Titelbild: Harmonia Armanda

Photographie retravaillée d´une des Chimères

Cathédrale Notre-Dame de Paris

Wikimedia Commons Licence art libre

Rückseite: Séraphin-Médéric Mieusement

Cathédrale Notre-Dame - Galerie de la façade ouest,

Chimère, 1892

Public domain

Umschlaggestaltung: Simona Jekabsons

Heinrich Heine im Jahr 1829

„Bibliothek des allgemeinen und praktischen Wissens.

Bd 5“ (1905)

Deutsche Literaturgeschichte , Seite 115

HOLGER SCHULZ

ANGEKRÄNKELTES LAND

UN PAYS MALADIVE

SKIZZEN ZWEIER ÜBEL

ESQUISSES DE DEUX MAUX

ÜBER DIESES BUCH

CHOLERA IN PARIS, CORONA IN DEUTSCHLAND

„FRANZÖSISCHE ZUSTÄNDE“, DEUTSCHE ZUSTÄNDE

SORGLOSIGKEIT

UNRUHE IN FRANKREICH, RUHE IN DEUTSCHLAND

UNSICHERHEIT UND BESSERWISSEREI

MASSNAHMEN GEGEN DIE EPIDEMIEN

ANGST

STRATEGIEN

DIE FOLGEN DER EPIDEMIEN

APATHIE UND NEUE UNRUHEN

POLITISCHE FOLGEN

ÖKONOMISCHE FOLGEN

WAS WIRD SEIN?

ÜBER DIESES BUCH

Chimèren machen Angst, sie sind Ungeheuer.

Sie blicken, steingeworden, von der Kathedrale Notre Dame in Paris auf die Stadt. Sie können aber auch unsichtbar sein, als Viren und Bakterien.

Vor 190 Jahren bedroht ein Bakterium die Menschen in Paris, jetzt geht weltweit ein Virus um.

Während langer Monate seit Beginn des Jahres 2020 vergeht kein Tag, an dem die Menschen nicht mit besorgniserregenden Meldungen in den Medien über eine Pandemie beunruhigt werden: Es grassiert ein Virus und infiziert weltweit Tausende. Das Virus gehört zur Familie der Coronaviren und erhält die Bezeichnung SARS-CoV-2 (Severe acute respiratory syndrome coronavirus). Menschen, die mit diesem Virus infiziert werden, erleiden bisweilen eine Atemwegserkrankung, die als Covid-19 bezeichnet wird (Corona virus desease 2019). Bei schwerem Krankheitsverlauf kann Covid-19 tödlich sein.

Dieses Buch soll die Reihe der nahezu unübersehbaren Zahl der Veröffentlichungen zu SARS-CoV-2 und Covid-19 nicht fortsetzen, sondern ich möchte mit einem Blick in die Literatur der Zeitzeugen einer vergangenen Epidemie verdeutlichen, wie eine frühere Generation mit einer Heimsuchung umgegangen ist.

Im Gegensatz zu den weitgehend düsteren Prophezeiungen vieler heutiger Autoren über die Entwicklung und Folgen der SARS-CoV-2-Pandemie haben die Menschen der Vergangenheit nach meinem Eindruck grassierende Seuchen wesentlich gelassener ertragen. Krankheiten, Seuchen und der Tod gehörten fraglos zum Leben. Heute wird die Vergänglichkeit des Lebens oftmals als Verhängnis gewertet, das um jeden Preis zu vermeiden ist.

Die Gegenüberstellung in diesem Buch, wie die Menschen vor rund 190 Jahren, im Jahr 1832, gegen die Cholera in Paris angehen, mit unserem Verhalten, wie wir heute die Corona-Epidemie versuchen zu meistern, fällt nicht zu unseren Gunsten aus.

Die Medien erzeugen heute oftmals Panik. Allerdings behaupten sie dabei, mit ihrer Berichterstattung vor einer Panik warnen zu wollen. Tagaus, tagein verbreiten sie in alarmistischer Weise Zahlen über Infektionen im In- und Ausland.1

Es dürfte jedoch Gelassenheit angebracht sein.

Über die Cholera-Epidemie in Paris vermittelt Heinrich Heine in seinen Berichten über „Französische Zustände“ einen anschaulichen Eindruck in der „Allgemeinen Zeitung“ und später in Büchern darüber, wie er als Zeitzeuge, Journalist und Literat die Ausnahmesituation im Paris des Jahres 1832 erlebt. Heines Darstellungen bilden das Gerüst dieses Buches.

Allerdings ist Heine nicht Zeitzeuge in dem Sinne, dass er immer als unmittelbarer Zeuge der von ihm geschilderten Zustände gelten kann. Heine wertet die französischen Zeitungen, beispielsweise den „Constitutionel“, die auflagenstärkste Zeitung, den „Figaro“ oder den „National“ aus, und er „verdichtet“ die Meldungen und Meinungen der Gazetten in den „Französischen Zuständen“. Er fügt Fragmente aus den Journalen zusammen, die er spannungsreich, nicht immer faktenorientiert, dramatisiert, ja, sogar manipuliert und somit neu gestaltet. Als „Journalist und Schriftsteller“ bezeichnet Heine sich selber, der als „ordnender Geist“ ein Werk liefert. In den „Französischen Zuständen“ bestätigt er beide Rollen.

Es bereitet mir immer wieder großes Vergnügen, Heines Texte zu lesen; bei jeder Wiederholung der Lektüre entdecke ich neue Aspekte, die mir beim vorangegangenen Lesen nicht aufgefallen waren. Heines „Französische Zustände“ sind ein Meisterwerk, jedoch wird diese Wertung nicht von allen geteilt, namentlich nicht von Ludwig Börne, der zur selben Zeit wie Heine in Paris lebt, seinen Landsmann jedoch nicht ausstehen kann.

Börnes Anmerkungen zur Cholera werde ich später behandeln. An dieser Stelle sei lediglich auf eine Notiz in einem am 25. Februar 1833 geschriebenen Brief Börnes verwiesen, der Börnes Urteil über Heines „Französische Zustände“ wiedergibt: „Soll ich über Heine´s Französische Zustände ein vernünftig Wort versuchen? Ich wage es nicht.“ „Das fliegenartige Misbehagen“, das Börne „um den Kopf summte“, hindert ihn nicht, in diesem Brief seitenlang der Geringschätzung Heines Ausdruck zu verleihen.

Zwei Anmerkungen sind an dieser Stelle noch angebracht.

Zum einen: Heine ist gefährlich. Ein Facebook-Nutzer hat Heine im April 2021 bei Facebook zitiert und ist daraufhin von dem Internetriesen gesperrt worden, weil er mit Heines Wort Hassrede und Herabwürdigung verbreite. Das Zitat lautet: „Der Deutsche gleicht dem Sklaven, der seinem Herrn gehorcht ohne Fessel, ohne Peitsche…“2

Heine kennt es, verfemt zu sein. Zuletzt ist sein Werk im Nationalsozialismus unterdrückt und dann auch verboten worden (1940).

Zum zweiten: Heine schreibe „mit gesundem Menschenverstand“, befindet Franz Grillparzer, der Heine im April 1836 in Paris besucht,3 und er, Heine, so empfinde ich es, beschreibt mit gesundem Menschenverstand, leidenschaftlich, geistreich, ironisch, polemisch die Zustände in Paris, und er versteht es, sich der deutschen Sprache so virtuos zu bedienen, als schriebe er in seiner Prosa klangvolle Lyrik. Heines Sprache ist reich, voller Melodien.

Marcel Reich-Ranicki, Literaturkritiker und Heine-Verehrer, erklärt im Interview mit der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ (2006), zu Beginn der 1970er Jahre hätten in einer Umfrage die weitaus meisten der neunzig deutschen Autoren bekannt, niemals etwas von Heine gehört zu haben, oder aber er sei ihnen gleichgültig.4 Das ist ein deprimierendes Ergebnis. Es dürfte heute nicht besser sein. Vielleicht trägt dieser Text dazu bei, dass Heine einige neue Leser gewinnt?5

Wer Heine mag, mag auch die deutsche Sprache.