EWALD ARENZ
DER TEEZAUBERER
ROMAN
ars vivendi
Vollständige eBook-Ausgabe der im ars vivendi verlag erschienenen Originalausgabe (4. Auflage 2009)
© 2002 by ars vivendi verlag
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Umschlaggestaltung: Philipp Starke, Hamburg
Datenkonvertierung eBook: ars vivendi verlag
eISBN 978-3-86913-325-6
Als Jakob dreißig Jahre alt war, lag er eines Nachts im späten Frühling auf dem federnden Kissen der Haare seiner Frau und zählte sein Leben, weil er fürchtete, wieder zu träumen. Am offenen Fenster entlang strich ein kühler Wind wie an der See.
Jede Tasse Tee, jede Tasse Kaffee, die in dieser Stadt getrunken wurde, war zuvor durch Jakobs Hände gegangen. Er besaß ein Großhandelshaus, und alle Geschäfte der Stadt, in denen Tee, Gewürze oder Kaffee gehandelt wurden, gehörten – auch wenn sie verschiedene Namen trugen – ihm.
Neben ihm lag seine Frau, deren Haare beim Gehen schwangen, als hätten sie winzige Glaskugeln an den Spitzen, in denen sich das Licht fing.
Zwischen Marietta und der Wand lag, das Gesicht rot und warm vom Schlaf, die Lippen ein wenig geöffnet, laut und ruhig atmend, ein kleines Mädchen.
Dann gab es einen besten Freund. Den man immer seltener sah. Jakob hatte manchmal Angst, ihn nur noch Freund nennen zu können.
Dann gab es, was Jakob sich als Schüler unter der großen Freiheit vorgestellt hatte: Im Café zu frühstücken und zu lesen; sehr früh, wenn die Stadt eben erst zu arbeiten beginnt.
Dann gab es gelegentlich einen Ritt durch einen Wald.
Es gab Sommermorgen.
Es gab Nächte, in denen Marietta und Jakob sich liebten, zusammen lachten und ineinander einschliefen.
Es gab Augenblicke auf einer Brücke über dem Fluß inmitten von schwirrenden Insekten und den Geruch von Holunder dazu.
Und das war alles.
Manchmal gab es noch einen überraschenden, atemlosen Kuß der Tochter.
Aber das war wirklich alles.
Der Wind ging durch den Frühling und war kühl und zupfte an Jakobs Gedanken.
Er überlegte, daß über die Jahre etwas verlorengegangen sein mußte. Aber als er lange genug nachgedacht hatte, fand er, daß es anders war; daß er nämlich nichts verloren hatte, sondern etwas Unbestimmtes nicht gefunden hatte. Er hatte nur das Gefühl, etwas verloren zu haben, weil er nicht mehr auf Worten reisen konnte.
»Tee!« sagte Jakob leise in die Dunkelheit des Raumes. Die Luft wurde noch ein wenig kühler, aber Jakob roch nicht den grünen, leichten Duft und sah weder Japan noch China.
»Kaffee!« flüsterte er und zwang seine Gedanken nach Afrika. Aber die Bilder blieben blaß. Die Tür bewegte sich, weil die Luft um Jakob plötzlich warm wurde und nach oben stieg.
»Tee!« probierte es Jakob noch einmal.
Nicht Seide noch Geschmack noch Duft noch Geräusch. Marietta deckte sich zu, nachdem es im Raum wieder kühl wurde und Jakob ernüchtert schwieg.
»Verdammt!« sagte er laut. Aber Marietta und das Kind schliefen weiter. Jakob verstand plötzlich, daß sein Reisen auf Worten immer nur Ersatz gewesen war. Er war ins Unbestimmte gereist, hatte nach Unbestimmtem gesucht und war schließlich nirgends angekommen. Deswegen träumte er wohl. Deswegen hatte er angefangen, sich vor dem Träumen zu fürchten. Seine Träume waren so:
Er stieg durch die Teefelder Assams hoch hinauf in ein leeres Schloß, ging über knarrendes Parkett durch die Räume und lehnte sich vorsichtig aus den Fenstern. So tief unten lag das Land, daß Jakob Höhenangst hatte. In seinen Träumen hatte er oft Höhenangst.
Oder er fuhr mit einem schwankenden, offenen Lift hinunter auf einen Bahnsteig. Zigeuner warteten dort auf ihren Zug. Unter ihnen eine junge Frau, von der Jakob wußte, daß sie ihn liebte und daß er sie wiederliebte. In den fünf Minuten, bis der Zug fuhr.
Aus diesen Träumen wachte er verstört auf, denn er liebte Marietta. An manchen Tagen, wenn sie nachmittags auf dem Sofa lag und eingeschlafen war, breitete sich ihr Haar wie eine Flüssigkeit in Wellen um ihr schmales Gesicht. Wenn er dann die Hand auf ihren Kopf legte, federte sie leicht zurück.
»Verdammt!« sagte er noch einmal, aber leiser, weil er trotz allem nicht wollte, daß Marietta und die Tochter aufwachten. In dieser Nacht träumte er davon, daß er seine Arbeiter mit Gold bezahlte; einen um den anderen, bis er mit leerer Börse dastand. Dann war er mit einem kaputten Fahrrad am Fluß und wollte durchfahren. Aber der Fluß stieg über die Ufer und Jakob schwamm. Im Schwimmen erwachte er, drehte sich Marietta zu und schob die Hand unter ihre Hüfte, während er wieder einschlief, obwohl er Lust hatte, leise aufzustehen und durch die Nacht zu wandern.
Am Tage handelte Jakob mit Wohlgerüchen. Das heißt, Jakob handelte mit Kaffee und Tee und Gewürzen. Das zumindest sagte er den Leuten, die ihn nach seinem Beruf fragten. Marietta wußte es besser. Sie hatte sich in Jakob verliebt, als sie ihn eines Tages in einem seiner Läden über eine Kiste gebeugt gesehen hatte, seine Augen geschlossen und so andächtig den Duft des Tees atmend, als bete er. Der Großhandel mit Tee und Kaffee ist seltsam genug für jemanden, der in der Mitte des Landes lebt und von jedem Meer wenigstens vierhundert Kilometer entfernt ist. Zwar ging durch die Stadt ein Fluß, doch war der nicht schiffbar, so daß Jakob zu Beginn seiner geschäftlichen Laufbahn seine Waren durch einen Agenten ordern und per Bahn kommen ließ. Er fuhr immer selbst zum Bahnhof, um dabeizusein, wenn seine Arbeiter die Kisten und Säcke verluden. Aber den Betrieb im Güterbahnhof mochte er nicht; es roch dort nach Vieh, nach Eisen und nach Staub; Gerüche, die nur selten zu Jakob sprachen.
Zu Anfang, als er noch ein Neuling im Geschäft war, genügten die Düfte, zusammen mit den fremdartig klingenden Namen, Jakob für Minuten reisen zu lassen. Er stand dann inmitten einiger Kisten, auf die mit grauer oder schwarzer Farbe in Schablonenschrift die schönen fremden Namen gepinselt waren. Sogar die Anweisungen klangen fremdartig schön:
Darjeeling, 1st Flush, 60 lbs. Handle with care. Store dry.
Panjab Tea. 1st Flush, 55 lbs. Store in a dry palace.
Green Tea, Gunpowder Prime Quality. Hong Kong Shipping Co., Singh Palan Cie. Store in a dry place.
Cogollo. Colombia
Balzacbro Medellin Excelso
Tanzania Coffee Arabica
Coffea rustica. Arabian blend. Dark. Via Hambrugh.
Was mit den Wörtern geschehen konnte, wenn sich ein indischer oder arabischer Arbeiter, der kaum lesen konnte, in den Lagerhallen versah und die Buchstabenschablonen falsch verwendete! Dann wurde aus dem eilig hingesprühten kühlen, trockenen Ort ein kühler, trockener Palast. Aber viel mehr amüsierte Jakob, sich vorzustellen, daß es kein Irrtum war, sondern daß irgendwo in Arabien Menschen waren, die sich unter Hambrugh eine Stadt vorstellten. Es mußte eine ganz andere Stadt sein als das Hamburg, in dem die Kompanien saßen, von denen er Rechnungen bezog.
Die Düfte und die Namen. Tee roch nicht so bitter, wie er schmecken konnte. Tee roch leicht und grün und man konnte sich fast vorstellen, diesen Duft zu essen. Das einfache Wort Tee formte sich aus graugrünen, durchsichtigen Schwaden in der Dämmerung des Lagers. Tee war ein Zauberwort und hieß: China, Japan, Indien.
Jakob schmeckte diese Namen, und während er sie schmeckte, ließ er die Bilder in seinem Kopf sich entfalten.
Indien: Raschelnde Seide der Plantagenbesitzerinnen. Frauen, die mit einem Glas in der Hand auf einer Veranda stehen und den Tee wachsen sehen.
Männer in Tropenweiß. Ein Tropenhelm? Lieber kein Helm. Aber zumindest ein Pferd. Jakob bestimmte seiner Vorstellung vom Plantagenbesitzer ein Pferd. Er ritt selber gerne.
Pflückerinnen, die eintönig singend den ganzen Tag arbeiten. Den ganzen Tag.
Sonne.
Japan: Tee auf den engen Bergen der Insel. Pflückerinnen, die manchmal kichern und manchmal singen und lächeln. Grüner Tee, der mit einem Bambusbesen schaumig geschlagen wird und so schmeckt, wie ihn europäisches Wasser nicht bereiten kann – er schmeckt so, wie er riecht.
China: Tee und Tee und Tee und Bauern in kommunistischer Einheitskleidung, blau oder grau und alle mit einer Mütze. Aber so fern von Beijing, daß sie dem Kommunismus noch glauben, wie es in der Hauptstadt niemand mehr tut, und ganze Familien pflücken mit heiligem Ernst für das Land. Stiller, linder Regen und das dampfende Tal des gelben Flusses. Die Mongolei – das Grasland. Und Schriftzeichen auf Teeziegeln, die Jakob nicht lesen konnte. Das irritierte und faszinierte ihn zugleich.
»Tee«, sagte er damals, als er von der Teekiste aufsah, Marietta und ihr Haar und ihr Lächeln bemerkte, »Tee ist ein Zauberwort. Ich reise, wenn ich Tee sage. Wie kann ich Ihnen dienen?«
Und da verliebte sich Marietta in Jakob, der auf einem Wort reisen konnte.
Damals mochte Jakob seinen Laden vor allem, wenn es im Sommer regnete. Dann stand er manchmal an langen, leeren Vormittagen inmitten der schönen Dinge, die er bei sich versammelt hatte. Teeschalen aus fast durchsichtigem Porzellan, kleine Bambusbesen zum Schlagen des grünen Tees und schwere Messingmörser, um Ziegeltee zu stoßen. Nichts störte die Düfte, weil die Luft klar und kühl war und nur ein wenig nach Regen roch. An solchen Tagen war es eine wunderbare Sache, ein Teehändler zu sein. An so einem Tag betrat Luise den Laden. Sie schüttelte das nasse, kurze Haar, bevor sie sich von Jakob begrüßen ließ. Sie war eine seiner ältesten Freundinnen, und obwohl sie sich selten sahen, verstanden sie sich auch nach langen Pausen immer ohne die Verlegenheit, die Zeit zwischen manche Freundschaften legen kann. Sie war ein wenig jünger als Jakob und von spröder, schwieriger Schönheit; vielen Männern zu kühl und zu klug. Um allen anderen zuvorzukommen, war sie sich selbst gegenüber brutal ehrlich und verlangte das von allen anderen auch. Besonders von denen, die sie liebte.
»Es gibt ein Problem«, sagte sie.
Jakob lächelte. Er glaubte, das Problem zu kennen.
»Bist du verliebt, schöne Luise?« fragte er.
»Ein bißchen«, sagte Luise, nahm halb verlegen das gläserne Teesieb in die Hand und spielte geistesabwesend damit. Manchmal – sehr selten – war sie zu sich selbst nicht ganz ehrlich.
»Ein bißchen viel«, sagte Jakob und legte den Kopf schief, »wer ist es?«
»Ich kenne ihn schon ziemlich lange«, sagte Luise und spielte mit dem Sieb.
»Ich auch?«
»Du auch. Sehr gut sogar.«
»Luise!« sagte Jakob streng. »Du willst doch darüber sprechen. Sag mir einfach den Namen und leg dieses blöde Teesieb weg. Ständig spielt jeder damit. Hermann hat schon zwei davon zerstört.«
Das Teesieb zersprang.
Jakob drehte sich um. Er sah das Teesieb an. Er sah Luise an.
»Ach so«, sagte er leise, »ach so. Hermann …«
Sie nickte. »Ich sage ja, es gibt ein Problem.«
»Willst du Tee?« fragte Jakob nach einer kleinen Stille und lächelte Luise schief an. Als sie nickte, zitierte er: »›Man trinkt Tee, damit man den Lärm der Welt vergißt.‹ Laß mich sehen, ob ich den richtigen für dich finde.«
Draußen regnete es stetig, der Regen hatte alles beschleunigt. Die wenigen Menschen vor den Schaufenstern eilten, die Autos hasteten zischend die überschwemmte Straße entlang, als könnte man in ihnen naß werden, nur im Haus gegenüber stand jemand am Fenster eines Büros und sah verloren hinaus. Nie zuvor war Luise aufgefallen, wie sehr Jakobs Laden dem Inneren eines Schiffes glich. Die langen, schmalen, glänzend lackierten Dielen verstärkten diesen Eindruck, weil der Boden sich leicht wölbte. Die Teekisten, die lange Theke, das Messing – durch den Regen von der Welt abgeschlossen, war es ein wenig so, als wäre man auf eine Reise gegangen.
»Regentee?« überlegte Jakob laut, als er vor seinen Regalen stand. »Nein. Zu dünn. Regentee«, wandte er sich an Luise, »wird während der Monsunzeit geerntet. Sehr hell und nicht sehr ergiebig. Aber für heute …«, er deutete nach draußen. Luise lächelte ein wenig. Über ihr immer noch feuchtes Haar zog für einen Augenblick ein feuchtwarmer, tropischer Hauch und ihre Kopfhaut zog sich zusammen.
»Nein«, sagte Jakob nachdenklich, »für die Liebenden braucht man einen grünen Tee. Oder blau?«
Luise hatte sich inzwischen gesetzt und sah Jakob überrascht an. »Blau?«
»Im letzten Jahrhundert«, erzählte Jakob auf der Leiter stehend, während er weiter die Tees in den Hochregalen durchging, »hieß es in England auf einmal, grüner Tee sei ungesund. Und da begann man in China, den Tee blau zu färben. Drei Teile Berliner Blau und vier Teile gebrannten Gips fein gestoßen über den röstenden Tee gegeben, schon fertig. Die Arbeiter, die damals den Tee mischten, kamen immer mit blauen Händen nach Hause.«
Er klopfte nachdenklich an eine Dose. Luise meinte auf einmal einen klaren, herb-grünen Geruch wie von frisch röstendem Tee zu riechen.
»Karawanentee?« fragte sich Jakob. »Ach ja. Für unsere verliebte Revolutionärin Tee aus den Petersburger Handelshütten. Wenn man eine lange Winterzeit überstehen muß.«
Es schien, als ob in Jakobs kühlem Laden plötzlich Schneeluft wäre.
Mit ein paar raschen Handgriffen hatte er weiße Probiertassen aus dem Regal geholt, schnell war Wasser zum Kochen gebracht und wieder abgekühlt worden, die Teemenge abgemessen und der Tee aufgegossen.
»Und«, sagte Jakob, als er eine zweite Dose nahm, »Scented Poochong. Ein besonders feiner Tee. Mit Jasminblüten getrocknet. Der ist«, er sah sie lächelnd mit halbem Ernst an, »um das Spröde weich zu machen.«
Luise trank abwechselnd beide Tees. Es regnete immer noch. Sie hätte sich nicht gewundert, wenn der Laden leicht gerollt hätte, wie ein Schiff. Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie mußte halblaut lachen.
»Ja?« fragte Jakob, der schweigend sortiert hatte.
»Und welchen Tee würdest du Hermann geben?«
Jakob lächelte breit. »Billigen.«
Luise lachte. Und dachte für einen Augenblick an nichts anderes.
Es gab damals niemand anderen in dieser Stadt, der Tee so verkaufte wie Jakob.
Aber jetzt genügte es ihm nicht mehr, mit Wohlgerüchen zu handeln. Düfte wie Farben in seinem Laden wirbeln zu lassen. Und auch Wörter genügten nicht mehr.
Als Jakob an diesem tropfenden Septemberabend nach Hause ging, dachte er über seine Freunde Hermann und Luise nach. Luise liebte Hermann – die schöne, kluge Luise. Aber Hermann, der kluge, witzige Hermann, liebte nicht Luise. Das war alles. Wie konnte es sein, daß daran das Glück eines Menschen hing? Wie kann es sein, dachte Jakob, während er gegen den unruhigen, feuchten Wind anging, daß Verliebtheit so unglücklich macht? Warum ist es so, daß man sein ganzes Leben schön zusammenfaltet und es gläubig und vertrauensvoll dem Nächsten in die Hand gibt und der sagt höflich danke schön und legt es in die Schublade zu den anderen? Was ist an der Liebe, am anderen?
Jakobs Gedanken schweiften von Luise ab und er dachte an seine Träume. Wonach, fragte er sich, sehne ich mich eigentlich?
Ich fühle gar nichts, dachte er verwundert, und als er das dachte, war es, als zerbräche etwas – so wie das Teesieb, beiläufig und nicht allzu laut.
Ich fühle nichts, dachte er erstaunt und begann, in seinem Inneren zu kramen:
Marietta. Wenn er ehrlich war, konnte er nicht mehr sagen, ob es Liebe oder nur noch Gewohnheit war.
Hermann. Ist ein Freund nicht wie der andere?
Seine Tochter. Die Liebe zu den Kindern ist die Verantwortung eines Ehrenmannes.
Ehre. In dieser Zeit? Heute? Im Auto oder vor dem Computer?
Gott. Der Glaube ist auf dem Weg verlorengegangen.
In Jakob stieg etwas Bitteres hoch. Wenn alter Tee zu lange zieht, dann wird er häßlich braun und verliert allen Geschmack und es bleibt nur die Bitterkeit der Gerbsäure, die den Mund schal und trocken macht.
»Ich fühle nichts«, sagte Jakob halblaut und ging schneller, »ich fühle nichts«, wiederholte er, während er durch den schwachen Nieselregen ging. Und plötzlich schrie er, so laut er konnte: »Ich fühle nichts. Gott! Ich fühle nichts!«
Er brüllte die drei Worte in die abendliche Stadt, aber kein Fenster ging auf, so daß es war, als hätten sich die Bewohner geeinigt, Jakobs Schreien nicht zu hören.
Er hörte auf, weil er sich plötzlich unehrlich vorkam: Er war ja gar nicht wirklich verzweifelt. Er war bloß leer. Ein wenig verlegen wurde er still und ging rasch weiter. Als er vor seinem Haus stand, zögerte er, dann ging er weiter und zum Fluß hinunter. Da stand er auf der Brücke und sah ins Wasser.
In den Träumen fühlte er. Nur im Traum fühlte er mit tiefer Klarheit ungemischte Gefühle:
Als Dreizehnjähriger hatte er geträumt, sein Vater sei gestorben. Mit tränenüberströmtem Gesicht war er aufgewacht.
Mit acht hatte er von dem Zirkusmädchen geträumt, dessen Gesicht im Traum nicht erschien, und hatte sie geliebt, so geliebt.
Dann hatte er nicht mehr geträumt, bis er dreißig war.
Mit dreißig Jahren hatte er von der Zigeunerin auf dem Bahnhof geträumt und sie verzweifelt geliebt. Jakob wußte nicht, warum er sie verzweifelt liebte, aber das war es eben: eine so tiefe Liebe, wie er sie noch nie gefühlt hatte; und so verzweifelt, weil sie nicht beieinander sein konnten.
Am Tage spürte er nichts davon.
Ich weiß nicht einmal, dachte Jakob, ob ich mich wirklich danach sehne. Vielleicht will ich bloß wieder fühlen, daß ich mich überhaupt nach etwas sehne. Er spuckte verächtlich ins Wasser.
»Jakob«, sagte er abfällig zu sich selbst, »du bist satt und hättest gern Hunger. Armer Jakob.«