MURAT KAYMAN

WO DER WEG ZUR GEWALT BEGINNT

MURAT KAYMAN

WO DER WEG ZUR GEWALT BEGINNT

Muslimische Vorstellungen von Überlegenheit, ihre Wirkung auf Extremismus und Terror und was wir dagegen tun können

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Originalausgabe

1. Auflage 2021

© 2021 by riva Verlag, ein Imprint der Münchner Verlagsgruppe GmbH

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Redaktion: Dr. Annalisa Viviani, München

Umschlaggestaltung: Marc-Torben Fischer, München

Satz: Röser MEDIA, Karlsruhe

eBook: ePUBoo.com

ISBN Print 978-3-7423-1802-2

ISBN E-Book (PDF) 978-3-7453-1497-7

ISBN E-Book (EPUB, Mobi) 978-3-7453-1498-4

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Meinen Eltern Nevin und Sırrı Kayman –
der Quelle alles Guten in meinem Leben.
Mögen sie in Frieden ruhen.

INHALT

Einleitung

KAPITEL 1

Was sich verändert hat

Die Ermordung Samuel Patys

Distanzierungs frustration

KAPITEL 2

Wo der Weg zur Gewalt beginnt – und warum das etwas mit Muslimen zu tun hat

Die Beleidigung durch eine Karikatur

KAPITEL 3

Was den Weg zur Gewalt ebnet

Muslimische Überlegenheitsvorstellungen – und wie durch sie Frauen, Homosexuelle und Juden abgewertet werden

KAPITEL 4

Was sich in muslimischen Gemeinschaften ändern muss

Was sich in der Gesellschaft ändern muss

Danksagung

Über den Autor

EINLEITUNG

Ich habe dieses Buch unter dem Eindruck der Anschläge geschrieben, die 2020 in Paris, Nizza, Dresden und Wien verübt wurden.

Ich kann die Aussage der muslimischen Verbände nach solchen Anschlägen nicht mehr hören: »Extremistische Gewalt hat nichts mit dem Islam zu tun!« Denn die von Muslimen verübten Anschläge haben sehr wohl etwas mit Muslimen zu tun. Nämlich mit dem, was sie aus dem Islam, ihrer Religion und Tradition machen.

Jede Religion trägt ein Friedenspotenzial und ein Gewaltpotenzial in sich. Auch Muslime stehen in der Verantwortung, sich mit dieser Ambivalenz auseinanderzusetzen.

Es ist eine ethische Verpflichtung, die unterschiedlichen Potenziale des eigenen Glaubens zu erkennen und kritisch zu hinterfragen. Das eigene religiöse Reden und Handeln muss so angepasst werden, dass Muslime, welche die Gewalt als positiven Wert auffassen, den darin enthaltenen Widerspruch zum Islam als Friedensreligion nicht mehr verdrängen können.

Von einer kritischen Selbstbetrachtung sind die muslimischen Verbände und Gemeinschaften bis hinunter zum letzten Mitglied indes noch weit entfernt. Nach dem Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty habe ich muslimische Verbandsvertreter erlebt, die zu Beginn eines interreligiösen Friedensgebetes darauf hinwiesen, dass man gern die eigenen Gemeinden zur Teilnahme und damit auch zum Gedenken an das Opfer aufgerufen hätte – aber dies wegen der Pandemie leider, leider nicht möglich gewesen sei. Ich habe in dieser Aussage ein Ausmaß an Realitätsverleugnung wahrgenommen – und darüber die Idee zu diesem Buch entwickelt. Denn ich habe in diesem Moment eine Art des Redens und Handelns feststellen können, die ich aus der Vergangenheit nur zu gut kenne.

Von 2009 bis 2013 war ich ehrenamtliches Mitglied der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion Ditib im Landesverband Hamburg. 2014 habe ich nach einem Angebot des Ditib-Bundesverbandes, ins Hauptamt zu wechseln, meine Anwaltskanzlei in Lübeck aufgelöst und bin nach Köln, an den Sitz des Ditib-Bundesverbandes, gezogen. Als juristischer und politischer Berater des Bundesvorstandes, als Justitiar der Ditib-Tochter ZSU (Zentrum für soziale Unterstützung e.V.) und als Koordinator der Landesverbände der Ditib hatte ich bis Ende 2017 diverse Funktionen und Ämter auf Bundesebene innerhalb der muslimischen Dachverbände inne. Dabei habe ich die Zusammenarbeit dieser Organisationen im Koordinationsrat der Muslime aus nächster Nähe miterlebt.

Meine Erfahrungen und Eindrücke haben mich dazu bewogen, meine Ämter niederzulegen und mich nach einem arbeitsgerichtlichen Verfahren im Jahr 2018 vom Ditib-Bundesverband zu trennen.

Seitdem gilt jede Kritik meinerseits an den muslimischen Dachorganisationen als persönliche Abrechnung oder Äußerung eines nicht überwundenen Grolls. Festhalten will ich an dieser Stelle ausdrücklich, dass meine »Abrechnung« mit der Ditib genau an dem Tag abgeschlossen war, als das arbeitsgerichtliche Verfahren im Frühsommer 2018 beendet und alle beruflichen Beziehungen abgewickelt waren.

Mein einziges Motiv zur Kritik ist die Tatsache, dass die Ditib und andere muslimische Dachverbände aufgrund ihres ausdrücklichen öffentlichen Vertretungsanspruchs den Blick auf uns Muslime in Deutschland in hohem Maße bestimmen.

Ich bin im Alter von vierzig Jahren hauptberuflich in einen muslimischen Dachverband eingetreten. Ich habe dort versucht, eine Verankerung der Muslime in dieser Gesellschaft zu fördern. Zeitweilig habe ich versucht, diese Verankerung herbeizuzwingen, herbeizuschreiben, herbeizustreiten, herbeizuschreien. Mit dem Mut der Verzweiflung habe ich versucht, die Funktionäre von der Sinnhaftigkeit dieses Bemühens zu überzeugen, und bin dabei gelegentlich als engagiertester, als lautester und zuweilen auch als polemischster Anwalt der muslimischen Verbandsinteressen aufgetreten.

Aber es kann bekanntlich kein richtiges Leben im falschen geben. Es sind die Verbandsfunktionäre, die nach außen hin klagen, dass »Muslim« zum Gegenteil von »deutsch« geworden sei, und nach innen einen Muslim als »deutschen Agenten« beschimpfen oder ihm vorwerfen, er spreche wie »die Deutschen«. Funktionäre, die morgens auf interreligiösen Podien das Loblied des friedlichen Zusammenlebens anstimmen, um – sinngemäß – am Mittag desselben Tages in der Verbandskantine auf »Kreuzzügler« und »Zionisten« zu schimpfen. Die vor Verwaltungsgerichten den verfassungsrechtlichen Status einer deutschen Religionsgemeinschaft einklagen und gleichzeitig junge Muslime aus Deutschland mit Sportpalast-Reden anstacheln und auf einen »Sieg in Deutschland« einschwören sowie von der moralischen Degeneration von Christen und Juden überzeugen wollen.

Es sind die Verbandsfunktionäre, die seit zwanzig Jahren nach den extremistischen Anschlägen von muslimischen Tätern öffentlich lediglich zu versichern pflegen, dass Islam Frieden bedeute und die Täter nicht als Muslime betrachtet werden könnten.

Dem Muslim, der auf all diese Widersprüche kritisch und öffentlich hinweist, wird mindestens Nestbeschmutzung, häufig Verrat vorgeworfen und in letzter Konsequenz die Zugehörigkeit zur muslimischen Gemeinschaft abgesprochen.

Ich sage aber, dass deutlich und klar über diese Zustände gesprochen werden muss, damit sie für alle – Muslime und Nichtmuslime – sichtbar und damit auch zum Gegenstand einer kritischen Auseinandersetzung werden.

Dazu muss man wissen, dass sich die muslimischen Verbände überwiegend als Bastionen einer dezidiert national definierten Fremdheit verstehen, die sie unbedingt und als zentrale Aufgabe ihres Wirkens pflegen und tradieren wollen. Eine der deutschen Gesellschaft gegenüber als fremd abgegrenzte und bedrohte »Diaspora-Identität« wird nicht als etwas verstanden, was es zu überwinden gilt. Nein, vielmehr gilt es, diese Identität zu erhalten. Religion ist dabei nicht Zweck ihrer Existenz und Arbeit. Sie ist nur Mittel zur Untermauerung eines Fremdseins.

In diesem Szenario bestärkt jede reale Ausgrenzung und Anfeindung von Muslimen die Selbstwahrnehmung als bedrohte Minderheit und fördert selbst bei weniger religiösen, sogenannten Kulturmuslimen die Tendenz des geistigen und emotionalen Rückzugs aus dieser Gesellschaft. Als letzter Ort der Geborgenheit und des Verständnisses stehen dann die muslimischen Verbände bereit – die damit ihre Weltsicht einer muslimischen Wagenburg, umzingelt von einer islamfeindlichen Gesellschaft, bestätigt finden. Deshalb ist das nahezu einzige Thema, mit dem sich die muslimischen Organisationen öffentlich beschäftigen, das Thema der antimuslimischen Diskriminierung. Aber selbst für dieses Problem suchen sie keine Lösung. Die fortwährende Opferrolle dient ihnen vielmehr als Grundbedingung ihres Rückzugs aus der Gesellschaft.

Diese Entwicklung aufzuzeigen und ihre Versatzstücke zu beleuchten, ist wichtiger für das gesellschaftliche Zusammenleben als jede »Islamkritik«.

Für die Menschen an der muslimischen Basis ist dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, dass sie darin Argumente finden, ihre praktische Arbeit vor Ort neu zu gestalten. Vielleicht können sie ihre verbandlichen Führungsgremien dazu herausfordern, ihr aktuelles Verhalten zu überdenken.

Für die nicht muslimische Öffentlichkeit ist dieses Buch in der Hoffnung geschrieben, dass die gesellschaftlichen Entwicklungen und das Zusammenleben mit Muslimen in Deutschland nicht als Bedrohung wahrgenommen werden und die Ablehnung des Islam und damit die vollständige Ausgrenzung der Muslime nicht als gesellschaftliche Option gedacht wird.

Bei aller kritischen Betrachtung soll deshalb zum Ende dieses Buches hin auch diskutiert werden, welche Veränderungen notwendig und möglich sind, um das gesellschaftliche Zusammenleben sinnvoll und konstruktiv zu beeinflussen.

Ich hoffe, dass Sie bei der Lektüre dieses Buches – egal, ob oder woran Sie glauben – für sich einen neuen Blick auf alte Vorstellungen entdecken, sich herausgefordert fühlen, sich ärgern, hadern, wütend werden, widersprechen möchten, vielleicht Zutreffendes erkennen, zweifeln, neugierig werden – und am Ende vielleicht neue, fruchtbare Möglichkeiten für das Zusammenleben in einer vielfältigen Gesellschaft daraus ableiten.

KAPITEL 1

WAS SICH VERÄNDERT HAT

Ich weiß noch ganz genau, wie ich die Anschläge in den USA am 11. September 2001 erlebt habe. Bis zu diesem Datum war meine Religiosität reine Privatangelegenheit. Ich bin in einem Elternhaus aufgewachsen, das eine im türkischen Sinne republikanische Haltung zur Religion hatte. Uns umgab eine aufrichtige, ernste Volksfrömmigkeit, die sich weniger aus den orthodoxen muslimischen Verhaltenspflichten speiste. Vielmehr empfand ich unsere Bindung zum Islam als Prinzipientreue auf der Ebene des anständigen Verhaltens, der moralischen Verbindlichkeit und einer sozialen Verantwortung sowohl für unser engeres Umfeld als auch für die Gesellschaft, in der wir lebten.

Anders ausgedrückt, wir waren eine Familie von U-Boot-Muslimen, die zu zwei religiösen Feierlichkeiten im Jahr in der Moschee auftauchte. Die Gemeindegottesdienste zum Ende des Fastenmonats Ramadan und anlässlich des Opferfestes waren fester Bestandteil unseres religiösen Kalenders. Die sonstigen rituellen Normen befolgten wir, bis auf das Fasten und die Zakat, die für Muslime verpflichtende Abgabe eines bestimmten Anteils des Vermögens an Bedürftige, kaum. Der Umgang mit Religion war eher ein Akt der rationalen Aneignung durch Koranlektüre in türkischer Sprache und weniger die Einübung und Wiederholung des Ritualgebets.

Das ist vielleicht auch der anfänglich christlichen Sozialisation in meiner Geburtsstadt Lübeck geschuldet. Ich besuchte im frühen Kindesalter zunächst eine katholische Spielgruppe mit angeschlossener Kapelle, die vor jedem Mittagsschlaf zum Gebet aufgesucht wurde. Die Entdeckung der Religion fand auf dieser kindlichen Ebene und unter dem Eindruck äußerer, ritueller Glaubenspraxis statt. In welchem Umfang konnte ich die Gesten und Gebete meiner katholischen Spielkameraden nachvollziehen oder übernehmen? Welche Entsprechung für diese äußeren Impulse gab es in meiner eigenen muslimischen Glaubenswelt?

So entwickelte sich mein religiöses Bewusstsein und meine Kenntnis über den Islam im ständigen Dialog und in der stets präsenten Begegnung mit dem christlichen Glauben in all seinen Erscheinungsformen. Diese Haltung setzte sich später im evangelischen Religionsunterricht in der Schule fort. Woran glauben meine christlichen Schulkameraden? Wie erschließen sie sich ihre religiösen Texte? Wie gehen sie mit ihnen um? All das waren Anreize für mich, mich intensiver mit dem zu beschäftigen, was der Islam für mich bedeutete.

Dabei hat der Koran auf mich von Beginn an eine große Faszination ausgeübt: Er hat – meinem Eindruck und meiner Erfahrung nach – die beeindruckende Fähigkeit, das zu verstärken und sichtbar werden zu lassen, was im Innersten eines Menschen vorgeht. Er offenbart nach muslimischem Verständnis nicht nur das Wort Gottes – er offenbart den Lesenden ihr eigenes Selbst.

Wer die Bereitschaft zu Hass und Gewalt in sich trägt, der wird im Koran das finden, was ihn in dieser Haltung bestätigt. Wer von dem Wunsch nach Gerechtigkeit und Frieden beseelt ist, wird im Koran die Verstärkung dieser Sehnsucht finden. Und nur jene, die Zweifel an dem hegen, was sie nach Einblick in den Koran entdeckt haben, und sich und ihre Entdeckung stets aufs Neue hinterfragen, können die Beschäftigung mit ihrem Glauben als Gelegenheit zur Läuterung und zur Vervollkommnung erleben.

Nach dieser frühen Einsicht in eine der wichtigsten Bedingungen meiner persönlichen Glaubenswelt wurde ich mit der Herausforderung der Hadithe, der Überlieferung der Aussprüche und Handlungen des Propheten, konfrontiert. Eine Vielzahl dieser Zeugnisse, teilweise etliche Jahre nach dem Tod Mohammeds (S.A.S.)* schriftlich niedergelegt, standen für mich in einem deutlichen Widerspruch zu dem, was ich im Koran lesen und verstehen konnte.

Ich habe schnell erfahren, dass die Authentizität vieler Zitate innerhalb der Überlieferungsketten zweifelhaft ist. Wie geht man als Muslim nun mit diesen Widersprüchen und Zweifeln an der Glaubhaftigkeit bestimmter, vermeintlicher Prophetenzitate um? Nach langer innerer Auseinandersetzung mit dieser Frage half mir ein intensives Gespräch mit meinen Eltern weiter. Sie berichteten mir von einem Prophetenzitat, von dem ich bis heute nicht sicher weiß, ob es authentisch ist oder nicht. Ich möchte einfach glauben, dass es authentisch ist. Mohammed (S.A.S.) soll sinngemäß gesagt haben: »Wenn dir jemand berichtet, ich hätte dieses oder jenes gesagt, dann prüfe es mit deinem Herzen und deinem Verstand. Wenn beide es annehmen können, sei gewiss, dass ich es gesagt habe. Wenn du es auch nur mit einem davon nicht annehmen kannst, sei gewiss, dass ich es nicht gesagt habe.«

Dieser Maßstab hat mich stets in Fragen des Glaubens begleitet. Wenn innerhalb der muslimischen Gemeinschaften etwas im Namen des Glaubens getan oder gesagt wird, wogegen mein Verstand oder mein Gewissen rebelliert, kann ich es nicht als Voraussetzung oder Folge meines Glaubens akzeptieren.

Das war das religiöse Koordinatensystem, mit welchem ich am 11. September 2001 vor dem Fernsehgerät saß. Ich war erst am Vortag von einer Türkei-Reise mit zwei guten Freunden aus meinem juristischen Referendardienst nach Deutschland zurückgekehrt. Als das zweite Flugzeug vor den Augen der Welt in den noch unbeschädigten Turm des World Trade Centers einschlug, war mir klar, dass es sich nicht um einen Unfall handeln konnte.

Als dann immer deutlicher wurde, welche Dimension die Anschläge dieses Tages hatten und von wem sie ausgeführt worden waren, konnte ich deutlich spüren, wie sich eine Veränderung vollzog, die meine Existenz als Muslim in Deutschland beeinflussen würde.

Von diesem Zeitpunkt an war der Islam keine Privatangelegenheit mehr. Er war Gegenstand einer zuweilen schrillen öffentlichen Debatte, die sich um die Frage drehte, wie bedrohlich Muslime sind. Wer diese nunmehr fast zwanzig Jahre andauernde Debatte miterlebt hat und von ihr geprägt wurde, kann Muslimen heute kaum mehr mit einer offenen, unvoreingenommenen Neugier begegnen, wenn es um ihre Religion geht.

Viel zu deutlich haben sich die Annahmen und Vermutungen, haben sich Halbwissen und populärwissenschaftlich publizierte Analysen zu dem, was Muslime angeblich glauben und wie sie handeln, in die Köpfe eingebrannt. Und diese Assoziationen und Stigmatisierungen sind mittlerweile so häufig reproduziert und im gesellschaftlichen Resonanzraum so oft thematisiert worden, dass sie sich zu Gewissheiten entwickelt haben.

Diese Gewissheiten sind nahezu ausnahmslos negativ. Muslime werden heute immer noch als monolithischer Block wahrgenommen. Das muslimische Kollektiv wird als eine Art Schwarm ohne rationale Intelligenz imaginiert, dafür mit einem Reflex, der unhinterfragt religiöse Dogmen in die Tat umsetzt. Die Homogenität, in welcher Muslime wahrgenommen werden, gerinnt auch sprachlich zu einer Personalisierung des Islam. Immer wieder ist zu hören und zu lesen, was der Islam ist, was er will, was er befiehlt, was er verbietet, was er verlangt. Ihm werden Eigenschaften zugeschrieben, die wir bei der Beschreibung von Personen verwenden.

Der Islam wird in den Köpfen der nicht muslimischen Gesellschaft geradezu lebendig und dockt an christliche Glaubensmuster an: Hier ist es nicht nur die zentrale Figur der Offenbarungsgeschichte, sondern die gesamte Religion, die quasi zum Menschen wird. In einer solchen Vorstellung bleibt kein Platz mehr für die vielfältigen Deutungen, die der Islam in der angeeigneten Glaubenspraxis oder auch nur in der verinnerlichten Glaubensüberzeugung jedes einzelnen Muslims entfaltet.

Die öffentliche Debatte ist mittlerweile an einem Punkt angelangt, in dem der Islam genuin und aus sich heraus »ist«. Er »wird« nicht mehr durch das, was Muslime aus ihm machen. Eine solche essenzialistische Vorstellung vom Islam verbindet die islamskeptische nicht muslimische Gesellschaft mit all jenen, die den Islam als eindeutigen Vorschriftenkatalog wahrnehmen und seine unkritische, universell umzusetzende Praxis einfordern – mit all jenen also, die ihn als Begründung für ihren Hass und ihre Gewaltbereitschaft anführen.

Auf der nicht muslimischen Seite »hilft« eine solche Wahrnehmung bei der Einordnung von überwältigenden Phänomenen wie der islamistischen Gewalt. Auf der extremistischen muslimischen Seite dient sie der Legitimation von Gewalt, indem sie die Zulässigkeit einer ganz persönlichen rationalen und seelischen Abwägung proklamierter Dogmen ablehnt und von den Adressaten verlangt, lediglich die – vermeintlich – von Gott verlangten Gewalttaten zu vollziehen.

Es ist erstaunlich, wie sehr diese Betrachtungen und Wahrnehmungen unsere öffentliche Debatte prägen, obwohl sie auch von Muslimen, ja sogar von ihren akademischen Repräsentanten geführt wird. Diese Stimmen werden nicht müde, fortwährend eine Reform des Islam zu verlangen. In der dortigen Gedankenwelt ist dies folgerichtig – aber letztlich nicht hilfreich. Wären »der Islam« oder »der Koran« die Ursache extremistischer Gewalt, könnte – so die reformatorische Erwartung – eine Veränderung der islamischen Offenbarungsquellen das Gewaltproblem entschärfen.

Eine solche Erwartung geht von zwei gravierenden Fehlannahmen aus: Sie setzt zum einen voraus, dass Muslime ohne Ansehen ihrer doktrinären oder kulturellen Unterschiede weltweit wie religiöse Roboter funktionieren – weil man den historischen Datensatz des Koran oben hineinwirft, kommt unten Gewalt raus. Die zweite Fehlannahme beruht auf der Vorstellung, der historische Datensatz sei die Ursache des Gewaltproblems und nicht der religiöse Roboter, der ihn verarbeitet.

An beiden Fehlannahmen zeigt sich letztlich die Untauglichkeit eines reformatorischen Ansatzes. Selbst wenn die religiösen Quellen verändert würden, wäre die Streichung »problematischer Verse« keine überzeugende Maßnahme. Die unveränderten Urquellen würden weiterhin unter Muslimen zirkulieren und eine weitaus größere Authentizität vermitteln als redigierte Koranausgaben.

Und letztlich beweist jeder Muslim, der nicht zwingend mit Eintritt in die Pubertät in einem Vorortzug oder in einem Straßencafé explodiert, dass Muslime durchaus in der Lage sind, eine persönliche Auffassung von Rechtstreue und Friedfertigkeit zu entwickeln. Sie entscheiden selbst, was sie aus den religiösen Quellen als »Rechtleitung«, also als praktische Leitung für ihre individuelle Lebensführung gemäß göttlichem Willen entnehmen und was sie als historisch einzuordnende, unverbindliche oder schlichtweg nicht mit ihrem Gewissen zu vereinbarende Handlungsanweisung betrachten.

Es ist also mitnichten »der Islam«, der »den Muslim« beherrscht und fernsteuert. Es sind immer Muslime, die religiöse Quellen heranziehen, um ihrem individuellen Verhalten Legitimität zu verleihen. Entsprechend beginnt die Gewalt extremistischer Täter nicht mit einem Koranvers. Sie beginnt mit anderen Muslimen. Sie beginnt damit, was andere Muslime als vermeintlich rechtgläubiges Verhalten propagieren, was sie in ihren Gemeinschaften als Wertvorstellung pflegen, was sie an gedanklicher Gewalt unwidersprochen hinnehmen.

Muslimische Extremisten radikalisieren sich nicht durch die Koranlektüre. Sie versuchen, das Gelesene einzuordnen, ihr Verständnis innerhalb einer muslimischen Binnensphäre zu artikulieren und die Reaktionen darauf zu bewerten. Ihr Hass gedeiht auf einer Matrix, die von anderen Muslimen unmittelbar oder auch nur mittelbar als verbindlich für das Denken und Handeln von Muslimen deklariert wird. Die Gewalt entwickelt sich vom bloßen Gedanken zur möglichen, vorstellbaren und letztlich durchführbaren Tat, nachdem sie sich zuvor vergewissert hat, dass ihre Umsetzung dem entspricht, was das Verhalten eines »guten Muslims« ausmachen soll.

Diese Vergewisserung kann sich unterschiedlich darstellen. Sie reicht von Hasspredigten, die explizit zur Gewalt aufrufen, von Internetseiten, die geradezu eine Handlungsanleitung für Gewalt darstellen und ihre Ausübung religiös honorieren, bis hin zu subtileren, nur mittelbar wirkenden, lange gedankliche Gärungsprozesse voraussetzenden Erscheinungsformen.

Letzteres, also die schleichende, im Alltag kaum merkbare, in ihrer Mitteilbarkeit nicht als Ursache für problematische Entwicklungen – bis hin zu Radikalisierung und Extremismus – erkannte Begünstigung von Gewalt, fällt in den Verantwortungsbereich von Muslimen. Dabei geht es nicht um die Behauptung, in muslimischen Gemeinschaften werde überall zur Gewalt aufgerufen oder extremistische Taten stießen dort auf Begeisterung und Zuspruch. Es geht nicht um eine strafrechtlich relevante Verantwortung. Auch geht es nicht um ein rechtswidriges Verhalten. Es geht nicht um Schuld, nicht einmal um Mitschuld. Es geht aber ausdrücklich um die Frage, welche Denkmuster, welche Handlungsmotive, welche Glaubensauffassungen in muslimischen Gemeinschaften praktiziert und tradiert werden.

Werden diese auch im Hinblick auf ihre Wirkungen hinterfragt? Erleichtern die Art und der Inhalt des Denkens und Glaubens die religiöse oder alltägliche Rhetorik in muslimischen Gemeinschaften anderen Muslimen den Weg zur Gewalt? Wird jenen, die zu Hass und Gewalt bereit sind, der Weg geebnet oder werden ihnen Hindernisse in den Weg gestellt?

Diese Fragen sind nicht irrelevant oder nebensächlich. Denn seit nunmehr zwanzig Jahren der Debatte um und über den Islam und die Frage, ob der Islam die Ursache extremistischer Gewalt ist, erleben wir die muslimischen Vertreter in ihrer öffentlichen Funktion eindimensional und repetitiv. Ständig wird nur bekundet, dass der Islam Frieden bedeutet. Dass die Täter keine wahren Muslime sind, dass der Islam die Ermordung eines Menschen mit der Ermordung der ganzen Menschheit gleichsetzt und so weiter.

Die muslimischen Vertreter nehmen nicht mehr wahr, wie sie am öffentlichen Empfinden vorbeiagieren. Sie haben kein Gespür dafür, dass diese Sätze wie hohle Phrasen klingen angesichts der Tatsache, dass sich abermals ein Täter mit religiösen Symbolen schmückt oder seine Tat mit der Verwendung religiöser Formeln begleitet.

Es wirkt mittlerweile so, dass immer wieder muslimische Geisterfahrer ihre Fahrzeuge mit religiösen Zitaten ausstaffieren, unter der Ausrufung religiöser Parolen absichtlich in den Gegenverkehr rasen und katastrophale Massenkarambolagen mit zahlreichen Todesopfern verursachen. Und die muslimischen Fahrschullehrer treten in die Öffentlichkeit und wiederholen bei jedem Massenunfall immer wieder nur, dass die muslimische Straßenverkehrsordnung das Einfahren in den Gegenverkehr verbietet und sie in ihrem Fahrunterricht den Fahrschülern natürlich nur eine regelkonforme Fahrweise nahelegen.

Nicht anders waren die Erfahrungen mit den muslimischen Vertretern in ihrer öffentlichen Haltung beziehungsweise ihrem öffentlichen Unterlassen einer eindeutigen Haltung nach dem Mord an dem französischen Lehrer Samuel Paty und den Anschlägen in Nizza und Wien.

Zu diesen Ereignissen soll zunächst eine allgemeinere Analyse erfolgen und anschließend der Fokus darauf gerichtet werden, was es für problematische Entwicklungen und Verkrustungen in den muslimischen Gemeinschaften gibt, die den Weg zur Gewalt eher ebnen, als dass sie ihn verschließen.

DIE ERMORDUNG SAMUEL PATYS

Nach dem grausamen Mord an Samuel Paty in Frankreich ist es still geblieben in der muslimischen Verbandslandschaft in Deutschland. Kein muslimischer Dachverband hat sich sofort nach dem Mord öffentlich in einer Stellungnahme oder Pressemitteilung zu Wort gemeldet.

Außer spärlichen Tweets oder Facebook-Postings war nichts zu lesen oder zu hören. Selbst das Wenige, das zu beobachten war, folgte einer Dramaturgie, die mittlerweile zunehmend als eingeübte, ritualisierte Betroffenheitsfolklore wirkt. Fast schon genervt klangen diese Erklärungen. Man habe doch all die Jahre jetzt immer wieder erklärt, dass solche Taten nichts mit dem Islam zu tun haben und man sie selbstverständlich verurteilt. Wer einen Menschen tötet, tötet die ganze Menschheit. Außerdem nehme man an Präventionsprojekten teil und unterstütze die Radikalisierungsprävention. Im Grunde seien die Moscheen selbst die besten und wirksamsten Stätten der Deradikalisierung. Schließlich fliege da – jedenfalls in Deutschland – niemand in die Luft, und Jugendliche, die regelmäßig den Imamen bei deren Predigt lauschten, würden niemals gewalttätig. Letztlich bedeute Islam Frieden, und wer andere Menschen umbringe, könne im Grunde nicht als richtiger Muslim gelten. Die Täter sind also Fremde, die – Allah allein weiß, weshalb – plötzlich auf die Idee kommen, anderen die Kehle durchzuschneiden.

Die gleiche Logik wenden die muslimischen Verbände an, wenn es um das Thema antischwarzer Rassismus oder Antisemitismus unter Muslimen geht: Der Islam verbietet Rassismus. Deshalb kann kein Muslim Rassist oder Antisemit sein. Was schon durch die Tatsache bewiesen ist, dass der osmanische Sultan im 16. Jahrhundert die sephardischen Juden – die Juden also, die bis zu ihrer Vertreibung 1492 und 1513 auf der Iberischen Halbinsel lebten – vor der Konversion zum Christentum und der Inquisition gerettet hat.

Warum reicht die vor 500 Jahren demonstrierte Toleranz eigentlich nicht aus, um die letzten Zweifler davon zu überzeugen, dass man auch heute nichts anderes machen kann, als den Gewalttätern die Zugehörigkeit zur eigenen Glaubensgemeinschaft abzusprechen?

Ich habe schon spätere (muslimische) Antidiskriminierungsbeauftragte erlebt, die noch kurz vor ihrem beruflichen Aufstieg der festen Überzeugung waren, die Beschimpfung »Scheißjude« sei von muslimischen Jugendlichen gar nicht antisemitisch gemeint. Ebenso hätte im Streit auf dem Schulhof auch die Beleidigung »Hurensohn« fallen können. Die dem jugendlichen Alter geschuldete mangelnde Kreativität des gossensprachlichen Repertoires werde durch die antimuslimischen Medien zu einem Problem aufgeblasen, das es unter den qua confessio antirassistischen Muslimen eigentlich gar nicht gebe.

Weil also Gewalt nichts mit dem Islam zu tun hat, sind Gewalttäter auch keine richtigen Muslime. Um gemeine Straftäter kümmern sich die staatlichen Behörden mit den passenden Sanktionsmitteln. Wenn nun weiterhin von muslimischen Organisationen eine Stellungnahme oder Verurteilung erwartet wird, habe das etwas mit dem antimuslimischen Rassismus in unserer Gesellschaft zu tun. Die permanente, an die muslimischen Organisationen adressierte Erwartungshaltung, mehr zu tun, als das Problem nur von sich zu weisen, diene folglich der Anprangerung und Stigmatisierung der muslimischen Verbände und letztlich aller Muslime in Deutschland – ja sogar weltweit. Davon ist man in den muslimischen Dachverbänden nahezu restlos überzeugt.

Auch die Differenzierung zwischen Islam und Islamismus sei – so die verbreitete Ansicht in den muslimischen Verbänden – viel zu schwammig und diene lediglich der absichtlichen, antimuslimisch motivierten Kontamination des Islam mit negativen Assoziationen. Am liebsten hätten es die Verbände, wenn im Zusammenhang mit extremistischen Mordanschlägen die Begriffe »Islam«, »islamisch«, »Muslim« oder »muslimisch« gar nicht mehr verwendet würden.

In zwanzig Jahren der »Islam versus Islamismus«-Debatte ist es den muslimischen Verbänden jedoch nicht gelungen, alternative Begriffe in die öffentliche Diskussion einzuführen, die ihrer Analyse der Problematik eine präzisere Sprache verleihen würden.

Die Schwierigkeit dieser Bemühungen liegt auf der Hand: Viel zu häufig berufen sich extremistische Täter auf den Islam. Und viel zu häufig erklären sie ihr Tatmotiv aus einer religiösen, namentlich islamischen Perspektive.

Der Reflex aufseiten der muslimischen Verbände bleibt jedoch unverändert: Die Lösung liegt aus dortiger Sicht in der Auslagerung des Problems und ihrer Verursacher. Das Problem der Nähe zu den Motiven der extremistischen Täter wird eindimensional als eine Art rein körperlicher Nähe verstanden und kommuniziert. »Die Täter kommen gar nicht in unsere Moscheen« und »In unseren Moscheen wird das gepredigt, was die Täter nicht hören wollen« sind häufige Reaktionen.

Die eigene Zuständigkeit wird auf einer moralischen Ebene verhandelt: Natürlich befürworten muslimische Repräsentanten nicht die Ermordung anderer Menschen. Also ist die öffentliche Distanzierungserwartung ein Affront, eine unausgesprochene Vermutung der heimlichen muslimischen Sympathie, eine problematische Suggestion von Nähe als buchstäblich fehlende moralische Distanzierung vom Täter.

Mittlerweile wird immer lauter ausgesprochen, was schon in viele muslimische Positionierungen eingesickert ist: Die Distanzierungserwartung sei Ausdruck einer Assimilierungserwartung. Muslime sollten sich in Wirklichkeit nicht von Terrortaten, sondern von »ihren eigenen Werten und ihrer Lebensweise« distanzieren. Damit wird von Muslimen selbst die Vorstellung gefestigt, sie hätten genau entgegengesetzte Werte- und Tugendvorstellungen im Vergleich zu der nicht muslimischen Gesellschaft, in der sie leben.

Es ist bemerkenswert, wie sehr auch Menschen, die von der Gesellschaft für Muslime gehalten werden, ohne dass sie sich selbst als religiös bezeichnen würden, mittlerweile von der Stigmatisierungswirkung einer solchen Distanzierungserwartung überzeugt sind. Ihrem Verständnis nach liegt das Problem bei der nicht muslimischen Gesellschaft, die eine Nähe zu Extremisten wahrnehme, die es eigentlich nicht gibt. Warum stellt niemand sich und der eigenen Gemeinde die Frage, ob das Problem nicht vielleicht darin liegt: Einfache Karikaturen werden eher als Beleidigung des Islam und als schwerere Verletzung der religiösen Gefühle der Muslime empfunden als die Ermordung eines Menschen?

Exemplarisch dafür, mit welchem Eifer diese Überzeugungen in den muslimischen Gemeinschaften zirkulieren, sind Zitate, die im Zuge der Anschläge in Frankreich und Österreich im Internet nachzulesen waren. Es wird dabei ausdrücklich auf die Kenntlichmachung der Urheber verzichtet. Auch wenn die Verfasser größtenteils aus der verbandlichen Sphäre stammen, ist die in den Äußerungen hervortretende Haltung exemplarisch für viele Muslime, sodass es nicht darauf ankommt, Individuen zu problematisieren, sondern eine gedankliche Entwicklung nachzuzeichnen. Die inhaltlichen und sprachlichen Fehler der Originalzitate werden hier unverändert wiedergegeben.