Der SCM Verlag ist eine Gesellschaft der Stiftung Christliche Medien,
einer gemeinnützigen Stiftung, die sich für die Förderung und Verbreitung
christlicher Bücher, Zeitschriften, Filme und Musik einsetzt.
ISBN 978-3-417-22879-3 (E-Book)
ISBN 978-3-417-28749-3 (lieferbare Buchausgabe)
Datenkonvertierung E-Book:
CPI books, Leck
© 2017 SCM-Verlag GmbH & Co. KG, 58452 Witten
Internet: www.scm-verlag.de; E-Mail: info@scm-verlag.de
Die Bibelverse sind, wenn nicht anders angegeben, folgender
Ausgabe entnommen:
Hoffnung für alle ® Copyright © 1983, 1996, 2002, 2015 by
Biblica, Inc.®. Verwendet mit freundlicher Genehmigung des
Herausgebers Fontis – Brunnen Basel
Umschlaggestaltung: Katrin Schäder, Velbert
Illustrationen: Judith Heger, Erding
Satz: Christoph Möller, Hattingen
Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck
Gedruckt in Deutschland
ISBN 978-3-417-28749-3
Bestell-Nr. 228.749
Vorwort
Eine schlimme Krankheit
Späte Beichte
Eine Spur aus Steinen
Das Geheimnis der Gräfin
Auf zur Burg Winterfeld
Rittergeschichten
Wie du mir, so ich dir
Eine schwere Entscheidung
Das Wiedersehen
Ein kluger Rat
Heinrich verschwindet
Auf dem Weg
Ein erster Verdacht
Das Turnier
Nachricht vom Narren
Post für Minna
[ Zum Inhaltsverzeichnis ]
Vorwort |
Hallo, liebe Leserinnen und Leser,
herzlich willkommen zu einem besonderen Leseabenteuer! Auf den folgenden Seiten erwartet euch eine Geschichte, die ihr selbst mitgestalten könnt.
Das bedeutet: An mehreren Stellen der Handlung dürft ihr selbst aussuchen, wie es weitergehen soll!
Ihr könnt einfach den Weg wählen, der euch am besten gefällt, oder den, den ihr anstelle der Kinder in der Geschichte genommen hättet.
Natürlich könnt ihr auch beide Handlungswege mitverfolgen.
Ich wünsche euch viel Freude beim Lesen!
Melanie Schüer
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Eine schlimme Krankheit |
„Na, fleißig bei der Arbeit?“
Erstaunt sieht sich der elfjährige Heinrich um und winkt, als er seinen Freund Jost entdeckt. „Ach, hallo, Jost! Ja, heute gibt es hier auf dem Feld ziemlich viel zu tun. Papa sagt, wir werden wohl bis zum Nachmittag beschäftigt sein.“
„Ach, schade. Ich wollte dich gerade fragen, ob wir wieder Schwertkampf üben“, antwortet Jost ein wenig enttäuscht.
„Ich fürchte, heute wird das nichts“, entgegnet Heinrich bedauernd. „Aber morgen ist Sonntag, da komme ich gern nach der Messe vorbei!“
„Okay. Aber brich mir nicht wieder die Nase!“, lacht Jost.
Heinrich grinst. „Na komm, gebrochen war sie nicht. Und du weißt, dass es keine Absicht war und mir wirklich leidtut!“
„Schon gut“, winkt Jost ab. „War doch nur ein Scherz. Dann bis morgen!“
Wir schreiben das Jahr 1452 nach Christus. Es ist die Zeit der Burgen, Prinzessinnen und Ritter – das Mittelalter.
Heinrich seufzt. Schade, dass er heute keine Zeit für die Ritterspiele mit Jost hat. Er ist stolz auf seine zwei Holzschwerter. Sein Freund hat ein Steckenpferd und einen Umhang, den die Jungen als Rüstung benutzen. Abwechselnd verkleiden sie sich dann als Ritter und haben riesigen Spaß!
Bei Heinrich und Jost geht es immer richtig wild zu – manchmal sogar etwas zu wild: Neulich hat Heinrich Jost aus Versehen mit dem Holzschwert an der Nase getroffen – so sehr, dass sie geblutet hat! Glücklicherweise hat Jost sich nicht schlimm verletzt, doch seitdem kämpfen die beiden ein wenig vorsichtiger.
Ritter durften damals nur die Kinder reicher Eltern werden. Die Ausrüstung – zum Beispiel Schwert, Panzer und Pferd – war für Bauernfamilien einfach viel zu teuer. Deshalb lernten die Söhne einfacher Leute fast immer den Beruf ihres Vaters: Ein Bauernsohn wurde Bauer, der Sohn eines Handwerkers Handwerker und so weiter.
Heinrich wohnt mit seinen Eltern und seiner Schwester Minna auf einem Bauernhof in einem kleinen Dorf, nicht weit entfernt von Braunschweig. Er hat gar keine Lust, wie sein Vater Bauer zu werden. Natürlich, er ist gern mit den Tieren zusammen und auch die harte Arbeit macht ihm nichts aus.
Aber wenn er daran denkt, sein ganzes Leben auf einem Bauernhof zu verbringen, findet er das ziemlich langweilig. Auch wenn er weiß, dass seine Eltern nicht genug Geld besitzen – immer wieder träumt er davon, doch irgendwann Ritter zu werden!
Seine neunjährige Schwester Minna interessiert sich weniger für Ritter und Schwertkampf. Doch das Leben auf einer Burg findet auch sie wahnsinnig spannend. Gestern erst hat sie mit ihrer Freundin Ennlin mal wieder „Burgfräulein und Prinzessin“ gespielt. Ennlins Mutter hat ihnen zwei richtig tolle Gewänder genäht, mit denen sie sich wunderbar verkleiden können.
Heute muss Minna ihrer Mutter helfen, einen neuen Umhang für ihren Vater zu nähen. Autsch – schon wieder hat sie sich in den Finger gestochen! Handarbeit ist einfach nicht Minnas Stärke … Ihre Mutter kann das viel besser.
Heinrichs und Minnas Mutter Barbara ist eine schöne, große Frau mit lockigen braunen Haaren. Sie singt gern, besonders bei der Arbeit. Sie hätte gern noch mehr Kinder gehabt, doch weil sie mal eine schlimme Krankheit hatte, kann sie nicht mehr schwanger werden. Dafür passt sie oft auf die kleinen Kinder der Nachbarn auf.
Minna blickt hinüber zu ihrer Mutter. Sie sieht müde aus, findet Minna. Und sie singt heute gar nicht! Das ist wirklich ungewöhnlich. Was ist nur los mit ihr? Es wird doch nichts Schlimmes passiert sein?
Es ist immer noch kalt in dem kleinen Holzhaus mit dem Strohdach. Minna sehnt sich den Sommer herbei. Sie schaut ungeduldig aus dem Fenster. Die Katze Irmel müsste bald ihre Babys bekommen! Wie viele es wohl diesmal sein werden? Hoffentlich sucht Irmel sich ein Versteck, das Minna finden kann.
Letztes Jahr hat die Katze ihre Kleinen so gut verborgen, dass Minna und Heinrich sie erst sahen, als die Kätzchen schon selbst über den Hof liefen.
Im vorletzten Jahr war unter den fünf Kätzchen ein sehr schwaches, krankes gewesen. Die Magd Agnes, die mit auf dem Hof wohnt und arbeitet, hat Minna und Heinrich geholfen, es zu pflegen. Agnes ist wirklich eine liebe Magd – still und zurückhaltend, aber sehr hilfsbereit. Und sie kennt sich mit Tieren aus, weil sie selbst auf einem Bauernhof aufgewachsen ist.
„Auf dem Hof meiner Eltern gab es öfter mal kranke Katzenbabys“, hat sie Minna erklärt, „deshalb weiß ich, wie man sich um sie kümmert.“
Das war ein echtes Glück, denn Minna, Heinrich und ihre Eltern hatten zuvor noch nie ein krankes Katzenjunges gehabt. Heutzutage könnte man einfach nachlesen, wie man dem Tier helfen kann. Doch im Mittelalter gab es nur wenige Bücher, und erst recht noch kein Internet. Es gab nicht einmal Telefone oder Strom!
Lesen konnten nur die reichen Menschen oder die Priester und Mönche. Die einfachen Leute wie Bauern oder Handwerker gingen nicht zur Schule. So wie Minna und Heinrich mussten ihre Kinder schon sehr früh bei der Arbeit auf dem Feld, im Haus oder bei der Versorgung der Tiere helfen. Das war längst nicht immer spaßig, sondern sehr anstrengend!
Am Nachmittag, als Minna endlich mit dem Nähen aufhören darf, stürmt sie nach draußen, um die Katzenbabys zu suchen. Sie hat so ein Gefühl, dass sie sie heute finden wird! Heinrich muss leider noch arbeiten, doch sie wird ihm Bescheid sagen, sobald sie die Kätzchen gefunden hat.
„Miau, Miau!“, macht Minna und hofft, dass Irmel ihr antworten wird. Zuerst schaut sie in der großen Scheune und sucht in allen Ecken und Winkeln. Doch nichts! Dann geht sie zum Schweinestall. Tatsächlich, hinten bei den Strohballen hört sie eine Antwort.
Aufgeregt läuft sie in diese Richtung. Das Miauen wird lauter. Minna klettert auf einen Ballen, um dahinter schauen zu können – und wirklich, zwischen den Strohballen liegt Irmel mit vier Katzenbabys.
Wie niedlich die sind! Eines ist grau wie Irmel. Zwei sind rötlich weiß gestreift und eins ist schwarz. Sie sind winzig klein und schlafen friedlich, eng an ihre Mama gekuschelt.
Entzückt betrachtet Minna sie noch eine Weile. Dann läuft sie zum Feld, um Heinrich Bescheid zu geben. Heinrich freut sich über die Nachricht und kann es kaum erwarten, die Katzenbabys endlich auch zu sehen.
„Holt noch Wasser vom Dorfbrunnen“, befiehlt ihr Vater. „Danach seid ihr für heute mit der Arbeit fertig und könnt zu den Katzen gehen!“
Heinrichs und Minnas Vater Endres ist ein freundlicher Mann, der gern und viel redet. Wenn er mal Zeit hat, erzählt er den Kindern spannende Geschichten von Rittern, Fürsten und Abenteuern in dunklen Wäldern.
Das lieben Minna und Heinrich! Sie sitzen dann ganz gespannt neben ihrem Vater und überreden ihn, immer weiter und weiter zu erzählen, bis er irgendwann stöhnt: „Nun ist’s aber wirklich genug! Gleich habe ich keine Stimme mehr!“
Gemeinsam bestaunen die Geschwister die kleinen Katzen und freuen sich schon darauf, bald mit ihnen spielen zu können. Aber noch brauchen die Tiere viel Schlaf und Ruhe.
Dann gehen Minna und Heinrich zufrieden zurück nach Hause. Als sie die Holzhütte betreten, sehen sie, dass die Hebamme Gudrun da ist. Aber Mama kann doch keine Kinder mehr bekommen!
Heinrich ahnt nichts Gutes. Er weiß, dass die Hebamme den Dorfbewohnern auch bei Krankheiten hilft. Und Mama sieht ganz blass aus.
Gudrun nickt den Kindern besorgt zu. „Gut, dass ihr kommt. Eure Mutter ist krank. Ich muss mit eurem Vater reden. Wo ist er?“
Heinrich rennt los, um Papa zu holen.
Ängstlich setzt Minna sich neben ihre Mutter. „Was hast du denn?“, flüstert sie.
„Es ist nichts Schlimmes“, antwortet Mama. „Ich muss mich nur ausruhen.“
Als Papa hereinkommt, schickt er die Kinder hinaus. Doch sie lauschen heimlich an der Tür.
Die Hebamme erklärt ihrem Vater: „Barbara ist krank. Sie darf nicht mehr arbeiten, denn ich befürchte, es ist Typhus. Hier im Dorf haben es bisher schon zehn Menschen. Man kann sich über Essen, das Kranke angefasst haben, oder durch Wasser anstecken. Habt ihr zufällig in den letzten Tagen von Sebolt und seiner Familie etwas zu essen bekommen?“
Papa nickt. „Ja, sie haben uns Brot gegeben und dafür von uns Milch bekommen.“
„Dann habt ihr euch vermutlich dadurch angesteckt“, seufzt Gudrun. „Bei ihnen ist die Krankheit vorgestern ausgebrochen. Sie dachten erst, es sei nur ein harmloser Husten … Wie gesagt, die Krankheit verbreitet sich im ganzen Dorf. Deshalb müsst ihr eure Kinder fortschicken. Sonst werden sie auch noch krank!“
Erschrocken schlägt sich Heinrich die Hand vor den Mund. Wo sollen sie denn hin? Er will nicht weg von zu Hause! Auch Minna sieht schockiert aus.
„Ich muss nachdenken, wohin ich sie geben kann“, murmelt ihr Vater.
In dieser Nacht können Minna und Heinrich nicht schlafen. Ihre Eltern sind den ganzen Abend sehr still gewesen, und die Kinder haben sich nicht getraut, sie anzusprechen. Vor lauter Sorge konnte Heinrich kaum etwas essen und liegt nun hungrig auf dem Stroh am Boden.
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„Dann lasst es uns doch erst bei Elisabeth versuchen“, schlägt Heinrich vor. „Aber bevor wir ihr irgendetwas sagen, muss sie uns versprechen, niemandem etwas von unserer Suche zu erzählen.“
„Sie ist eine sehr nette und weise Frau“, erklärt Dorlein. „Ich denke nicht, dass sie uns verraten wird!“
Gesagt, getan: Am Nachmittag machen sich die Kinder auf den Weg ins Dorf. Ritter Simon begleitet sie, weil er ohnehin noch jemanden im Dorf besuchen möchte.
„Hoffentlich ist sie zu Hause“, sagt Heinrich und die anderen Kinder nicken. Es wäre so toll, wenn die Kräuterfrau ihnen helfen könnte!
Doch zur großen Enttäuschung aller öffnet niemand die Tür. Nachdem Minna fünfmal geklopft hat, lassen alle entmutigt ihre Köpfe hängen.
„Das war wohl nichts“, meint Mathis, und sie wollen gerade umkehren, als sie eine freundliche Stimme hören: „Wollt ihr zu mir?“
Hoffnungsvoll drehen sich die Kinder um und Hagen ruft erfreut: „Frau Elisabeth! Ja, das wollen wir!“
„Na, dann kommt mal hinein in die gute Stube. Viel Zeit habe ich nicht, weil ich gleich noch zur alten Gerlin muss. Die hat sich am Bein verletzt. Sie kann nicht mal mehr laufen. Und der kleine Sohn vom Müller, der hustet so schlimm. Momentan weiß ich wirklich nicht, wo mir der Kopf steht, so viel habe ich zu tun. Was gibt es denn, Kinder?“
„Frau Elisabeth, können Sie ein Geheimnis bewahren?“, erkundigt sich Heinrich direkt.
Die schlanke Frau mit den dunklen, glänzenden Haaren lacht. „Natürlich. Darin bin ich ziemlich gut.“
„Versprechen Sie uns, niemandem etwas von unserem Geheimnis zu erzählen?“, fragt Dorlein.
„Wenn ihr nichts Unrechtes vorhabt, werde ich schweigen wie ein Grab“, verspricht die Kräuterfrau.
Erleichtert blicken sich die Kinder an und Minna erzählt von dem gestohlenen Diamanten.
Elisabeth hört den Kindern aufmerksam zu, dann nickt sie: „Graf Albrecht hat recht. Die Fürstin von Winterfeld ist eine gemeine, unehrliche Frau. Ich habe sie damals ein wenig kennengelernt und ich weiß, dass alle auf der Burg sie fürchten. Wenn sie jemanden nicht mag, wird sie richtig fies und hinterhältig. Es ist gut möglich, dass sie etwas mit dem verschwundenen Diamanten zu tun hat. Doch ich fürchte, ich werde euch nicht helfen können. Es ist lange her, dass ich auf Burg Winterfeld gelebt habe. Ich kenne dort niemanden mehr und wüsste nicht, was ich für euch tun könnte. Es tut mir leid, ich wäre euch gern behilflich gewesen!“
Die Kinder machen lange Gesichter.
„Wie schade!“, ruft Hagen.
„Immerhin wissen wir jetzt, dass der Fürstin so ein Verbrechen zuzutrauen wäre“, meint Minna.
„Ich wünsche euch viel Glück“, sagt die Kräuterfrau. „Ihr habt euch eine schwierige Aufgabe vorgenommen! Es ist gut, dass ihr der Grafenfamilie helfen wollt, doch passt auf euch auf. Kein Diamant der Welt ist so wertvoll wie euer Leben!“
Auf dem Rückweg überlegen die Kinder, wie es nun weitergehen kann. Zu Hause berichten sie auch Ritter Michael von ihrem Besuch bei Elisabeth.
Der meint: „Ich denke, es ist eine gute Idee, dem Narren eine Botschaft zu schreiben. Fragt Amalia, sie wird sich darum kümmern!“
Lies weiter auf Seite 119
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Späte Beichte |
Nach einem warmen Bad und einem langen, traumlosen Schlaf geht es Heinrich schon viel besser. Gestern Abend haben die beiden Ritter noch gemeinsam mit den Kindern beschlossen, dass Graf Albrecht nichts von der Entführung erfahren soll. Womöglich würde es sonst zu einer Fehde zwischen ihm und Fürst von Winterfeld kommen. Dabei gäbe es viele Verletzte und vielleicht sogar Tote. Das möchten sie unbedingt verhindern.
Alle sind froh darüber, dass es auch mit Mathis weiter bergauf geht.
Heinrich ist ein wenig aufgeregt, denn heute ist der große Tag: Gleich nach dem Frühstück werden Hagen, Dorlein, Minna und er Ewalt aufsuchen und mit ihm sprechen. Hagen hat Ewalt und seine Eltern bereits gebeten, sich kurz Zeit zu nehmen.
„Ewalt wirkte ziemlich nervös“, berichtet Dorlein. „Und Papa auch. Ich fürchte, sie ahnen etwas. Wobei ich mich frage, was Papa von alldem weiß … Na ja, wir werden sehen.“
Mathis muss leider noch weiter liegen, doch die Kinder werden ihm später haargenau erzählen, wie das Gespräch gelaufen ist.
Mit klopfendem Herzen machen Minna und Heinrich sich auf den Weg zu ihren Verwandten. Nun ist sie da, die Stunde der Wahrheit!
Ritter Simon und Ritter Michael haben versprochen, in der Nähe zu warten, damit sie einschreiten können, falls Ewalt die Beherrschung verliert. Zwar werden auch Tante Elsbeth und Onkel Hermann da sein, doch Tante Elsbeth ist schwanger und kränklich und Onkel Hermann auch nicht besonders stark. Daher findet Minna die Anwesenheit der beiden Ritter sehr beruhigend – nach der gestrigen Rettungsaktion vertraut sie ihnen noch mehr als zuvor.
Als sie das kleine Haus betreten, sitzen Ewalt, Tante Elsbeth, Onkel Hermann, Hagen und Dorlein bereits am Tisch. Die kleineren Kinder spielen am Boden. Die Stimmung ist spürbar angespannt.
„Hallo“, ruft Minna, wobei sie versucht, möglichst fröhlich zu klingen.
Onkel Hermann nickt nur mit finsterer Miene und die anderen bringen keinen Ton heraus.
„Nun sagt endlich, was los ist“, fordert Tante Elsbeth die Kinder gereizt auf. „Ich konnte die ganze Nacht nicht schlafen vor lauter Sorge! Was ist passiert?“
Heinrich ergreift das Wort: „Also, es geht um Ewalt. Und um den gestohlenen Diamanten der Grafenfamilie.“
Zornig springt Ewalt auf, doch Onkel Hermann drückt ihn zurück auf die Bank.
„Bleib sitzen“, knurrt er. Sein Gesicht ist weiß wie die Wand.
„Der Diamantring, den Amalia zur Hochzeit bekommen sollte, wurde vor einigen Wochen gestohlen. Gräfin Helena und Amalia waren darüber sehr traurig, und wir Kinder haben uns entschieden, den Diamanten zu suchen.“
Heinrich räuspert sich. Es fällt ihm schwer, weiterzusprechen, doch es muss sein: „Jedenfalls haben wir herausgefunden, wer den Diamanten gestohlen hat. Es war Ewalt.“
„Was?“ Schockiert fasst Tante Elsbeth sich an den Kopf. „Das kann nicht sein! Was redet ihr denn da nur? Wie kommt ihr darauf?“
Minna berichtet, wie sie und die anderen Ewalt heimlich gefolgt sind und die Jungen dann sein Gespräch mit dem Diener von Fürst von Winterfeld belauscht haben.
Dabei fällt ihr auf, dass Ewalt plötzlich gar nicht mehr zornig wirkt. Er sitzt zusammengesunken auf der Bank, wie ein nasser Sack, und blickt zu Boden.
Onkel Hermann starrt nur an die Decke – nun ist Minna sich sicher, dass er von dem Diebstahl wusste.
Tante Elsbeth fuchtelt wild mit ihren Händen in der Luft herum. „Aber warum?“, kreischt sie aufgebracht und schüttelt ihren ältesten Sohn. „Warum tust du so etwas? Wir waren dir doch stets gute Eltern! Wir haben dir Anstand beigebracht! Du weißt, wie schlimm es ist, zu stehlen! Wie konntest du das tun?“
Nun blicken alle Augen auf Ewalt, der leise weint. Nach kurzem Schweigen atmet er tief durch und beginnt zu sprechen: „Was die Kinder sagen, ist die Wahrheit. Es tut mir so leid. Ich wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und alles ungeschehen machen. Das habe ich mir in den letzten Wochen schon so oft gewünscht!“
Tante Elsbeth weint nun ebenfalls. „Aber warum, mein Sohn? Ich verstehe das nicht!“
„Es war eine Dummheit“, erklärt Ewalt beschämt. „Ich habe den Diener von Fürst von Winterfeld vor einigen Monaten bei einem Fest getroffen und habe mit ihm Karten gespielt. Erst nur zum Spaß, aber dann haben wir um Geld gespielt. Ich … ich dachte, ich könnte gewinnen, aber ich habe viel Geld verloren. Mehr, als ich hatte. So hatte ich große Schulden bei dem Diener. Ich wusste, irgendwie muss ich das Geld auftreiben. Aber wie?
Dann kam es zu diesem Streit zwischen Gräfin Helena und Fürstin von Winterfeld. Der Diener kennt die Fürstin sehr gut. Ich glaube … nein, ich weiß, dass er in sie verliebt ist. Schon lange. Er tut alles für sie! Und er wusste, wie verrückt sie nach diesem Diamanten ist. Gräfin Helena hatte ihn ihr mal gezeigt, als sie noch befreundet waren. Und die Fürstin von Winterfeld, diese böse Schlange, wusste, wie wichtig der Diamant für Gräfin Helena ist.
Nach dem Streit wollte sie die Gräfin so richtig verletzen. Und so kam sie auf die Idee, ihr den Diamanten wegzunehmen. Und wie gesagt, Knut, der Diener, tut ihr jeden Gefallen. Also hat er mich erpresst: Ich musste ihm den Diamanten besorgen, sonst würde er mich töten!“
Ewalt macht eine kurze Pause. Alle warten gespannt darauf, dass er weiterredet. Selbst Tante Elsbeth hört so aufmerksam zu, dass sie das Weinen vergessen hat.
„Ich wusste einfach nicht, was ich tun sollte“, fährt Ewalt mit zitternder Stimme fort. „Ich hatte Angst um mein Leben! Ich wusste, dass der Diener seine Drohung wahr machen würde. Und deshalb habe ich dem Burgvogt aufgelauert … mit … mit einem Messer. Ich habe ihn gezwungen, mir den Diamanten zu besorgen. Ihm ging es genauso wie mir; er wollte nicht sterben. Deshalb hat er mitgemacht und so bekam ich den Diamanten.
Doch ihr könnt mir glauben: Seit diesem Tag habe ich keine glückliche Minute mehr erlebt! Ständig quält mich mein schlechtes Gewissen. Ich fühle mich so schuldig und schlecht. Manchmal habe ich sogar überlegt, alles zuzugeben. Aber meine Angst war zu groß! Ich weiß, dass eine schwere Strafe auf mich wartet.
Und trotzdem bin ich jetzt irgendwie erleichtert. Endlich ist die Wahrheit ans Licht gekomen. Alles ist besser, als weiter zu lügen und zu betrügen!“
„Du denkst mal wieder nur an dich“, schimpft Tante Elsbeth. „Was meinst du wohl, was mit uns geschehen wird? Du bist unser Sohn und wir sind für dich verantwortlich! Denkst du, der Graf wird nur dich bestrafen?“