Die Autoren
Volker Tschuschke, Univ.-Prof. Dr. rer. biol. hum., Dipl.-Psych., studierte Soziologie und Psychologie in Münster. Danach war er 10 Jahre als wissenschaftlicher Angestellter an der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart tätig. 1986 promovierte er an der Universität Ulm. Seine Ausbildung zum Psychoanalytiker absolvierte er an der Stuttgarter Akademie für Tiefenpsychologie und Psychoanalyse.
Von 1990 bis 1996 arbeitete er am Lehrstuhl für Psychotherapie der Universität Ulm als wissenschaftlicher Angestellter. 1994 bis 1995 vertrat er parallel den Lehrstuhl für Psychoanalyse an der Universität in Frankfurt/Main, bevor er 1996 den Ruf auf den Lehrstuhl für Medizinische Psychologie am Universitätsklinikum der Universität zu Köln erhielt. Gegenwärtig arbeitet er als Dozent und Supervisor an der Deutschen Akademie für Psychoanalyse (DAP) in Berlin mit, wo er auch die Gruppentherapie-Ausbildung leitet.
Hans Heinz Hopf, Dr. rer. biol. hum., analytischer Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut. Seit 1975 in eigener Praxis niedergelassen. Von 1996–2003 Therapeutischer Leiter im Therapiezentrum Osterhof. Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied an den Psychoanalytischen Instituten Stuttgart, Freiburg und Würzburg. Lektor an der Leopold-Franzens-Universität, Innsbruck. 2013 Diotima-Ehrenpreis der deutschen Psychotherapeutenschaft. Staufer-Medaille des Landes Baden-Württemberg. Vielfältige Veröffentlichungen, u. a. im Kohlhammer Verlag gemeinsam mit Evelyn Heinemann »Psychische Störungen in Kindheit und Jugend«, 6. Auflage.
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1. Auflage 2021
Alle Rechte vorbehalten
© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart
Print:
ISBN 978-3-17-037178-1
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pdf: ISBN 978-3-17-037179-8
epub: ISBN 978-3-17-037180-4
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Vielleicht wird sich die Frage stellen, warum zwei so verschiedene Autoren – der eine praktizierender Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut (H. H.), der andere ehemaliger Hochschullehrer, Psychotherapieforscher und ebenfalls Psychoanalytiker (V. T.) – dieses Buch gemeinsam geschrieben haben. Es gibt einen recht einfachen Grund, der sich zwar nicht unmittelbar erschließen, aber sehr leicht erklären lässt. Wir haben uns 1983 an der Stuttgarter Akademie für Tiefenpsychologie und Psychoanalyse kennengelernt – der eine als Dozent (H. H.), der andere als interessierter Ausbildungskandidat (V. T.). Die Ausbildung an diesem Institut begann 1984, und Ausbilder und Kandidat trafen sich zwei Jahre später wieder: an der Forschungsstelle für Psychotherapie in Stuttgart. Dort wollte der eine promovieren (H. H.) und der andere (V. T.) wurde von seinem Chef (Prof. Helmut Enke) dazu »verdonnert«, den einen zu betreuen. Schon damals ging es um Affekte, und zwar um die in Kinderträumen.
Die Pläne wurden in die Realität umgesetzt – mit großem Erfolg. Es entwickelte sich eine äußerst angenehme, im Endergebnis erfolgreiche und befriedigende Zusammenarbeit, die in ein sehr gutes Promotionsvorhaben mit ausgezeichnetem Abschluss und andauernde Freundschaft mündete.
Diese Freundschaft hält nun bereits seit mehr als 30 Jahren an und wird von beiden Seiten mit großer Zuneigung gepflegt, was sich in wechselseitigen Besuchen beider Familien mit dem Auffrischen alter Erinnerungen beim »Schlotzen« schwäbischen Weißweins und dem Austausch neuester Witze – neben einem natürlich ständigen fachlichen Austausch – ausdrückt.
Es lag daher nahe, an unser altes Forschungsinteresse anzuknüpfen und ein Buch über Affekte, ihre Entstehung sowie ihre Rolle in psychodynamischen Therapien zu schreiben. Dieses gemeinsame Projekt haben wir mit großer Freude realisiert und hoffen nun, dass diese Lust an dem Buch – eben unsere eigenen Affekte – bei Ihnen, unseren geschätzten Lesern, beim Lesen spürbar werden wird.
Volker Tschuschke und Hans Hopf im Frühjahr 2021
Hunderte von Millionen Jahre benötigte die Evolution, um von primitiven Lebensformen ohne Gehirnausstattung über immer differenziertere Lebensformen, die eine zentrale koordinierende Steuerungseinheit für die vielen eintreffenden Umgebungsreize benötigten, immer komplexere Gehirne zu entwickeln. Das menschliche Gehirn ist nach Auffassung des Hirnforschers und Nobelpreisträgers Sir John C. Eccles das komplizierteste Gebilde des gesamten Universums (Eccles, 1987). Es funktioniert vollständig auf naturwissenschaftlich erklärbaren Prinzipien wie z. B. der elektrophysiologischen Weiterleitung von eintreffenden Sinnesreiszen und biochemischen Prozessen, u. a. in synaptischen Spalten. Je höher auf der Entwicklungsstufe der Evolution, desto entwickelter insbesondere das Großhirn, der sogenannte Neocortex. Auffällig ist, dass das Gehirn des Menschen größer ist als das der meisten Tiere, sein Gewicht variiert meist zwischen 1 200 und 1 800 Gramm.
Das absolute Gewicht des Gehirns sagt allerdings nichts aus, sondern eher das Verhältnis der tatsächlichen Gehirngröße zum erwarteten Gehirngewicht (der Encephalisationsquotient EQ), wobei die erwartete Gehirngröße unter Berücksichtigung der Körpergröße lebender Säugetiere berechnet wird. Der EQ liegt beim Menschen um 6,30, beim Schimpansen z. B. bei 2,48 und bei der Katze bei 1,01. Da dieser Quotient aber nicht viel aussagt – z. B. hat der Delphin einen EQ von 6,00 –, berücksichtigt man den Zuwachs des Neocortex im Vergleich zu anderen höher entwickelten Säugetieren (Cortexquotient [CQ]). Dann ergibt sich, dass der CQ beim Menschen 3,2-fach größer ausfällt als der von Primaten (Kolb & Wishaw, 1996).
Wir Menschen teilen den basalen strukturellen Gehirnaufbau mit allen höher entwickelten Arten: Den entwicklungsgeschichtlich ältesten Teil, das Stammhirn, das Zwischenhirn und das Großhirn. Der entwicklungsgeschichtlich neueste Teil der Hirnentwicklung ist die Großhirnrinde und hier insbesondere der Neocortex, der – wie erwähnt – beim Menschen größer ausfällt und insbesondere durch verschiedenste Funktionen gekennzeichnet ist.
Im Folgenden werden die für unser Thema wichtigsten Hirnareale und ihre Funktionen in sehr knapp gehaltener Form dargestellt, damit ein grundlegendes Verständnis der Gefühls- und Emotionsentstehung für die therapeutische Arbeit an den Emotionen und Affekten von Kindern und Jugendlichen zugrundegelegt werden kann. Erst ein grundlegendes Verständnis der funktionalen Organisation des Gehirns ermöglicht den Brückenschlag zur Psychologie (Roth, 1996).
In Abbildung 1.1 sind die für unsere Zwecke wichtigsten Hirnbereiche dargestellt ( Abb. 1.1).
Das Stammhirn (Übergangsbereich zwischen Brücke und Rückenmark) umfasst Zentren für die lebensnotwendigen Funktionen des Organismus (z. B. die Formatio reticularis). Darin befindet sich eine Reihe von Kernen, die für die Regulationen des Wasserhaushalts des Körpers, die Atmung oder die Regulierung des Kreislaufs zuständig sind, hier läuft alles automatisch und unbewusst ab.
Das Zwischenhirn (Diencephalon) bzw. Mittelhirn befindet sich zwischen dem Stammhirn und dem Großhirn. Es umfasst vegetative Aufgaben – etwa die Balance zwischen dem sympathischen und parasympathischen Nervensystem –, steuert den Biorhythmus und ebenfalls die Emotionen. Das limbische System (vom Lateinischen Limbus = Saum; da die zugehörigen Strukturen einen doppelten Ring um die Basalganglien und den Thalamus bilden) als zentraler Bereich des Zwischenhirns ist an Gedächtnisleistungen beteiligt und spielt die entscheidende Rolle bei der emotionalen Bewertung von Ereignissen in der äußeren Umwelt. Besonders wichtig ist das limbische System bei der Herstellung von emotional-affektiven Zuständen in Verbindung mit Vorstellungen, Gedächtnisleistungen, Bewertungen, Auswahl und Steuerung von Handlungen (Roth, 2001). Zum limbischen System gehören u. a. die Basalganglien, der Hippocampus, der Gyrus cinguli, der Thalamus, der Hypothalamus und die Amygdala.
Abb. 1.1: Hirnaufbau des Menschen
Der Gyrus cinguli (nicht abgebildet) umschlingt weite Teile des limbischen Systems und ist an kognitiven und emotionalen Funktionen beteiligt.
»Der ventrale Bereich steht mit emotionalen Funktionen im Zusammenhang und unterhält Verbindungen zur Amygdala, zum Nucleus accumbens, zur Insula und zum Hypothalamus. Im dorsalen Teil spielen sich hingegen eher kognitive Prozesse ab« (Medlexi, Abruf am 28.03.2020).
Der Thalamus als größter Teil im limbischen System ist Sammel- und Durchgangsstelle für alle Sinneseindrücke (nur ohne Geruchssinn), auch aus dem Stammhirn. Auf dem Weg zur Großhirnrinde werden hier eingehende Reize umgeschaltet. Der Thalamus entscheidet, welche Sinneseindrücke in das Bewusstsein gelangen sollen (»Tor zum Bewusstsein«).
Der Hypothalamus ist zentrale Koordinierungsstelle zwischen dem endokrinen und dem Nervensystem. Als solche reguliert er vitale Funktionen wie Wachstum, Körpertemperatur, Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, zirkadiane Rhythmen wie Schlaf und das vegetative Nervensystem (Huggenberger et al., 2019).
Der Hippocampus (»Seepferdchen«) ist entscheidend bei Gedächtnisfunktionen, für die Abspeicherung neuer Informationen in Gedächtnisinhalte.
Die Hypophyse (Hirnanhangdrüse) ist wichtig für den Stoffwechsel des Organismus und steuert den Hormonhaushalt. Als Drüse produziert sie z. B. GH (growth hormone), ACTH (adrenokortikotropes Hormon, ein Stresshormon), FSH (Follikel-stimulierendes Hormon) für die Reifung von Eizellen, Spermienzellen oder TSH (Thyroid-stimulierendes Hormon) für die Schilddrüsenfunktion.
Die Amygdala ist eine zentrale bewertende Instanz, insbesondere im Hinblick auf die emotionale Bedeutung. Angst und Aggressivität sind die zentralen Emotionen, die hier geweckt werden können, aber auch Freude und Sexualtrieb.
Die Großhirnrinde (Cortex cerebri)ist der evolutionsbiologisch jüngste Teil des Gehirns. Sie hat eine Gesamtfläche von 2 200 cm2, die in zahlreichen Furchen und Windungen in einer Dicke von nur ca. 2 bis 5 mm versteckt ist. Da sie eine die beiden Hemisphären überspannende Struktur aus grauer Substanz ist, wird sie auch als Mantel (Pallium) bezeichnet. Die Zahl der Nervenzellen besteht aus unvorstellbaren fast 90 Milliarden Neuronen in sechs horizontalen Schichten. Der Cortex cerebri lässt sich in fünf bis sechs große »Lappen« einteilen (je nach Autor): Frontallappen, Parietallappen, Occipitallappen, Temporallappen, sowie Insellappen und Limbischen Lappen. Der Neocortex (auch Isocortex) nimmt hierarchisch, funktionell und topographisch das höchste Niveau des Telencephalons (Endhirn) ein und ist verantwortlich für die höheren zerebralen Funktionen wie Sprache, abstraktes Denken, Sozialverhalten, Lernvermögen usw. (Huggenberger, 2019).
Man kann den Cortex nach seinem stammesgeschichtlichen Alter in den älteren Archicortex und den (sehr alten) Palaecortex sowie den neueren Neocortex unterteilen. Der Unterschied besteht in der geringeren Schichtung bei den Nervenzellen in den älteren Arealen, z. B. bei der hippocampalen Formation (Archicortex) und beim Riechhirn (Palaecortex). Der Neocortex ist der Teil der Großhirnrinde, der für multisensorische und motorische Funktionen zuständig ist.
Es gibt unzählbar viele Faserverbindungen vom Zwischenhirn zum Großhirn (s. im Folgenden). Das wichtigste Umschaltorgan des Zwischen- bzw. Mittelhirns zum Cortex cerebri ist der Thalamus. Das Zwischenhirn umfasst u. a. den Thalamus, den Hypothalamus, den Hippocampus, die Amygdala, den Gyrus cinguli, den Nucleus accumbens und wichtige andere, die alle eine bedeutsame Funktion beim Erkennen und Bewerten von Ereignissen außerhalb des Organismus haben. Das Zwischenhirn ist für unsere Zwecke besonders wichtig, weil es neben den genannten Funktionen für die Gefühle zuständig ist. Hier entstehen Emotionen und Affekte.
Die Großhirnrinde erhält ihre zuführenden Informationen (Afferenzen) überwiegend vom Thalamus. Diese Informationen umfassen Sinneswahrnehmungen der verschiedenen Sinnesorgane.
»Extrathalamische Afferenzen kommen hauptsächlich aus der Amygdala, dem basalen Vorderhirn (cholinerge Afferenzen) einschließlich des Septum, den Basalganglien, dem Hypothalamus, den Raphekernen (serotoninerge Afferenzen), dem Locus coeruleus (noradrenerge Afferenzen) [die Raphekerne und der Locus coeruleus liegen im Stammhirn; Anmerk. v. d. Verf.], und dem tegmentalen Höhlengrau (dopaminerge Afferenzen) [Nervenzellkörper im Mittelhirn, eine Schicht, die ventral an den inneren Liquorraum grenzt und Angst- und Fluchtreflexe koordiniert; Anmerk. v. d. Verf.]« (Roth, 1996, S. 153).
Der präfrontale Cortex befindet sich im Frontallappen. Hier finden Steuerungen der Motorik und der Emotionen statt. Als »Organ der Zivilisation« bezeichnet, reguliert dieser Hirnbereich ethisch-moralische Entscheidungen. Verletzungen können zum Verlust von Scham- und Schuldgefühlen führen, d. h. Läsionen können die Persönlichkeit drastisch verändern. Der präfrontale Cortex dient als Schaltstelle zwischen dem Neocortex und dem limbischen System. Emotional-affektive Regungen werden bei intaktem präfrontalen Cortex stets von hier aus in enger Zusammenarbeit mit dem limbischen System reguliert.
Der Parietallappen organisiert und reguliert räumliches Denken und feinmotorische Abstimmungen für Hand- und Augenbewegungen. Er liegt leicht seitlich (Scheitellappen) hinter dem Frontallappen.
Der Occipitallappen liegt am Hinterhaupt. Er verarbeitet visuelle Reize und stellt das Sehzentrum des Gehirns dar.
Der Temporallappen umfasst den auditiven Cortex, den Hippocampus und das Wernicke-Sprachzentrum. Er ist wichtig für das Erkennen von Objekten.
Der wichtigste Aspekt der komprimiert dargestellten Informationen zu den für unser Thema wichtigen Hirnfunktionen besteht darin, das Wechselspiel zwischen dem Limbischen System im Zwischen- bzw. Mittelhirn und dem Neocortex zu verstehen. Sinneseindrücke werden zentral im Limbischen System unter Hinzuziehung der im Neocortex abgespeicherten Informationen früherer Erlebnisse und Eindrücke in Gefühle und Handlungsreaktionen umgesetzt. Sinneseindrücke gelangen über verschiedenste Kanäle in das Gehirn.
»Hat die Information einmal den Cortex erreicht, so wird sie auch hier über multiple parallele Systeme weitergeleitet, die ihrerseits unterschiedliche Funktionen haben. Hier sei daran erinnert, dass das visuelle System im Cortex eine ventrale und eine dorsale Route hat, wobei die ventrale durch den Temporallappen und die dorsale durch den Parietallappen führt. Der erstgenannte Weg ist bei der Objekterkennung von Bedeutung, der zweite bei der räumlichen Zuordnung von Objekten. Angesichts dieses allgemeinen Organisationsprinzips des Gehirns gibt es sehr wahrscheinlich auch multiple Systeme – und zwar sowohl auf cortikaler als auch auf subcortikaler Ebene – die zu unserem Erleben von Emotionen beitragen« (Kolb & Whishaw, 1996, S. 355).
Das Limbische System ist – als Teil des Zwischen- bzw. Mittelhirns – auf die vielfältigste Art und Weise mit dem Neocortex verknüpft. Die Hauptbahn zum Neocortex verläuft zur orbitalen Oberfläche des präfrontalen Cortex. Speziell die Bedeutung dieser Verbindung könne man nicht hoch genug einschätzen, so Eccles (1987).
Der Entwicklungsweg von zunächst einmal trivialen Umgebungsreizen des Organismus bis hin zu subjektiv hoch bedeutsamen emotionalen Empfindungen für das Individuum und seinen Reaktionen zeigt Abbildung 1.2 im groben Überblick ( Abb. 1.2; Goeppert, 1996). Alle prozessualen Reizverarbeitungen im Bereich der objektiven Sinnesphysiologie basieren auf naturwissenschaftlich einfach zu erklärenden Reizweiterleitungen und Umschaltungen auf der Basis von elektrophysiologischen und biochemischen Vorgängen.
Abb. 1.2: Bereich der Verarbeitung objektiver Sinneseindrücke und Übergang zu subjektiver Sinnesphysiologie (nach Goeppert, 1996, S. 193)
Die entscheidende psychologische Umschaltung erfolgt dann im Übergangsbereich zur subjektiven Sinnesphysiologie. Hier werden auf bisher nicht vollständig geklärte Art und Weise physiologische und/oder biochemische Prozesse in höchst subjektive Gefühlsqualität verwandelt. Dasselbe Lied kann unter kontrolliert exakt gleichen Bedingungen (Räumlichkeit, Licht- und Temperaturverhältnisse, Tageszeit, Abspielgerät, Lautstärke etc.) abgespielt werden, und die eine Versuchsperson erlebt keine besonderen Gefühle, während die nächste Person einen wohligen Schauer verspürt und sie Gefühle freudiger Erregtheit ergreifen (etwa weil beim Hören des Liedes die Erinnerung an ein schönes Erlebnis wachgerufen wird).
Roth (2001) beschreibt die Abfolge von der Sinneswahrnehmung extraorganismischer Ereignisse bis hin zum bewussten Erleben.
»Ein positiv oder negativ erregendes Ereignis wird zuerst subcortical vorbewusst verarbeitet, und zwar bei einer visuellen Wahrnehmung durch die Retina, den lateralen Kniehöcker des Thalamus und den Colliculus superior des Mittelhirns (um die wichtigsten subcorticalen visuellen Zentren zu nennen). Vom lateralen Kniehöcker und vom Colliculus superior aus laufen unterschiedliche Aspekte des Seheindrucks zu limbischen Zentren, z. B. zur basolateralen Amygdala, und von dort aus unbewusst zu den vegetativen Zentren, wo sie – falls nötig – die notwendigen Reaktionen auslösen.
Gleichzeitig laufen die Erregungen vom lateralen Kniehöcker zur primären Sehrinde und von dort zu temporalen und parietalen visuellen Cortexarealen sowie in einem Umweg vom Colliculus superior aus über das Pulvinar des Thalamus ebenfalls zu visuellen Arealen. Im Cortex verbinden sich diese ›neutralen‹ visuellen Erregungen mit deklarativen Gedächtnisinhalten, die durch den Hippocampus und die ihn umgebende entorhinale, perirhinale und parahippocampale Rinde aktiviert wurden. Aufgrund der Tätigkeit des basalen Vorderhirns werden sie mit erhöhter Aufmerksamkeit versehen, und schließlich werden sie – vermittelt durch die Aktivität von Amygdala und mesolimbischem System und über deren Projektionen in den Cortex – mit Inhalten des emotionalen Gedächtnisses verknüpft.
Aufgrund der komplexen Interaktion vieler corticaler und subcorticaler Zentren entsteht dann in den entsprechenden assoziativen visuellen Arealen die bewusste, inhaltsreiche Emotion« (Roth, 2001, S. 172 f.).
Das Gefühl bzw. die Emotion, die ein Mensch empfindet, ist also stets eine hochkomplexe Kette einer Abfolge von Reizen der Umgebung des Organismus, die über Sinnesorgane in Zentren des Gehirns umgeschaltet werden, wo sie zunächst unter Hinzuziehung basaler unbewusster Einschätzungen der situativen Lage mit abwesender oder gegebener Gefahr bzw. als angenehme oder unangenehme Situation (Stammhirn- und Mittelhirnareale) eingeschätzt werden. Gleichzeitig laufen unter Hinzuziehung präfrontaler Areale blitzschnelle Abklärungen über thalamische Verbindungen zum Großhirn, wo Erinnerungen der subjektiven Lerngeschichte (deklarative Gedächtnisinhalte) hinzugezogen werden, was dann durch efferente Prozesse im limbischen System weiterverarbeitet und letztlich wiederum durch Projektionen in die assoziativen visuellen Bereiche des Cortex unter Hinzuziehung des emotionalen Gedächtnisses zur bewusst empfundenen Emotion wird.
Man kann sich vorstellen, dass Emotionen eine entscheidende Rolle für die Tiefe der Einspeicherung ins Gedächtnis und die Leichtigkeit des Erinnerns spielen (Roth, 1996). Situatives wird leichter und dauerhafter abgespeichert, wenn es für das Individuum emotionale Bedeutung hat (Spitz, 1980).
• Bewusstes Erleben entsteht nur unter der Beteiligung von Emotionen; Kognitionen alleine sind nicht hinreichend.
• Das limbische System ist der zentrale emotionsverarbeitende Bereich im Zwischenhirn.
• Der Thalamus (als Teil des limbischen Systems) ist die wichtigste Umschaltstelle des Zwischenhirns zum Cortex cerebri.
• Komplexe wechselseitige Verschaltungen zwischen den Arealen im Zwischenhirn und dem Neocortex lassen, aus zunächst neutralen Reizen der Umgebung, subjektive Bedeutung mit zugehörigen Emotionen entstehen. Der genaue Vorgang des Übergangs von naturwissenschaftlich beschreibbaren Vorgängen im ZNS in subjektive Bedeutung ist wissenschaftlich noch nicht vollständig geklärt.
• Der präfrontale Cortex steuert – in Zusammenarbeit mit dem Zwischenhirn – die Emotionen und die Motorik (Schaltstelle zwischen Neocortex und limbischem System).
• Emotionen höherer Differenziertheit entstehen aus bedeutsamen, im Neocortex abgespeicherten individuellen Lebenseindrücken, die – i. d. R. aufgrund aktueller äußerer situativer Ereignisse – erinnert und so aktualisiert werden.
Eccles, J. C. (1987). Die Großhirnrinde. In: K. R. Popper & J. C. Eccles (Hrsg.), Das Ich und sein Gehirn (S. 283–308). München: Piper.
Kolb, B. & Whishaw, I. Q. (1996). Neuropsychologie. 2. Auflage. Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Roth, G. (1996). Das Gehirn des Menschen. In: G. Roth & W. Prinz (Hrsg.), Kopf-Arbeit. Gehirnfunktionen und kognitive Leistungen (S. 119–180). Heidelberg: Spektrum Akademischer Verlag.
Roth, G. (2001). Fühlen – Denken – Handeln. Wie das Gehirn unser Verhalten steuert. Frankfurt/Main: Suhrkamp.
• Welcher Bereich des Gehirns ist überwiegend für die Entstehung von Emotionen wichtig?
• Was wird auch als »Organ der Zivilisation« bezeichnet?
• Welches Organ des Mittelhirns ist eine zentrale Umschaltstelle für alle Informationen an den Neocortex?
• Welcher Teil des Cortex dient als entscheidende Schaltstelle zum limbischen System?
• Wann entsteht aus Sinnesreizen subjektive emotionale Bedeutung?
• Wo im Gehirn laufen lebensnotwendige Funktionen unterhalb der Wahrnehmungsschwelle ab?
• Welche ist die Hauptbewertungsinstanz – im Hinblick auf die emotionale Bedeutung – des limbischen Systems?
Das Wesen der Gefühle beschäftigte die Philosophie bereits sehr früh. Empfinden und Verhalten von Tieren und Menschen waren zu allen Zeiten eine Herausforderung für Philosophen, Dichter und Wissenschaftler (Scherer, 1990).
»Nahezu alle großen Philosophen haben den Emotionen wesentliche Teile ihres Werkes gewidmet: die Großen der klassischen griechischen Philosophie, insbesondere Plato und Aristoteles; die Philosophen der Stoa; die Philosophen und Rhetoriker der römischen Schulen, wie etwa Cicero; Kirchenväter wie Augustinus, die Vertreter der scholastischen Philosophie des Mittelalters, so etwa Thomas von Aquin; die Philosophen des 17. Jahrhunderts, insbesondere Descartes und Spinoza; die Philosophen der Aufklärung, insbesondere Kant; und eine große Zahl von Philosophen der Neuzeit, in besonderem Maße Sartre« (Scherer, 1990, S. 1).
Aristoteles (384 bis 322 v. Chr.) gilt heute als der erste Philosoph, der eine vollständige Theorie der Affektentwicklung vorstellte (Aristoteles, 2011; 2017; Fonagy et al., 2008; Höffe, 2009). Nach ihm kann die Seele in einen vernunftbegabten und einen Teil ohne Vernunft unterteilt werden. Letzterer bestehe aus dem vegetativen Teil, den der Mensch mit allen anderen lebenden Geschöpfen teile. Als vernunft- und sprachbegabtes Wesen verfüge er aber auch über Gemütsbewegungen, die er nicht verhindern, jedoch kontrollieren könne. »Tugend« ist ein wichtiger Begriff bei Aristoteles. Sie sei erforderlich, um mit aufkommenden Affekten »richtig« umzugehen, nämlich indem der Mensch sie beherrsche.
»Da es nun drei Dinge in der Seele gibt, Affekte, Fähgkeiten und Eigenschaften, wird wohl die Tugend eines von ihnen sein. Als Affekte bezeichne ich Begierde, Zorn, Furcht, Mut, Neid, Freude, Liebe, Hass, Sehnsucht, Eifersucht, Mitleid und allgemein alles, was von Lust und Unlust begleitet wird. Fähigkeiten sind das, wodurch wir für diese Affekte empfänglich genannt werden, wie etwa das, wodurch wir fähig sind zu zürnen und Unlust oder Mitleid zu empfinden. Die Eigenschaften wiederum sind es, durch die wir uns zu den Affekten richtig oder falsch verhalten; so verhalten wir uns etwa dem Zorn gegenüber falsch, wenn wir allzu heftig oder schwach zürnen, richtig aber, wenn wir es mit Mittelmaß tun; ebenso ist es auch mit den übrigen Affekten« (Aristoteles, 2017, S. 41 f.).
Bemerkenswert sind die weit vor der heutigen Zeit erfolgten differenzierten Überlegungen zur Psychologie von Emotionen und Affekten und das Erkennen der komplexen Zusammenhänge zwischen Körperreaktionen wie z. B. Lust-Unlust-Empfinden, damit in Verbindung stehenden Emotionen und Abwehrprozessen (bei Aristoteles Kontrolle durch Tugend).
Dagegen kritisierten die Stoiker Aristoteles; sie gingen davon aus, Affekte seien nicht zu kontrollieren, sie entzögen sich der Kontrolle und seien daher nicht kultivierbar (Fonagy et al., 2008). Ihnen zufolge sei der Mensch vom Logos der Natur geleitet. Allein der Geist und das Denkvermögen könnten den Menschen dahin führen, am »göttlichen Logos« teilzuhaben. Durch ein ständiges Bemühen um Selbstformung und -kontrolle könne der Mensch zur Selbstgenügsamkeit und Unerschütterlichkeit gelangen. Die stoische Ruhe ermögliche es, Affekte am besten zu vermeiden, um so zur »Selbstvervollkommnung« zu gelangen.
»Die Stoiker betrachteten die Affekte als falsche Urteile und daher als korrumpierende Faktoren, die uns vom rechten Wege abbringen. Deshalb ist es unsere Pflicht, uns von ihnen zu distanzieren und uns zu bemühen, einzig auf der Grundlage der Vernunft zu handeln. Wenn es uns gelingt, der überwältigenden Macht der Affekte zu widerstehen, können wir Gleichmut und Selbstgenügsamkeit entwickeln, die es uns erlauben, ein glückliches und vernunftgemäßes Leben zu führen« (Fonagy et al., 2008, S. 77).
Fonagy et al. stellen eine interessante Verbindung her, indem sie den Einfluss der Stoa auf die römische Kirche betonen, »… die den Affekten und dem Körper feindlich gegenüberstand …« (S. 77). Affekte machen dem Emotionsphilosophen DeSousa (1987) zufolge für die römische Kirche fünf der sieben Todsünden aus: Hoffart, Wolllust, Neid, Völlerei, Zorn und Trägheit, während drei der vier Kardinaltugenden – Weisheit, Besonnenheit, Tapferkeit – nur auftreten könnten, wenn der Mensch sich gegen seine emotionalen Versuchungen zur Wehr setze. Man kann hier noch heute unschwer die konservative Haltung der römisch-katholischen Kirche gegenüber dem menschlichen Gefühlsleben und seinen Verbindungen zu körperlichen Regungen erkennen.
Der französische Philosoph, Mathematiker und Naturwissenschaftler René Descartes hat den bis heute nachhaltigsten Einfluss auf das abendländische Denken zum Verhältnis von Körper und Geist bzw. Seele genommen. Er schuf einen Dualismus, der bis heute das Denken und Handeln in der naturwissenschaftlich begründeten Medizin prägt.
»… da Descartes das Denken bekanntlich für eine Tätigkeit hielt, die sich völlig losgelöst vom Körper vollzieht, behauptet er in dieser Äußerung die radikale Trennung von Geist, der ›denkenden Substanz‹ (res cogitans) und dem nichtdenkenden Körper, der Ausdehnung besitzt und über mechanische Teile verfügt (res extensa)« (Damasio, 2018, S. 329; Hervorh. dort).
Damasio sieht in der »abgrundtiefen Trennung von Körper und Geist«, wie sie Descartes vorgenommen habe, einen »großen Irrtum« (s. hierzu ausführlich Abschnitt III; Teil III). Auch der britisch-österreichische Philosoph Sir Karl R. Popper kritisierte Descartes’ Auffassung vom Menschen als Maschine, eines von mechanistischer Kosmologie beherrschten Apparats, die keinen Raum lasse für ein lebendiges Wesen mit Seele (Popper, 1987).
Eine Brücke zwischen Aristoteles und der Stoa schlug der portugiesische Philosoph Spinoza, der beide Positionen miteinander vereinte, indem er seiner radikalen Philosophie ethische Ziele zugrundelegte (Spinoza, 2017). Der Mensch solle insbesondere die illusorischen Lebensziele vom einzig Wahren differenzieren. Der Begriff der »Substanz« spielt bei ihm eine überragende Rolle. Er verstand darunter das, was in sich sei und durch sich begriffen werde; so sah er Gott als die einheitliche und ewige Substanz an. Eine Substanz benötige keine weitere Ursache, sie sei Ursache ihrer selbst, wie eben Gott auch. Denken (Geist) und Ausdehnung (Materie) sind für Spinoza zwei verschiedene »Attribute« der Substanz. Wie Descartes sah Spinoza einen Gegensatz zwischen Geist und Materie, allerdings konstruierte er nicht wie Descartes einen Dualismus, sondern einen Monismus. Geist und Materie seien keine gegensätzlichen Substanzen, sondern verschiedene Attribute einer einzigen Substanz (psychophysischer Parallelismus).
Bei aller Vernunft, die von letztlich fast allen Philosophen als Ziel propagiert wird, konzedieren sie gleichwohl mehrheitlich, dass ein vernünftiges, rationales Denken alleine dem Menschen nicht zu seinem Glück verhelfen könne. So ist für Schopenhauer nicht die bloße Reflexion wichtig, nicht alleine das »prüfende und vergleichende Nachdenken«, sondern »… gränzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten …« (Schopenhauer, 2019; S. 207). »Mitleid« ist der zentrale Begriff des Schopenhauer’schen Ethik-Entwurfs, ein Mitleid – mit dem psychologischen Wissen von heute würde man dies als Mitfühlen, als Empathie bezeichnen –, das voraussetzungslos, ohne jegliche egoistischen Hintergedanken oder Motive, aus reiner Selbstlosigkeit handele. Mitleid sei Menschlichkeit im besten Sinne.
»… es ist das alltägliche Phänomen des Mitleids, d. h. der ganz unmittelbaren, von allen anderweitigen Rücksichten unabhängigen Theilnahme zunächst am Leiden eines Andern und dadurch an der Verhinderung oder Aufhebung dieses Leidens, als worin zuletzt die Befriedigung und alles Wohlseyn und Glück besteht. Dieses Mitleid ganz allein ist die wirkliche Basis aller freien Gerechtigkeit und aller ächten Menschenliebe« (Schopenhauer, 2019, S. 186).
Die Grundtriebfedern menschlichen Handelns sieht Schopenhauer im Egoismus, in der Bosheit und eben im Mitleid. Dass es sich hierbei nicht um Kognitionen, sondern um basale Gefühle handelt, erklärt sich von selbst.
Kierkegaard sieht den Mut zur Liebe als die entscheidende innere Haltung an, um eigene Ängste bewältigen und frei wachsen zu können (Kierkegaard, 2003). Ein Gefühl wie die Liebe sei unabdingbar wichtig für die eigene Existenz. Selbstliebe und Liebe des Nächsten seien untrennbar miteinander verknüpft.
»Niemand kann hoffen, ohne zugleich zu lieben, er kann nicht für sich selber hoffen, ohne zugleich zu lieben, denn das Gute hängt unendlich zusammen; liebt er aber, so hofft er zugleich für andere. Und im gleichen Maße, wie er für sich selber hofft, ganz im gleichen Maße hofft er für andere; denn ganz im gleichen Maße, wie er für sich hofft, ganz im gleichen Maße ist er der Liebende« (Kierkegaard, 2003, S. 282).
Selbst der stets mit Rationalität und Vernunft in Verbindung gebrachte Immanuel Kant legt seinem kategorischen Imperativ, dass der Mensch stets moralisch richtig und so handeln solle, so dass dieser Leitspruch jederzeit zum Gesetz werden könne, Gefühle zugrunde. Zwar benötige der Mensch dazu seine Vernunft und seine Erfahrung – also rational-kognitive Elemente –, die Vernunft jedoch könne nur wirken, wenn sie vom Gefühl der Achtung und dem Wunsch nach Liebe getragen sei (Kant, 2016).
Der Skeptiker Nietzsche jedoch sah in erster Linie den Intellekt durch Affekte bedroht. Er sah in Affekten eine Gefahr für das klare Denken, ganz ähnlich den Stoikern. Mit seiner negativistischen Äußerung »Wettstreit der Affekte und Überherrschaft eines Affekts über den Intellekt« (Nietzsche, 1980, S. 421) klingt eine Dimension des menschlichen Empfindens an, die den Affekt in seinem Grundcharakter von Gefühlen und Emotionen unterscheidet.
Während Philosophen und Denker sich damit befassten, wie wohl die durch Emotionen hervorgerufenen Gemütszustände zustande kamen, befassten sich die Vertreter der biologischen und medizinischen Wissenschaften von jeher mit den körperlichen Symptomen emotionaler Reaktionen (Scherer, 1990). Angefangen mit Hippokrates und von Galen, die sich mit den Körpersäften in Verbindung mit dem Charakter und den Emotionen befassten, über Darwins Evolutionstheorie, die Gemeinsamkeiten der Abstammung in Erscheinung, Verhalten und eben auch Gefühlen postulierte, über Cannon und Bards körperlich begründete Emotionstheorie bis hin zu Kretzschmers Konstitutionspsychologie im frühen 20. Jahrhundert – stets wurde der Körper als Ausgangspunkt und Ursache von Emotionen angesehen (Hippokrates & Fuchs, 1897; Galenus, 2019).
Es wurden verschiedene Begrifflichkeiten genannt, die man alle eher dem Bereich des Empfindens, Fühlens oder »Spürens« zuordnen würde als dem des Denkens, z. B. Mitleid, Mut, Liebe, Achtung. In der Tat werden selbst in der Fachliteratur die Begrifflichkeiten uneinheitlich verwendet, so dass ein begrifflicher Wirrwarr herrscht. Begriffe wie »Gefühl, »Emotion«, »Stimmung«, »Erregung«, »Affekt« werden durcheinandergeworfen, so dass man oft nicht wissen kann, was der Verfasser genau meint. Die verschiedenen Begriffe bezeichnen nicht dasselbe; sie versuchen, unterschiedliche Befindlichkeiten zu kennzeichnen, die aufgrund ihres zeitlichen Umfangs, dem Ausmaß ihrer Intensität sowie der Art ihrer Qualität für ganz unterschiedliche innere Zustände stehen.