Wirtschaft zu Fall brachte und seine Eltern und Schwestern, die in Seattle lebten, auslöschte. Er meldete sich freiwillig, sobald die Rekrutierungsbüros wieder geöffnet wurden. Vierzehn Monate später wurde er von dem Roten eingezogen.
»Dunahee, Sie haben Drohnendienst. Logan, geben Sie ihm den Engel.«
»Ja, Sir.«
Der Engel, den wir mitgebracht haben, ist ein anderes Modell als das, das ich während meiner Zeit in der regulären Army verwendete. Er ist kleiner, hat eine kürzere Reichweite und auch keine Satellitenanbindung. Aber wenn seine Flügel an seinen Rumpf angelegt sind, ist er bei Tarnmissionen leicht zu tragen. Logan fischt ihn von einem Oberbett herunter und gibt ihn Julian, der hinter ihm steht. »Weitergeben.«
Bradly Julian ist ein Veteran von Somalia. Groß und schlank mit tiefschwarzer Haut und dunklen Augen ist er unser stiller Intellektueller, der gerne viel zu viel nachdenkt. Jetzt gerade sieht er hinter seiner Maske angespannt aus – und Tran bemerkt es, als Julian sich umdreht, um den Engel weiterzugeben.
»Scheiße, Julian«, sagt Tran. »Du machst dir doch nicht etwa Sorgen, oder?« Seine weißen Zähne blitzen in einem raubtierhaften Grinsen auf, als er die zusammengeklappte Drohne nimmt. »Wir müssen uns keine Sorgen machen. Mit dem Roten auf unserer Seite sind wir verdammte Superhelden. Wir können gar nicht verlieren.«
»Was zur Hölle haben Sie da gerade gesagt?«, frage ich ihn.
Die ganze Reihe erstarrt.
Tran sieht mich an … verwirrt, besorgt, als ihm dämmert, dass er tief in der Scheiße sitzt.
»Sie sehen sich als Superheld, Tran?«
»Das war nur ein Witz, Captain Shelley. Ich habe mit Julian herumgealbert.«
Alex Tran ist dünn und dunkelhäutig. Seine afrikanischen Wurzeln dominieren über die vietnamesischen. Er hat drei Jahre Kampferfahrung in der regulären Army, er ist ein aufrichtiger Kriegsheld, dessen Wachsamkeit das Leben jedes einzelnen Soldaten in seinem Platoon rettete, als ihre Operation in der Sahelzone das Ziel eines Selbstmordattentäters wurde. Tran ist ein Frischling, der letzte Rekrut, der sich für das EGM eingeschrieben hat. Das bedeutet Existenzielles Gefahrenmanagement, falls sich jemand die Mühe macht, zu fragen … was niemand tut, denn alles, was unsere Identität oder Aktivität angeht, unterliegt der Geheimhaltung. Diese Mission ist Trans erste mit der Eingreiftruppe 7-1. Er lernt immer noch, in unserer merkwürdigen Parallelwelt zu leben und Teil einer Geistereinheit zu sein, die so geheim ist, dass nicht einmal die Army von unserer Existenz weiß.
Trans Blick wandert unsicher zu Julian, bevor er wieder auf mich fällt. »Sir …«
»Sie dürfen niemals dem Roten trauen«, warne ich ihn.
Niemand regt sich, niemand sagt etwas. Alle Augen sind auf mich gerichtet, alle sind sich der Tatsache bewusst, dass der Ausgang dieser Konfrontation direkten Einfluss auf die Mission haben wird – und ich bin stinkwütend. Auf Tran, auf mich. Fünf Minuten bevor wir planmäßig abgesetzt werden sollen, herauszufinden, dass es mir nicht gelungen ist, meinem neuen Rekruten ein deutliches Bild unserer Lage zu vermitteln, ist ein beschissener Zeitpunkt.
»Unter falschen Voraussetzungen zu operieren, wird dafür sorgen, dass Sie schnell getötet werden, Tran. Nur weil das Rote uns hierher geschickt hat, weil es uns diese Mission zugewiesen hat, heißt das nicht, dass es auf unserer Seite ist oder unsere Interessen teilt. Es heißt nicht, dass es uns helfen wird. Wenn Sie etwas anderes annehmen, bringen Sie uns alle in Gefahr.«
Ich erwarte, dass dieser Vortrag ein einfaches »Ja, Sir« und eine kleinlaute Entschuldigung hervorbringt, aber stattdessen bekomme ich Widerworte.
»Sir, das verstehe ich ja. Wir arbeiten allein. Wir erwarten keine Hilfe. Wir bitten nicht darum. Aber ohne die Beaufsichtigung des Roten wären wir gar nicht hier und könnten auch nicht operieren.«
Eins habe ich in den achtzehn Monaten, seit ich zurück zur Erde fiel, bemerkt: Es sind nicht die Rekruten mit religiösem Hintergrund, die es schwierig finden, die beschränkte Natur des Roten zu begreifen. »Sie sind ein Comic-Fan, nicht wahr, Tran? Und von Filmen mit Superhelden?«
Er will es bestreiten. Ich sehe es in seinen unruhigen Augen. Aber Lügen funktionieren in unserer Gesellschaft nicht, weil wir alle FaceValue benutzen – eine Anwendung zur Emotionsanalyse, die auf Grundlage von Tonfall und Gesichtsausdruck Stimmungen interpretiert und Wahrheit von Lügen unterscheidet. Tran erinnert sich daran und gesteht die Wahrheit ein. »Ja, Sir. Ich bin ein Fan davon.«
»Dachte ich mir. Von jetzt an werden Sie jede Darstellung von allmächtigen, weltfressenden KIs vergessen. Wir handeln nicht nach den Regeln eines Comics. Das Rote ist nicht unfehlbar. Es ist nicht allwissend. Sowohl seine Reichweite als auch seine Fähigkeit, zu reagieren, sind begrenzt. Sein Interesse an unserem Wohlergehen ist begrenzt – das dürfen Sie niemals vergessen –, und es ist nicht auf der Seite der Engel, was bedeutet, dass wir es auch nicht sind.«
Ich spreche das nicht laut aus, aber ich habe inzwischen den Verdacht, dass das Rote nicht nur eine einzelne Wesenheit ist, sondern dass es diverse Instanziierungen hat, die nicht immer miteinander im Einklang sind.
»Wir alle haben Gründe für unser Hiersein, Tran. Sorgen Sie nur dafür, dass Ihre Gründe in der Wirklichkeit verwurzelt sind. Wir sind keine Superhelden. Wir sind nicht Gottes Engel und mit flammenden Schwertern bewaffnet. Wir sind nur Soldaten.«
Tran ist immer noch aufmüpfig. »Aber Sir, der LT hat mir erzählt, dass auf Ihrer letzten Mission …«
»Dass das Rote sich für uns eingesetzt hat?« Ich werfe Logan einen kurzen Blick zu, der mich mit zusammengebissenen Zähnen ansieht. Seine Augen hinter der Maske zeigen Ärger. »Das kommt vor«, bestätige ich. »Aber wir verlassen uns nicht darauf. Wir erwarten keine Hilfe – denn wir werden meistens keine bekommen. Denken Sie doch mal nach. Wenn das Rote die Situation kontrollieren könnte, warum muss es uns dann überhaupt losschicken?«
Tran leistet dem Befehl Folge. Seine Augenbrauen ziehen sich zusammen, während er über meine Frage nachgrübelt. »Sie wollen damit sagen, wenn wir in Schwierigkeiten geraten, müssen wir uns selbst da raushelfen.«
»Können Sie mit dem Wissen arbeiten? In der Gewissheit, dass, wenn wir Scheiße bauen, niemand … nichts … uns retten wird? Denn wenn Sie das nicht können, dann möchte ich Sie bitten, hierzubleiben.«
Tran ist von meinem Angebot schockiert. Beleidigt. Er ist so sehr verärgert, dass sein Rückgrat sich aufrichtet und er – ich schwöre – mindestens zwei Zentimeter größer wird. »Nein, Sir. Ich bin Teil dieser Gruppe. Vielleicht verstehe ich noch nicht genau, wie das Ganze funktioniert, aber wir kämpfen gemeinsam gegen das beschissene Armageddon. So viel weiß ich. Es ist mir scheißegal, ob wir auf uns allein gestellt sind oder nicht. Ich habe die Absicht, bis zum Ende dem EGM anzugehören.«
Ich nicke, entspanne meine Schultern und spreche etwas leiser. »Das ist gut zu wissen. Jetzt geben Sie die Scheißdrohne an Dunahee weiter und sehen Sie zu, dass Sie alles fertig haben und bereit zum Aufbruch sind.«
»Wir sind zwei Minuten zu spät dran«, warnt Logan.
Ich nicke. »Helme aufsetzen.«
Hinter unseren undurchsichtigen schwarzen Vollvisieren werden wir anonym. Winzige Ventilatoren schalten sich ein, aber meine Thermokapuze verhindert jegliche kühlende Wirkung. Ich nehme mir meine HITR von dem Etagenbett und überprüfe dann die Symbole, die sich am unteren Rand meiner Anzeige sammeln – eins für jeden Soldaten meiner Gruppe: Logan, Roman, Fadul, Escamilla, Dunahee, Julian und Tran. Alle sind grün – alles normal. Ich will sie auch grün sehen, wenn diese Mission beendet ist.
Logan holt seine eigene Waffe und quetscht sich dann an mir vorbei an die Spitze der Reihe. Dabei schleift er sein zusammengelegtes Exoskelett mit. Unsere toten Schwestern sind zu wuchtig, um sie in den engen Gängen des U-Boots zu tragen, also werden wir uns erst draußen auftakeln – wenn uns nicht vorher ein Hitzschlag umbringt. Wir müssen dringend ausrücken.
Logan steht neben der Tür zum Torpedoraum und ist fertig. »Beginnen Sie mit der Operation, Lieutenant.«
»Verstanden, Captain Shelley.«
Er öffnet vorsichtig die Tür zum Gang dahinter und geht hinaus. Ich bin direkt hinter ihm. Meine tote Schwester halte ich in der einen Hand und meine Waffe in der anderen. Unser plötzliches Auftauchen erschreckt zwei Matrosen. Sie verschwinden eine Leiter hinauf in den Kontrollraum und überlassen es uns, unseren Weg durch das U-Boot zu finden.
Wir gehen schnell voran.
Ein weiblicher Navy-Lieutenant in Arktisuniform wartet am Fuß der Leiter auf uns, die in die Ausstiegsluke führt. »Kameras und Sensoren haben draußen nichts aufgefangen«, informiert sie uns. Ihr ruheloser Blick schweift von einem gesichtslosen Visier zum nächsten. »Nicht einmal einen Eisbären.«
»Wetterbedingungen?«, frage ich sie.
Sie wendet sich mir erleichtert zu. Meine Stimme ist ihr vertraut, sie hat sie in der beliebten Serie Vernetzte Kampfgruppe gehört, die vor zwei Jahren im TV lief. Sie weiß, wer ich bin – vielleicht hat sie sogar alle unsere Namen herausbekommen. Es spielt keine Rolle. An diesem Punkt der Reise wird die Besatzung eine Geschichte entwickelt haben, die erklärt, dass wir eine Black-Ops-Einheit sind, die mit Soldaten besetzt ist, die alle für tot erklärt wurden – Patrioten, jeder Einzelne von uns –, und beinahe alles von der Geschichte, die sie sich untereinander erzählen, wird der Wahrheit entsprechen.
»Wie im Wetterbericht vorhergesagt, Sir. Das Packeis an dieser Position wird auf dreizehn Zentimeter geschätzt, was ausreichend ist, um Ihr Gewicht zu tragen. Die Temperatur beträgt minus neununddreißig Grad, die Windgeschwindigkeit zwischen sechsundvierzig und fünfzig Knoten, es ist bewölkt mit Schneeverwehungen.«
Uns wird nicht viel länger warm sein.
Ich spüre, wie das Deck unter meinen Füßen schwankt. Dann höre ich Splittern und Krachen, als der Turm des U-Boots die Eiskruste durchbricht.
Mein Helm fängt die schwache Stimme des U-Boot-Kommandeurs auf und verstärkt sie. Er spricht mit dem Lieutenant über ihr Headset und gibt ihr grünes Licht, die Luke zu öffnen. Sie klettert die Leiter hinauf, betätigt den Mechanismus und schiebt dann die Luke auf. Dann stellt sie die Luke fest, damit sie nicht vom Wind zugeweht wird, und rutscht die Leiter wieder herunter. Ich werfe einen Blick nach oben und sehe einen Kreis, der so schwarz ist wie unsere Visiere. Es ist 1400 GAZ. Das Datum ist der 23. Dezember. Die Sonne wird auf diesem Längengrad erst wieder in einigen Monaten vorbeischauen und zum jetzigen Zeitpunkt der langen Winternacht haben die Sturmwolken sogar das Sternenlicht erstickt.
Ich konzentriere mich auf ein gut geübtes Kommando: Ausrücken. Mein Schädelnetz ist darauf trainiert, bestimmte neurale Muster, die im Zusammenhang mit viel genutzten Wörtern und Befehlen stehen, zu erkennen. Es fängt den Gedanken auf und übersetzt ihn in eine tonlose, künstliche Version meiner Stimme, sodass ich mich selbst das Wort über gen-com sagen höre. »Ausrücken.«
Lieutenant Logan geht voran. Er lässt das zusammengefaltete Gerüst seiner toten Schwester zurück und klettert als Erster die Leiter hinauf. Escamilla folgt ihm, dann Dunahee und Tran. Sie bilden eine Kette und reichen alle toten Schwestern hinauf, dann einen ausziehbaren Landungssteg, den der Lieutenant bereitgestellt hat. Sie verschwinden in der Dunkelheit. Julian, Roman und Fadul folgen ihnen. Als Nächstes gehe ich und als Letzter der Navy-Lieutenant.
Der Wind trifft mich mit gewaltiger Wucht, als ich oben auf der Leiter ankomme. Er wirkt wie Unterdruck, der meine Lungen entleert. Ich muss mich zum Atmen zwingen, während die brutale Kälte in meiner Kehle einen brennenden Schmerz entfacht.
Mein Helm passt sich schneller an als ich. Das Audiosystem filtert das Donnern des Windes heraus und erlaubt es mir, erst das Knirschen der Stiefel zu hören und dann ein gläsernes Knistern, als das U-Boot an zerbrochenem Eis entlangschrammt.
Ich klettere nach hinten auf den Rumpf des U-Boots und mein Visier schaltet auf Nachtsicht um. Zur selben Zeit verbindet sich ein Satellitenverstärker in meinem Rucksack automatisch mit unserem sicheren Kanal. Ein neues Symbol erscheint auf meiner Anzeige. »Bestätigen, dass Kontakt hergestellt wurde«, befiehlt die volle, aber weiche Stimme meines kommandierenden Offiziers. Major William Kanoa war bisher der CO unserer Einheit, aber unser Arzt hat sich geweigert, ihn nach einer Wirbelsäulenverletzung wieder für Feldeinsätze tauglich zu schreiben. Jetzt ist er mein Betreuer.
»Kontakt bestätigt«, antworte ich und beobachte, wie Logan und Escamilla den Landungssteg auslegen – eine zwanzig Zentimeter breite Brücke hinaus auf die nahtlose Eisscholle. »Wir liegen im Zeitplan und gehen hinüber aufs Eis.« Doch dann, weil manchmal Missionen in letzter Minute abgeblasen werden, frage ich: »Bleibt alles wie geplant?«
»Bestätigt. Siegel bleibt das Ziel. Wir müssen wissen, was in den Labors dort vorgeht …«
Ich zucke zurück, als die Luke sich hinter mir mit lautem Knall schließt. Posttraumatische Belastungsstörung. Mein Puls rast und ich muss dem Drang widerstehen, mit der HITR im Anschlag schussbereit herumzuwirbeln. Ich will den Navy-Lieutenant nicht erschrecken, während sie an mir vorbeigeht, um den Landungssteg zu prüfen.
In meinem Augenwinkel leuchtet ein Symbol auf. Es handelt sich um ein kompliziertes Netz, das vor einem schwarzen Kreis leuchtet – mein Schädelnetzsymbol, dessen Aufglühen einen Aktivitätsschub in dem Drahtnetz meines Kopfes anzeigt. Es werden Signale an mein Gehirn gesendet, durch die Neurochemikalien freigesetzt werden, die mich wieder in ein ruhiges, emotionales Gleichgewicht zurückführen sollen.
Ich sehe das Schädelnetzsymbol nur noch selten und es irritiert mich, es jetzt zu sehen. Ich brauche keinen zerebralen Babysitter mehr, der mich ständig überwacht. Ich habe gelernt, mit meinen Emotionen selbst fertigzuwerden.
Nach einer Sekunde verschwindet es.
»Es gibt ein Problem«, sagt Kanoa. Sein Tonfall hat sich geändert; er ist weicher und beruhigender geworden. Das sagt mir, dass er meinen emotionalen Ausreißer bemerkt hat, und das irritiert mich ebenfalls.
»Was für ein Problem?«, frage ich, während Fadul als Erste über die Brücke geht.
»Oscar-1 ist hinter dem Zeitplan. Treibstoffprobleme. Wir werden Sie erst später dort herausholen können.«
Oscar-1 ist Jason Okamoto, ein ehemaliger Air-Force-Pilot, der uns schon aus einigen unangenehmen Situationen herausgeholt hat. Er soll uns mit dem kleinen Kipprotor für neun Passagiere, der dem EGM 7-1 gehört, herausholen, wenn wir bereit zum Rückzug sind.
»Wie weit hinter dem Zeitplan?«, frage ich. Fadul erreicht festes Eis ohne Zwischenfall. Sie löst ihre Sicherheitsleine. Logan hakt das andere Ende an eine unserer toten Schwestern. »Ist er noch im Spiel?«
»Unbestimmt. Aber wir sehen uns nach anderen Alternativen um, falls er es nicht schafft, durchzukommen.«
»Verstanden.«
Das gefällt mir nicht, aber die Extraktion wurde schon immer als schwierigster Teil von Fahles Pferd angesehen und ich vertraue darauf, dass Kanoa einen Weg finden wird, um uns hier rauszuholen.
Ich beobachte, wie die zusammengelegte tote Schwester gesichert zwischen den beiden Leinen an der Landungsbrücke hinuntergleitet. Als sie sicher drüben ist, holt Logan die Leine wieder ein und mit der Hilfe des Navy-Lieutenants bereitet er die nächste vor, um sie hinüberzuschicken.
Während sie unsere Ausrüstung hinüberbringen, drehe ich mich langsam um meine Achse und lasse meine Helmkamera die Umgebung des Eisfelds in der Nachtsichtperspektive aufzeichnen.
Wir befinden uns vierhundert Kilometer nördlich von Kanadas Ellesmere Island und sind nur dreihundertfünfzig Kilometer vom Nordpol entfernt. Überall um uns herum sind grün gefärbte Wirbel von Schneeverwehungen zu sehen, die über einen Kanal aus glattem Eis tanzen. Aber einen halben Kilometer weiter draußen wird die Scholle zu unwirtlichem Gelände mit gebrochenen, aufgetürmten und aneinandergedrängten Eisblöcken.
Kanoa sagt: »Das Eis hat sich bewegt. Ich schicke eine überarbeitete Karte.«
»Verstanden. Irgendwelche zusätzlichen Informationen über das Ziel?«
»Negativ. Kein elektronischer Datenverkehr.«
Kanoa hat mir in der Nacht, als ich zur Erde zurückkehrte, das Leben gerettet. Er zog mich aus dem kalten Pazifik und als ich aufhörte, zu zittern, bot er mir die Chance, etwas zu bewirken … Teil des EGM-Einsatzkommandos zu werden, einer Geistereinheit, die von dem Roten festgelegte Missionen durchführt. Manchmal ist es schwer, ihm dafür zu verzeihen – dafür, dass er mir diese Wahl gegeben hat.
Die toten Schwestern sind jetzt alle aufs Eis gebracht worden. Die Gruppe geht als Nächstes hinüber. Jeder Soldat hakt sich an den Sicherheitsleinen ein, bevor er über die wippende Landungsbrücke geht. Bis ich sie überquere, ist die Oberfläche schon wieder zugefroren. Sie sieht solide aus, aber ich weiß, dass es nicht so ist. Ich gehe schnell, aber vorsichtig über die kleine Brücke und verlasse mich darauf, dass der Lieutenant mich herauszieht, falls ich ausrutsche.
Ich rutsche nicht aus.
Ich erreiche die Scholle und löse den Haken. Die Sicherheitsleine windet sich zurück und dann zieht der Lieutenant den Landungssteg ein, einen Abschnitt nach dem anderen. Um mich herum plumpsen Rucksäcke aufs Eis und die toten Schwestern werden auseinandergeklappt.
Ich ziehe die neue Karte auf der Anzeige meines Visiers auf. Sie zeigt unser Ziel im Süd-Südwesten nur fünf Kilometer entfernt. Die Sensoren des U-Boots haben keine Anzeichen für feindliche Streitkräfte in der Nähe aufgefangen, aber wir sind nicht sicher. Selbst bei diesem Wind könnte ein erfahrener Scharfschütze uns aus fünfhundert Metern Entfernung treffen. Vielleicht sogar noch weiter. Als ich meinen Kopf drehe, zerrt der Sturmwind besorgniserregend am Rand meines Helms.
»Dunahee! Bringen Sie den Engel in die Luft.« Ich muss eine größere Entfernung überblicken. Ich brauche einen Echtzeitblick auf das, was da draußen ist. »Und stellen Sie bloß sicher, dass Sie ihn immer am Haken haben.«
»Verstanden, Sir!«
Dunahee ist schon zur Hälfte in sein Gerüst eingeschnallt. Roman hilft ihm dabei, damit es schneller geht.
Rosanna Roman ist unser Scharfschütze. Sie ist so groß wie Fadul, aber schlanker. Hinter ihrem Visier hat sie blaue Adleraugen und hellbraunes Haar. Am Koma-Tag war Romans Einheit auf der koreanischen Halbinsel und kauerte am Ground Zero unter dem Artilleriesperrfeuer eines Blitzkriegs, den Diplomaten später als »Missverständnis« bezeichneten – was bedeutete, dass die Vereinigten Staaten nicht ganz so tot waren, wie einige gehofft hatten. Kanoa glaubt, dass es bei dem Vorfall nur noch wenige Minuten bis zur Zündung einer Atombombe gedauert hätte, als endlich ein Waffenstillstand 4,5 Stunden nach Beginn der Feinseligkeiten erreicht wurde. Das war zu spät für Roman: Sie verbrachte die nächsten sieben Monate in einem Krankenhaus in Honolulu, wo sie schließlich ihren Verletzungen »erlag«.
Ich falte meine tote Schwester auseinander. Der Wind bläst sie beinahe um. Escamilla hat seine bereits umgeschnallt, also kommt er herüber und hält sie für mich fest, während ich auf die Fußplatten steige. »Das erste Mal, dass ich mir während eines Sturms das Gerüst anlege«, sage ich zu ihm.
»Ja, in diesem Job gibt es immer wieder neuen Nervenkitzel.«
Carl Escamilla ist groß und breitschultrig. In seinem scharfkantigen Gesicht findet man nichts Weiches; wie überhaupt in seinem Aussehen. Er hat zu viel erlebt. Er war ein Veteran mit neun Jahren Kampferfahrung, der gerade erst aus der Sahelzone nach Hause gekommen war, als die Atombomben hochgingen. Er wurde zum Notfalldienst eingeteilt und sollte eine Militäranlage bewachen, als Aufstände in der Gemeinde ausbrachen. Familien gerieten in Panik. Ich hörte, dass sein früherer CO für ein Massaker angeklagt wird, bei dem siebenundzwanzig Zivilisten, die Schutz hinter dem Zaun suchten, niedergeschossen wurden.
Wie wir alle wird er von dem getrieben, was er gesehen hat, was er getan hat. Die bittere Tatsache ist, dass unsere Welt ernsthaft im Arsch ist. Vielleicht kann das EGM dabei helfen, einiges davon wieder geradezurücken. Sollte das der Fall sein, wird der Tod, das Leiden, das wir erlebt haben, vielleicht nicht umsonst gewesen sein.
Aber wer zur Hölle weiß das schon?
Mit Escamillas Hilfe befestige ich die Titanstreben an meinen Beinen und dann an meinen Armen. Ich schwinge meinen Rucksack auf das Rückengestell. Meine HITR trage ich in den Händen. »Sie sind freigegeben«, sagt er.
Über gen-com erklingt ein leiser, ritueller Singsang, während die Gruppe die üblichen Sicherheitschecks absolviert und bestätigt, dass jedes Gerüst ordentlich festgeschnallt und voll aufgeladen ist. Ich überlasse es Logan, die Aufsicht zu führen, und geselle mich zu Dunahee und Roman.
Sie hocken auf dem Eis. Roman hilft, den klingenförmigen Rumpf des Engels gegen den reißenden Wind zu stemmen, während Dunahee eine Titanklemme aus dem Bauchfach des Engels zieht. Ein Tentakel aus synthetischer Spinnenseide entrollt sich hinter der Klammer – noch ein halber Kilometer ist auf einer Spindel im Bauch des Engels aufgerollt. Dunahee hakt die Klammer an einer Schlaufe seiner Brustpanzerung ein. Nachdem sie gesichert ist, faltet Roman die schmalen Schwingen des Engels auseinander. Die nach oben geschwungenen Flügel haben eine Spannweite von einem Meter.
Ich beobachte meine Anzeige, während die KI des Engels sich einklinkt. Sein Symbol leuchtet grün – alles normal. »Engel online«, sage ich zu Kanoa.
»Bestätigt: Engel online.«
Ein Menü öffnet sich als Antwort auf meinen Blick. Ich rufe die Videoübertragung des Engels auf und erhalte eine Nachtansicht von dem zertrampelten Schnee um Faduls Rucksack. »Engelaugen offen.«
»Bestätigt.«
Dunahee nimmt Roman den Engel ab. Ich gehe aus dem Weg, während er die Nase nach oben dreht. »Starte Drohne«, verkündet er über gen-com.
»Verstanden.«
Er lässt den Engel vom Wind erfassen. Dieser schießt davon und der Faden aus Spinnenseide rollt sich hinter ihm aus – oder wenigstens hoffe ich, dass er es tut. Der Faden ist so dünn, dass ich ihn sogar mit Nachtsicht nicht vor dem Eis entdecken kann.
Innerhalb von Sekunden sehe ich den Engel auch nicht mehr. Er entschwindet vor den tiefen, schnell dahinziehenden Wolken aus meiner Sicht. Doch seine Augen sind offen und sehen hinunter auf die aufgeworfene und aufgebrochene Eisscholle; dann nach vorne auf unser Ziel.
»Und da haben wir es«, sagt Kanoa.
Die Siegel des Tiefsten Winters, die mit hocheffizienten Lichtern versehen ist, wird ununterbrochen wie ein Wolkenkratzer in Downtown am Silvesterabend erleuchtet. Der Engel sieht die Reflexionen, die diese Lichter auf die dahinrasenden Wolken werfen.
Die umstrittene Plattform wurde letzten Sommer an ihren Platz geschleppt, als das Eis auf dem Rückzug war. Ihre Anwesenheit ist ein Startschuss in einem Territorialkrieg, der sich immer noch im Brutstadium befindet.
Die Siegel ist eine Plattform, die auf Holmen ruht. Sie schwebt auf der Oberfläche des Meeres und ihre Aufbauten ragen hoch über einem riesigen, hohlen Zylinder auf, der sich mehr als zweihundert Meter in die Tiefe erstreckt, um die Plattform zu stabilisieren. Unterwasserkabel, die an der Unterseite des Zylinders befestigt sind, reichen weitere tausend Meter zu einem Tiefseegebirge hinab und verankern die Siegel dort, um sie trotz des Eisdrucks festzuhalten – bisher, jedenfalls.
Ob es Öl in diesem Gebirgszug gibt, weiß niemand so genau. Anfängliche Bohrungen an der ersten Forschungsquelle wurden bei Wintereinbruch gestoppt. Doch eine kleine Besatzung aus Technikern und Wissenschaftlern blieb an Bord zurück – bis Mitte Oktober, als das Technikerpersonal um die Hälfte reduziert, die elektronische Kommunikation gesperrt und eine private Sicherheitsfirma angeheuert wurde, um die Anlage und ihr Personal zu schützen – vorgeblich vor Piraten und Sabotage.
Wenn unsere Informationen stimmen, beherbergt die Bohrplattform jetzt zehn erfahrene Söldner. Vielleicht sind diese Söldner die Guten in diesem bevorstehenden Konflikt und vielleicht sind wir die Bösen. Vielleicht sind die Wissenschaftler an Bord der Siegel des Tiefsten Winters wirklich nur dort, um die Dynamik des polaren Packeises und die Wintergewohnheiten vorüberziehender Eisbären zu studieren.
Aber das bezweifle ich.
Wir warten, während das Spannseil des Engels sich abrollt. Ich kann die Linie der Spinnenseide immer noch nicht sehen, aber ich höre, wie sie vor Spannung summt. Der Summton verändert sich, als der Engel vor dem Wind dreht und einer Standardprogrammierung folgt, die ihn auf ein schlangenlinienförmiges Suchmuster schickt, um möglichst viel Terrain abzudecken. Doch bei diesem Wetter wird das nicht funktionieren.
Die Siegel kann Energie erzeugen, damit die Lichter ständig brennen, aber unsere Energiereserven sind zeitlich begrenzt. Die Energiezellen unserer toten Schwestern können diese für etwa zwölf bis vierzehn Stunden betreiben; die des Engels haben eine kürzere Lebensdauer.
»Kanoa, der Engel hat nicht genug Energiereserven, um das Standardsuchmuster bei diesem Gegenwind durchzuhalten.«
»Verstanden. Ich schalte den Algorithmus ab. Ich werde versuchen, das Standardsuchmuster wieder zu starten, wenn Sie sich dem Ziel nähern.«
Bis dahin können wir nur einen schmalen Korridor des Gebiets vor uns erkennen und selbst das ist ein Glücksfall. Wenn der Wind in die andere Richtung wehte, würde der Engel nach hinten geblasen und wäre nicht vor uns.
Dunahee grunzt und stolpert einmal, als der Engel das Ende der Sicherheitsleine erreicht.
»Alles klar bei Ihnen, Dunahee?«, frage ich über gen-com.
»Alles bestens, Sir.«
Es ist eine Scheißaufgabe, an den Engel angebunden zu sein, aber bei diesen Windstärken wäre der Engel sonst innerhalb von Minuten am Horizont verschwunden und für uns nutzlos geworden.
Mein Blick schweift über die Gruppensymbole. Alle sind weiterhin grün. Wir sollten bereit sein. Ich lasse mir das von meinem Lieutenant bestätigen. »Logan, Status?«
»Gruppe ist vollständig aufgetakelt und bereit, Captain Shelley.«
Das wär’s dann.
Ich drehe mich zu dem U-Boot um. Der Lieutenant ist nicht länger zu sehen, die Luke geschlossen. Ich strecke meinen rechten Arm auf Schulterhöhe gerade aus und drehe den Daumen hoch. Sekunden später taucht das U-Boot unter das Eis ab und wir sind allein.
»Logan, ich will Dunahee an der Spitze haben, damit sich niemand in der Leine verheddert.«
»Verstanden, Captain.«
»Dunahee, Sie sollten einen vorgezeichneten Weg auf Ihrem Visier haben.«
»Habe ich, Sir.«
Der Weg ist als blaue Linie auf der Karte dargestellt, aber er wird auch auf unsere Blickfeldanzeigen projiziert und wirkt wie eine schwach erleuchtete Spur auf dem Eis. »Folgen Sie ihm, aber benutzen Sie Ihr Urteilsvermögen. Der Engel wird roten Alarm ausgeben, wenn er die Temperatursignatur von dünnem Eis oder offenem Wasser erkennt. Allerdings wird die Engelsicht begrenzt sein, also seien Sie vorsichtig. Wenn Sie einbrechen, ist es ein verdammt weiter Weg nach unten.«
Ein vollständig aufgetakelter Infanteriesoldat wird wie ein Stein sinken. Das ist keine Theorie. Ich habe es schon einmal mit angesehen.
Dunahee rückt vor. Logan schließt sich an, dann folgen nacheinander alle anderen: Fadul, Escamilla, Tran, Julian, Roman und zum Schluss ich.
Die Fußplatten unserer Exoskelette verfügen über winzige dreieckige Zacken, die sich ins Eis beißen und die Rutschgefahr verringern. Wir gehen im Gänsemarsch über ein Gelände, das sicher sein muss, weil Dunahee es bereits überquert hat. Wir halten den üblichen Abstand von etwa dreißig Metern zueinander, um die Verluste bei einem Angriff mit einer Panzerfaust möglichst gering zu halten.
Bald liegt das glatte Eis des frisch überfrorenen Kanals hinter uns. Vor uns liegt Chaos.
Die im letzten Sommer aufgebrochenen Eisschollen sind im Aufruhr der Herbststürme zusammengefroren und haben eine zerklüftete Oberfläche aus Blöcken und Eisspitzen hinterlassen. Einige der Gipfel ragen zwei Meter in die Höhe. Das Gebiet ist eine Herausforderung, aber wir kommen stetig voran, weil Dunahee uns über den Weg des geringsten Widerstands führt. Dieser wird von der Kampf-KI, die die Aktivitäten der Gruppe koordiniert, aus Satellitenbildern errechnet. Die energieverstärkten Beinstreben unserer toten Schwestern tun ihr Übriges, um die Kraft zu reduzieren, die nötig ist, um uns mit raumgreifenden Schritten über das unebene Eis voranzubringen.
Es fällt zwar kein Schnee, aber die Sichtweite ist trotzdem begrenzt, weil die Sturmböen den lockeren Schnee in der Luft halten und ihn wie einen Schleier umherwirbeln lassen. Dadurch wird das für die Nachtsicht wichtige Umgebungslicht erstickt. Der Engel sieht mithilfe von Nachtsicht, verfügt aber auch über eine Art Infrarotkamera, und die infraroten Wellenlängen können Schnee problemlos durchdringen. Also erhalte ich meinen ersten Blick auf die glitzernden Aufbauten der Siegel des Tiefsten Winters über eine gestochen scharfe, digital übersetzte Schwarz-WeißÜbertragung.
Die Plattform besteht aus drei übereinandergestapelten Decks auf einem runden, von Eis umgebenen Sockel. Auf den ersten beiden Etagen finden sich ein Labyrinth aus Rohren sowie hell erleuchtete, zylindrische Tanks, die von Querstreben umspannt sind. Das dritte Deck ist offen. Auf der Nordseite – von der aus wir uns nähern – befindet sich ein Durcheinander aus industrieller Ausstattung, einschließlich eines Krans. Ein Bohrgerüst ragt in der Mitte des Decks auf. Der Engel betrachtet es aus einem niedrigen Winkel, von dem aus ich den zweistöckigen Komplex aus Büros, Laboratorien und Schlafräumen nicht sehen kann, der sich meinem Wissen nach auf der Südseite befindet. Doch ich kann erkennen, wie das Licht, das aus diesen Räumlichkeiten scheint und auf das Eis fällt, von den wirbelnden Schneewehen zurückgeworfen wird. Weitere Lichter sind über das ganze Gerüst verteilt; einige davon sind auf einen Hubschrauberlandeplatz gerichtet, der auf dem Wohnbereich erbaut wurde und bis über das Eis hinausragt.
Zu meiner Überraschung steht ein Zelt auf dem Landeplatz. Der größte Teil des Zelts ist von den Aufbauten der Siegel verdeckt. Nur seine abgerundete Oberseite ist sichtbar, doch das reicht, um mir zu sagen, dass sich dort ein Hubschrauber befindet.
»Kanoa, was macht ein Hubschrauber hier? Wurde zusätzliches Personal hergebracht?«
»Der Geheimdienst überprüft das.«
Wir rücken weiter vor. Ich bin noch nicht bereit, die Mission abzubrechen, aber die Abweichung, dass sich ein Hubschrauber hier befindet, macht mir mehr Sorgen als die Verspätung von Oscar-1. Unserem Geheimdienstteam hätte etwas so Offensichtliches nicht entgehen dürfen. Dem Roten hätte es nicht entgehen dürfen.
Sieben Minuten später meldet Kanoa sich mit einer Antwort. »Wir haben einen Flugplan entdeckt, der auf einen reinen Nachschubflug hindeutet. Kein zusätzliches Personal. Angesichts der Entfernung zurück zur Zivilisation hat der Pilot sich wahrscheinlich entschlossen, das Wetter auszusitzen.«
Wir rücken ohne Zwischenfall vor, bis wir nur noch etwa zwei Kilometer vom Ziel entfernt sind. Dann gibt der Engel roten Alarm aus. Er markiert einen Punkt auf der Karte, von dem elektromagnetische Strahlung ausgeht – einen potenziellen Feind –, etwa einhundertdreißig Meter südöstlich von Dunahee. Wir hocken uns alle hin. Dadurch gerät ein niedriger Eisgrat zwischen mich und den Ausgangspunkt und schneidet die direkte Sichtlinie ab. Also sehe ich durch die Augen des Engels – doch da draußen ist nichts. Nachtsicht und Thermalsicht können keinen Feind ausmachen.
»Wir sind gerade in ein Sensorfeld gestolpert«, schlussfolgere ich. »Wir müssen davon ausgehen, dass der Feind von unserer Ankunft weiß.«
Romans geflüsterte Antwort erreicht mich als Erste. »Scheiße.«
»So ist es«, knurre ich. Die Chance, dass diese Mission zu einem Schlagabtausch auf dem Eis verkommt, ist gerade sprunghaft angestiegen. Sollte es dazu kommen, will ich nicht, dass der Feind unsere Positionsdaten von einer auf dem Schlachtfeld aufgestellten Anordnung Bewegungssensoren abgrasen kann.
»Fadul, suchen Sie das Ding. Zerstören Sie es. Dann schwenken Sie nach Osten und suchen nach weiteren Geräten.«
»Verstanden, Captain.«
Sie befindet sich hundertfünfzig Meter vor mir. Ich erhasche einen Blick auf sie, als sie tief geduckt aus unserer Linie ausbricht. Ihr Gewicht und das ihres Rucksacks werden von den Streben ihrer toten Schwester getragen.
»Julian, Sie schwenken weiter nach Westen. Sehen Sie, was Sie finden können.«
»Ja, Sir.«
»Dunahee, ich brauche den Engel weiter vorne.«
»Verstanden, Sir.«
»Halten Sie sich an den vorberechneten Pfad. Ich folge Ihnen. Der Rest schwärmt aus. Suchen Sie sich Ihre eigenen Wege. Bewegen Sie sich schnell voran. Wir müssen so schnell wie möglich ans Ziel gelangen – und halten Sie verdammt noch mal die Augen nach dünnem Eis auf. Vorwärts.«
Dunahee rückt aus und verdoppelt stolpernd und rutschend fast seine bisherige Geschwindigkeit. Seine tote Schwester gibt ihm die Kraft, Blöcke zu umrunden und Eiskämme zu überwinden. Hinter ihm machen sich Logan und Tran auf nach Westen, während Escamilla sich hinter Fadul nach Osten bewegt. Roman bleibt in Dunahees Nähe.
»Kanoa, haben Sie irgendetwas?«
»Negativ, Shelley.«
Der Engel gibt noch zweimal roten Alarm aus, als wir zwei weitere Sensoren auslösen.
»Wer am nächsten dran ist, kümmert sich darum!«
Der Feind hat unsere Positionen bestimmt, aber die Aufstellorte ihrer Sensoren werden uns durch ihre elektromagnetische Strahlung angezeigt.
Kanoa analysiert immer noch die Videoübertragung des Engels. »Keine Außenaktivitäten auf der Plattform«, meldet er mit unerschütterlicher Ruhe. »Kein Anzeichen von lebendigen Feinden auf dem Eis. Satellitenüberwachung zeigt keine Geschützstellungen an …«
»Granate!«, brülle ich über gen-com als Reaktion auf den kleinen Explosionsblitz eines Granatwerfers fünfhundert Meter östlich der Plattform. Die Warnung ist sinnlos. Das Geschoss ist so schnell, dass es sein Ziel findet, noch ehe ich die letzte Silbe ausgesprochen habe. Ich lasse mich auf den Bauch fallen, mein Visier wird ganz kurz schwarz und schützt meine Augen vor dem gleißenden Feuerball. Der Knall der Explosion donnert durch die Luft und vibriert durch das Eis.
Mein Visier klart wieder auf. Ich suche die Gruppensymbole meiner Gruppe ab. Alle sind grün, Gott sei Dank. Keine Warnungen, keine Verletzungen … keine Engelsicht.
»Engel ausgeschaltet«, informiert Kanoa uns.
Scheißdreck.
Ich ziehe meine Füße unter meinen Körper, ramme die Zähne der Fußplatten ins Eis und stehe wieder auf. Ich denke, Karte, und das Schädelnetz fängt die Aufforderung auf. Das verblasste Symbol der Karte wird heller und breitet sich aus. Normalerweise werden die Daten vom Engel aufgefrischt, aber die Karte funktioniert auch mit Sichtlinie. Sie zeigt mir, dass der überwiegende Teil meiner Soldaten sich hingekauert hat. Nur Fadul und Escamilla bewegen sich.
»Roman!« Ich muss meinen besten Schützen bei diesem Spiel aktivieren. »Versuchen Sie, einen erhöhten Punkt zu erreichen. Wir haben einen Söldner auf dem Eis. Ich will, dass Sie den Scheißer finden und ihn auslöschen.«
»Verstanden.«
Die Karte zeigt Roman siebzig Meter südlich. Ich stelle sicher, dass sich zwischen uns kein dünnes Eis befindet, und sprinte zu ihr. Ich renne mit hüpfenden Schritten und hämmere meine Fußplatten auf, damit ich nicht ausrutsche.
Fadul verkündet mit sachlichem Ton über gen-com. »Granate.«
Bumm!
Trotz ihrer Warnung zucke ich zusammen. Dadurch gerate ich ins Rutschen und falle beinahe hin.
»Ein Sensor aus dem Weg geräumt, Captain«, meldet Fadul.
Ich sehe den Blitz, als die Panzerfaust ein weiteres Mal feuert. »Fadul …«
Ich will ihr sagen, sie soll in Deckung gehen, aber es ist bereits zu spät. Die Erschütterung rüttelt am Eis. Ich nehme mir nicht die Zeit, nachzusehen, ob sie getroffen wurde. Stattdessen renne ich wieder los. Das Beste, was ich jetzt tun kann, ist, Roman dabei zu helfen, den Feind niederzustrecken.
Immerhin ist Roman noch am Leben. Ich sehe sie vor mir, wie sie versucht, mit den Armhaken ihrer toten Schwester einen Eisblock hinaufzuklettern, der zwei Meter hoch aufragt. »Hinter Ihnen«, warne ich sie.
»Ich kann mich nicht halten. Ich werde rückwärts hinunterrutschen!«