Arktischer Poker

Ein rauer arktischer Wind wehte über die kleine Insel Stumpbjergen. Es klang, als würde Sandpapier über die karge Felslandschaft hinwegschleifen. Stumpbjergen lag wie ein versteinerter Pottwal im arktischen Ozean, nördlich des Polarkreises. Die Küste war zerklüftet und von Fjorden durchsetzt. Der Großteil der Insel war von Gletschern bedeckt. Nur tief in ihrem Inneren brodelte es.

Es war 12 Uhr Mittag und stockdunkel. Auf Stumpbjergen war Polarnacht. Drei Monate lang wagte sich die Sonne nicht über den Horizont. Es gab noch nicht einmal eine Dämmerung.

Es war herrlich. Das fand zumindest Zezcilia Morta Dentiba Tepes.

Zezcilia Morta Dentiba Tepes war 25 445 Jahre alt. Sie war die Mutter von Mihai Tepes, die Schwiegermutter von Elvira Tepes und die Oma von Daka und Silvania Tepes.

Und sie war ein Vampir.

Oma Zezci, wie sie von den Vampirschwestern genannt wurde, flog gerne in der Welt herum. Dabei vergaß sie die Lieben daheim nie und schickte regelmäßig Postkarten. Vor ein paar Nächten war Oma Zezci auf Stumpbjergen gelandet. Sie liebte die endlosen schwarzen Polarnächte. Und das endlose Pokerspielen mit Blodtørst.

Der Vampyr Blodtørst war der einzige Bewohner von Stumpbjergen. Ansonsten verirrten sich nur Eisbären, Robben, Wale und Eismöwen auf die Insel. Menschen mochten das arktische Klima nicht sonderlich. Meistens schneite es auf Stumpbjergen. Wenn es nicht schneite, regnete es. Und wenn es weder schneite noch regnete, hüllte ein dichter Nebel die Insel ein wie eine Duschhaube.

Blodtørst und Oma Zezci kümmerte es nicht, ob es regnete, schneite oder die Insel in einer Nebelsuppe versank. Sie saßen im Trockenen. Vor 1677 Jahren hatte Blodtørst eine Höhle auf der Insel bezogen. In bester Lage. Die Höhle reichte weit ins Innere der Insel. Darin war es trocken, das ganze Jahr über dunkel und warm. Denn 4000 Meter unter dem Meeresspiegel, direkt unter der Höhle, brodelte ein kleiner Vulkan. Er war Blodtørsts Heizung.

Oma Zezci und Blodtørst saßen auf Eisbärenfellen an einem Sarg. Oma Zezci auf der einen Seite, Blodtørst auf der anderen. Das Holz des Sargs schimmerte dunkel im Kerzenschein. Auf dem Sargdeckel lag ein Stapel Spielkarten.

Blodtørst musterte seine Mitspielerin über den Rand der Karten, die er in der Hand hielt. Er trug einen Helm wie ein Wikinger. In seinem rotbraunen langen Bart blitzten zwei gewaltige Eckzähne auf. Seine krausen Haare hatte er mit Möwenfedern zu zwei Zöpfen gebunden. „Was ist? Gehst du mit?“, fragte er. Seine Stimme hallte durch die Höhle wie ein Donnergrollen.

Oma Zezci spitzte den Mund und musterte ihr Blatt. Dann schielte sie darüber hinweg zu Blodtørst. Ihre dunkelroten Augen glänzten wie frische Bluttropfen. „Ich erhöhe um fünf Chips“, sagte sie, griff mit der knochigen blassen Hand nach einem Chipsstapel und hob fünf ab. Es waren Chips mit der Geschmacksrichtung „Salz & Blut“. Oma Zezci leckte sich die Finger ab, nachdem sie die Chips zur Mitte des Sargdeckels geschoben hatte.

Blodtørst zog mehrmals abwechselnd die linke und die rechte Augenbraue hoch. Über seine Stirn glitt eine Welle des Unglaubens. „Bist du dir sicher, Zezcilia?“

„So sicher wie der Donner nach dem Blitz kommt“, erwiderte Oma Zezci. Der Schönheitsfleck auf ihrer Wange zuckte nur ganz kurz.

Abermals starrte Blodtørst auf die Karten in seiner Hand. Er schob den eisernen Helm nach hinten und kratzte sich an der Stirn. Er hatte ein gutes Blatt. Er war sich sicher, dass er diese Runde gewinnen würde. So wie alle Runden. Fast alle. Er musste allerdings zugeben, dass Zezcilia Morta Dentiba Tepes eine ehrwürdige Gegnerin war.

Blodtørst hatte schon viele Pokerrunden hinter sich. Er hatte gegen Vampire des Nordens, Südens, Ostens und Westens gespielt. Gegen tieffliegende Vampire und gegen schlängelfliegende. Einmal hatte er gegen einen Eisbären gespielt. Und einmal gegen einen Menschen. Aber beide waren am Ende der Pokerrunde nicht mehr ganz bei der Sache gewesen. Dabei hatte er nur mal kurz an ihnen genippt.

Zezcilia Morta Dentiba Tepes war da schon ein anderes Kaliber. Bei ihr musste man auf der Hut sein. Mit ihr machte das Pokern Spaß. Natürlich nur, wenn sie nicht zu oft gewann. Und sie hatte an diesem finsteren Polartag schon viel zu oft gewonnen, fand Blodtørst. Sie konnte unmöglich schon wieder ein besseres Blatt haben als er. Er war der unangefochtene Vampir-König des Pokers. Er würde diese Runde gewinnen, so wahr er Blodtørst hieß!

„Na schön, meine Liebe“, sagte er und griff zu seinem Chipsstapel. „Ich gehe mit.“ Er hob fünf Chips ab (Geschmacksrichtung „Blutwurst“) und schob sie zur Mitte des Sargdeckels. Dann sah er seine Mitspielerin herausfordernd an.

Oma Zezci zupfte an der kleinen roten Fliege, die sie um den hochgeschlossenen Blusenkragen gebunden hatte. Sie hatte ein dunkelblaues Kleid an und um den linken Arm hing ein schwarzer Regenschirm. Wäre sie nicht so blass gewesen und hätte sie nicht so lange, spitze Eckzähne gehabt, hätte man sie für Mary Poppins halten können. Oma Zezci wackelte einen Moment unentschlossen mit den schneeweißen Fingern. Dann wanderten ihre Finger zum Chipsstapel. „Ich erhöhe um zehn Chips!“

„Um ZEHN?“ Beinahe hätte Blodtørst seine Karten fallen lassen. Um so viele Chips, wie jetzt auf dem Sarg lagen, hatte er noch nie in seinem Leben gespielt. Nicht nur das. Die Chips, um die er heute mit Zezcilia spielte, waren auch noch seine beiden Lieblingsgeschmacksrichtungen. Bei dem Gedanken daran, dass er gleich alle Chipsstapel einsacken würde, sammelte sich ein Speicheltropfen an seinem linken Eckzahn.

Allerdings … Zezcilia Morta Dentiba Tepes musste wirklich ein Traumblatt haben, wenn sie so hoch pokerte. Was, wenn nicht er, sondern sie alle Chips einsackte? Nein, das durfte, das konnte, das würde nicht passieren!

Blodtørst musterte die Karten in seiner Hand. Sie waren gut. Aber waren sie gut genug? Er zögerte einen Moment, dann verkündete er: „Ich nehme noch eine Karte.“ Er legte eine Karte ab und nahm eine neue vom Stapel. Vorsichtig hob er die Karte hoch. Als er erkannte, was er gezogen hatte, grinste er so breit, dass man sein braunes Zahnfleisch sehen konnte. Es war das Herzass. Genau die Karte, die ihm zum großen Pokerblatt „Full Moon“ noch gefehlt hatte. Mit diesem Blatt konnte Blodtørst jetzt nur noch gewinnen. Es bestand kein Zweifel mehr: Er war der größte Poker-Vampir aller Zeiten, er würde all die köstlichen Chips einsacken und Zezcilia würde leer ausgehen. Vielleicht, überlegte Blodtørst, würde er seiner Mitspielerin einen Trost-Chip gönnen. Aber nur vielleicht.

„Ich verdreifache meinen gesamten Einsatz“, sagte Blodtørst und schob einen gewaltigen Berg aus Chips über den Sargdeckel.

„Eine hervorragende Idee, mein lieber Blodtørst“, sagte Oma Zezci.

„Für dich, unübertroffen modrige Zezcilia, wäre es eine hervorragende Idee, jetzt zu passen“, erwiderte der Vampyr. „Ich will schließlich nicht, dass du noch deinen letzten Chip verspielst, beleidigt bist und nie wieder auf Stumpbjergen landest. Also, decken wir auf?“

Oma Zezci hielt sich ihr Blatt wie einen Fächer vors Gesicht. Dahinter lächelte sie genüsslich. Einen Moment erwiderte sie nichts. Doch sie schien nicht zu zögern, vielmehr wirkte sie, als wolle sie die Sekunden der Vorfreude auskosten. „Ganz wie du willst“, sagte sie schließlich und legte die Karten entschlossen auf den Tisch. Sie sah ihren Pokerpartner triumphierend an. „Ein Prunk-Patt. Das höchste Pokerblatt.“

Blodtørst klappte erst der Mund auf, dann klappten seine Karten auf den Sargdeckel. „Nö, oder?“, sagte er dumpf.

„Und damit“, fuhr Oma Zezci ungerührt fort, „habe ich diese wundervolle kleine Pokerrunde gewonnen.“ Sie erhob sich, spannte den schwarzen Regenschirm auf, drehte ihn um und schob alle Chips, die auf dem Sarg lagen, in den Schirm. Dann gab sie Blodtørst eine Kopfnuss, lächelte, sagte „Datiboi und Azdio. Es war mir ein mordsmodriges Vergnügen“ und schwebte auf den Höhlenausgang zu.

Alles ging ratzfatz. Blodtørst hatte das Gefühl, als würde vor seinen Augen ein Film im schnellen Vorlauf abgespielt. Er sah Zezcilia Morta Dentiba Tepes nach, dann sah er auf die Karten, die sie auf dem Sargdeckel abgelegt hatte. Tatsache. Ein Prunk-Patt. Nicht nur das höchste, sondern auch das seltenste Pokerblatt. Die Wahrscheinlichkeit, ein Prunk-Patt zu haben, betrug 0,000 133 Prozent. Es war also nahezu unmöglich. Dennoch, da lagen sie vor ihm, die Karten eines Prunk-Patts: eine Herzzehn, ein Herzbube, eine Herzdame, ein Herzkönig und ein Herzass.

EIN HERZASS?!?

Hastig griff Blodtørst nach seinen Karten. Da war es, sein Herzass. Wie konnte seine Mitspielerin da auch ein Herzass haben? Es gab nur eine Erklärung.

„Zezcilia Morta Dentiba Tepes! Komm sofort zurück, du lausige, ranzige, fliegendrecklutschende Falschspielerin!“, schrie Blodtørst und schoss durch die Höhle auf den Ausgang zu.

Doch Oma Zezci war nicht nur eine gewiefte Falschspielerin, sie war auch noch ungeheuer schnell für ihr Alter. Als Blodtørst den Höhlenausgang erreichte, schwebte sie bereits hoch oben am Himmel. In der Dunkelheit erkannte der Vampyr gerade so, dass sie den aufgespannten Schirm mit den Chips über den linken Arm gehängt hatte und den rechten Arm mit geballter Hand gen Süden ausstreckte. „Skyzati, mein lieber Blodtørst“, rief sie nach unten. „Aber ich muss dringend zu meinen Enkelinnen nach Bindburg. Sie feiern Geburtstag. Da muss ich zusehen, dass die Chips rechtzeitig zur Party dort sind. Azdio!“

Dann legte sie den Turbogang ein und schoss wie eine Rakete in die Wolken. Eine Sekunde später war der Himmel über Stumpbjergen nur noch schwarz.

Im ersten Moment wollte Blodtørst seiner miesen Mitspielerin nachfliegen. Sie hatte ihn betrogen. Sie hatte ihn um seine ganzen Blutwurst-Chips gebracht. Sie hatte seine Ehrlichkeit schamlos ausgenutzt. Doch dann hatte er eine bessere Idee. „Na warte, Zezcilia Morta Dentiba Tepes. Du kommst mir nicht so einfach ungeschoren davon. Nie wieder wirst du es wagen, mich, den großen Blodtørst, zu betrügen. Denn meine Rache wird erbarmungslos und stürmisch sein. Die Rache eines Vampyrs der Arktis.“

Wie ein Beifall erklang ein Grollen aus den Tiefen der Insel Stumpbjergen.

Krise auf dem Schulklo

Silvania, komm endlich raus!“ Daka wummerte mit der Faust an die Klotür.

Helene schielte zur Uhr, die über dem langen Spiegel hing. Es hatte schon zum zweiten Mal geklingelt. Seit zehn Minuten standen Daka und Helene auf dem Schulklo vor der hintersten Tür und redeten auf Silvania ein, die sich im Klo eingeschlossen und verschanzt hatte.

„Nici doi viati!“, kam die Antwort vom Klo. Es klang, als hätte Silvania den Kopf in die Kloschüssel gesteckt.

„Sie redet Vampwanisch. Es muss sehr ernst sein“, stellte Daka fest.

„Silvania, der Graup macht uns zu Knäckebrot, wenn wir zu spät kommen“, sagte Helene.

„Lieber Knäckebrot als Foliba“, kam es verheult aus der Klokabine zurück.

„Foliba?“ Helene sah Daka Hilfe suchend an. „Wovon redet deine Schwester?“

Daka starrte besorgt auf die Klotür. „Jetzt redet sie nicht mal mehr Vampwanisch, sondern in einer Fantasiesprache.“

„Macht, was ihr wollt“, schnaufte Silvania. „Mich kriegen hier keine zehn Vampire raus.“

„Ach komm schon, Silvania, so schlimm kann es gar nicht sein“, erwiderte Daka. „Ich gehe schließlich auch mit meinem Pickelkreuz in den Unterricht.“

Helene warf einen kurzen Blick auf Dakas Stirn. Da waren sie. Zwei Linien aus dicken, roten, fiesen Pickeln, die mitten auf der Stirn ein Kreuz bildeten. Es sah wirklich total abartig und schaurig abscheulich aus, fand Helene.

„Glaub mir, Daka, es kann viel viel viel schlimmer sein“, sagte Silvania in der Klokabine. „Ich werde es euch beweisen.“ Sie holte tief Luft.

Daka und Helene hörten, wie Silvania an die Klotür trat und das Schloss aufmachte. Es klackte kurz. Dann ging die Türklinke langsam nach unten. Die Tür öffnete sich wie in Zeitlupe. Daka und Helene starrten gebannt auf den Spalt, der immer größer wurde. Zuerst erschien Silvanias linker Schuh, ein cremefarbener Stiefel, der an der Seite lauter kleine Röschen als Knöpfe hatte. Dann war ihr dunkelrotes, barockes Kleid zu sehen, das in der Taille mit einem Gürtel zusammengehalten wurde, der aussah, als würde er aus Haifischzähnen bestehen. Schließlich steckte Silvania den Kopf mit ihrem rotbraunen Haarschopf durch den Türspalt.

Helene japste.

„Schlotz zoppo!“, rief Daka.

Silvania zeigte mit dem Finger auf ihre Oberlippe, die von einem Mundwinkel bis zum anderen mit dichten, rotbraunen Haaren bedeckt war, und sagte: „Foliba. Frauenoberlippenbart.“

Helene verzog das Gesicht. „Mann, ist das widerlich.“

„Du siehst echt bescheuert aus“, stellte Daka fest.

„Datiboi auch!“, presste Silvania hervor, bevor sich ihre Augen mit Tränen füllten.

Daka und Helene waren mit zwei schnellen Schritten bei ihr, bevor sie sich wieder ins Klo einschließen konnte. Helene legte den Arm um ihre halbvampirische Freundin.

Daka spuckte dreimal vorsichtig auf den Foliba ihrer Schwester. In ihrem transsilvanischen Heimatort war das ein bewährter Brauch gegen Schmerzen. Vielleicht half dreimal spucken auch gegen Bartwuchs.

Silvania tupfte sich mit einem Taschentuch Dakas gut gemeinte Spucke vom Foliba.

„Jetzt, so aus der Nähe betrachtet, finde ich es gar nicht mehr so schlimm“, sagte Helene.

Daka runzelte die Stirn und wollte widersprechen. Als ihr Helene einen beschwörenden Blick zuwarf, sagte sie jedoch: „Wenn man sich erst mal daran gewöhnt hat, geht es. Eigentlich steht dir ein Schnauzbart ganz gut. Er passt gut zu deinen … deinen Wangenknochen.“

Silvania sah ihre Schwester zweifelnd an.

„Und sieh doch mal die praktische Seite“, fuhr Daka fort, die jetzt richtig warmlief. „Ein Schnauzer hält warm und spart bei Schnupfen so manches Taschentuch.“

Silvania verzog angewidert den Mund.

„Der Schnauzbart hebt dich auf jeden Fall von der grauen Masse ab“, sagte Helene.

Silvania schielte niedergeschlagen zu ihrer besten und einzigen Freundin. Obwohl Silvania genau wie ihre Schwester ein Halbvampir war, hob sie nicht gerne ab. Sie wollte sich auch nicht gerne von der grauen Masse abheben. Im Gegenteil, sie wollte in ihr untertauchen wie ein Wassertropfen im Meer.

„Weißt du, wie du jetzt aussiehst?“, fragte Daka.

Silvania machte ein Gesicht, als ob sie das lieber gar nicht wissen wollte. Was Daka allerdings nicht störte.

„Wie einer der drei Musketiere“, fuhr Daka fort. „Und das waren alles zensatoi futzi Helden.“ Daka zupfte spaßhaft an einem Barthaar ihrer Schwester.

Silvania schlug Dakas Hand weg, „Ja, aber das waren alles Männer!“

Daka wiegte den Kopf. „Bist du dir sicher?“

„Ich kann so unmöglich den Klassenraum betreten“, sagte Silvania.

„Wir könnten dir aus der Drogerie Rasierzeug holen“, schlug Helene vor.

„Onkel Vlad hat mal erzählt, sein Bart sei erst richtig kräftig gewachsen, nachdem er ihn rasiert hatte“, warf Daka ein.

„Dann stülpen wir dir eben eine Papiertüte über den Kopf und machen zwei Löcher für die Augen rein“, sagte Helene.

„Und du meinst, das fällt weniger auf als mein Foliba?“ Silvania sah Helene zweifelnd an.

„Ich hab’s. Wir holen uns von der Schulkrankenschwester einen Verband, wickeln den über den Foliba und sagen, du … hast dir beim Pfeifen die Lippe verstaucht“, sagte Daka.

„Wenn schon, dann beim Knutschen“, meinte Helene.

Silvania schüttelte den Kopf. „Ich bleibe einfach auf dem Klo, bis der Foliba wieder weg ist. Die Achselhaare waren schließlich gestern auch nach ein paar Stunden verschwunden.“

„Und mein Mega-Eckzahn auch“, stimmte Daka zu.

Seit ein paar Tagen gingen seltsame Verwandlungen mit den Vampirschwestern vor sich. Als Halbvampire waren sie schon einiges gewohnt. Ihr Vater, Mihai Tepes, war ein Vollblut-Vampir. Ihre Mutter, Elvira Tepes, war ein Vollzeit-Mensch. Aus der Liebe, die zwischen ihnen vor vielen Jahren in den Karpaten erblüht war, waren die Zwillinge Silvania und Daka entsprungen. Die ersten zwölf Lebensjahre hatten sie in Transsilvanien verbracht. Dann waren sie nach Bindburg, der Heimatstadt ihrer Mutter, gezogen. Sie führten also nicht nur ein Leben zwischen Menschsein und Vampirsein, sondern auch zwischen der alten und der neuen Heimat.

Doch was in den letzten Tagen mit ihnen geschehen war, war befremdlicher und schräger als alles, was bisher in ihrem halbvampirischen Leben passiert war. Bei Daka hatte alles ganz harmlos mit einem einzelnen Pickel auf der Stirn angefangen. Es war Dakas erster Pickel gewesen. Offenbar war es ihm auf Dakas schneeweißer Stirn zu langweilig gewesen und er hatte sich mit ein paar Pickelkumpeln verabredet, die auch prompt am nächsten Morgen links und rechts von ihm erschienen waren. Die Pickel fühlten sich auf Dakas Stirn so wohl, dass dort schon am Nachmittag eine regelrechte Pickel-Party stieg, zu der weitere Pickel erschienen, die erst zusammen eine Polonaise tanzten und dann mit weiteren Pickeln ein Kreuz bildeten. Das Pickelkreuz war so gut sichtbar, dass eine alte Dame Daka bereits für einen Sanitäter gehalten hatte.

Während auf Dakas Stirn die Pickelparty tobte, hatten sich gestern beim Aufstehen, als Silvania sich streckte, erste zarte Sprösslinge unter ihren Armen gezeigt. Die Härchen waren rotbraun, ganz fein und kaum zu erkennen. Und daher, wie Silvania zunächst leichtsinnig dachte, kein Grund zur Beunruhigung.

In den ersten beiden Stunden (Mathe und Physik) wuchsen Silvanias Achselhaare um zehn Zentimeter. In den nächsten beiden Stunden (Deutsch und Geo) wuchsen sie weitere zwölf Zentimeter. Als es nach dem Geschichtsunterricht endlich zum Schulende läutete, kamen Silvania die Achselhaare schon zu den Ärmeln heraus. Und das, obwohl sie ein langärmliges Oberteil trug. Auf dem Heimweg bildeten die Achselhaare Beulen unter dem Oberteil. Es sah aus, als wären die Schulterpolster nach unten gerutscht.

Gerade als Daka den Heckenschneider holen und ihre Schwester vom Rapunzelachselhaar befreien wollte, verschwanden die Haare wieder. Seitdem waren sie nicht wieder aufgetaucht.

Kaum waren Silvanias Achselurwälder weg, bekam Daka Zahnschmerzen. Ihr linker oberer Eckzahn glühte, ziepte und wummerte. Dann begann er zu wachsen. Zunächst freute sich Daka und spießte zum Spaß mit dem Eckzahn allerhand Lebensmittel wie einen Apfel, eine Bockwurst und ein Brötchen auf. Sie machte sich sogar im Haushalt nützlich und half ihrer Mutter beim Öffnen einer Bohnenbüchse. Doch als Daka der Eckzahn bis über das Kinn wuchs und sie sich damit am Hals kratzen konnte, wurde ihr die Sache langsam unheimlich. Wäre der rechte Eckzahn wenigstens mitgewachsen. Aber so sah Daka aus, als hätte sie sich das Horn eines Rhinozerosses in den Mund gesteckt. Silvania versuchte Dakas wild wuchernden Eckzahn mit einer Feile zu kürzen, doch vergebens.

Je länger Dakas Eckzahn wurde, desto schwerer wurde er auch. Dakas Kopf kippte ständig nach links. Als ihr der Zahn bis zur Brust reichte, begann er sich auch noch zu kringeln. Jetzt sah Daka aus wie ein Mammut mit einem einzelnen Stoßzahn. Dass Silvania die Lage schamlos ausnutzte und Dakas Mammut-Eckzahn zum Aufhängen ihrer Ketten benutzte, fand Daka gar nicht lustig. Gerade, als Daka und Silvania ernsthaft überlegten, ob sie zu Helenes Papa gehen sollten, der Zahnarzt war, schrumpfte der Eckzahn wieder, bis er binnen Minuten seine Normalgröße erreicht hatte.

Neben diesen äußerlichen Veränderungen wurden die Vampirschwestern von Heißhungerattacken heimgesucht. Mal hatten sie Heißhunger auf Schokolade, mal auf Blut, und Silvania hatte einmal sogar Heißhunger auf marinierte Seepferdchen.

Außerdem spielten ihre Stimmbänder verrückt. Silvania redete einen ganzen Vormittag lang wie ein Donkosake. Nicht russisch, aber so tief. Daka dagegen piepste drei Stunden lang wie eine Opernsängerin, die ein Cello auf den Fuß bekommen hatte.

Bis auf die Kreuzpickel auf Dakas Stirn verschwanden all diese merkwürdigen Erscheinungen zum Glück nach ein paar Stunden wieder. Silvania hoffte, mit dem Foliba würde es genauso sein.

„Ropscho“, sagte Daka. (Das war auch Vampwanisch und hieß so viel wie „okay“ oder „na gut“.) „Dann bleibst du eben auf dem Klo, bis der Foliba verschwunden ist.“

„Falls er nicht weggeht, holen wir dich nach der letzten Stunde ab und bringen einen Verband mit“, fügte Helene hinzu.

Silvania nickte, schielte traurig auf ihren Foliba und schloss sich wieder im Klo ein.

„Hier“, sagte Daka und schob das erstbeste Buch unter der Klotür durch, das sie in ihrer Tasche finden konnte, „hast du was zum Lesen.“

Silvania nahm es in die Hand. Es war Dakas Chemiebuch. „Azdio“, sagte sie leise. Sie klang wie eine Königstochter, die eine böse Hexe für die nächsten hundert Jahre aufs Schulklo verbannt hatte. Nur ein mutiger Prinz, der weder Mädchengekreische noch Urinstein fürchtete, konnte sie retten.

Während Silvania mit einem Oberlippenbart von einem Prinzen ohne Oberlippenbart träumte, eilten Daka und Helene aus dem Mädchenklo und zum Klassenraum.

Der einsame Gipfel

Martin Graup war seit sechs Jahren Lehrer für Geografie und Geschichte an der Gotthold-Ephraim-Lessing-Schule. Er mochte an seinem Job die Regelmäßigkeit, die Sommerferien und seine Kollegin Frau Renneberg. Er mochte sogar ein oder zwei Schüler. Was er nicht mochte, waren Klassenfahrten, Unpünktlichkeit und den Kaffee im Lehrerzimmer. Deswegen brachte er meistens von zu Hause seine eigene kleine Thermostasse mit. Auf der Tasse war ein Bild von einer Katze und einem Hund, die miteinander kuschelten. Seine Oma hatte sie ihm zu Weihnachten geschenkt.

Martin Graup hatte den Schülern soeben eine seiner Lieblingsaufgaben erteilt: stilles Lesen. Gerade wollte er einen Schluck von seiner Thermostasse nehmen, als es an der Tür klopfte. Er verzog das Gesicht. Doch dann fiel ihm ein, dass es auch seine Kollegin Renneberg sein könnte. „Herein!“, rief er, steckte den Daumen in die Gürtelschlaufe seiner Jeans und wippte leicht mit den Knien.

Die Tür ging auf und zwei Mädchen traten ins Klassenzimmer. Ein Mädchen war blond, hatte strahlend blaue Augen und lächelte wie eine brave Zahnarzttochter. Das Einzige, was nicht zu dem Lächeln passte, waren ihre Arme, auf die sie lauter Spinnen, Totenköpfe und Zombies gemalt hatte.