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Inhaltsverzeichnis








































































































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Walter Rothschild

Geboren 1954, Studium der Theologie und Pädagogik (Cambridge), Rabbiner (Leo Baeck College, London). Als Rabbiner in Berlin, München und Köln tätig.

Frage 1

A – wie Anfang:
Wer sind eigentlich
die Juden?

Es gibt eine einfache Antwort auf diese Frage, und die ist: Das weiß niemand.

Es gibt viele Definitionen dafür, wer jüdisch ist, und viele von ihnen sind widersprüchlich. Daher werden wir hier nur kurz einige erforschen.

Erstens – Ist es eine Religion? Falls ja, dann sind die Juden diejenigen, die an die Religion glauben, die als »Judentum« bekannt ist – »Jahadut«. Wenn es auch verschiedene Formen dieser Religion gibt, so teilen sie im wesentlichen den Glauben an Den Einen Gott, d. h. Gott ist einzig und allumfassend, Gott ist der Schöpfer aller Dinge, und es gibt keine Macht im Weltall außer Gott. Gott hat ein besonderes Volk auserwählt und einen besonderen Bund mit ihm geschlossen, durch den es zusätzliche Verantwortlichkeiten trägt, festgelegt als Gebote (Mizwot), von denen die meisten für die übrige Welt nicht verpflichtend sind. Diese definieren die Art und Weise des Gottesdienstes, einen Kalender mit festgelegten Tagen von Ruhe und Festen, besondere Regeln für Nahrung, für Heirat und Beziehungen, für die Behandlung von Tieren und Landwirtschaft, legen ein besonderes Verhältnis zu Israel und Jerusalem zugrunde, und daneben noch viele andere Dinge. Gemäß dieser Definition ist ein Jude jemand, der glaubt.

Aber – es gibt viele, die das nicht tun und doch immer noch Juden sind!

 

Zweitens – ist es eine bestimmte Gesellschaftsgruppe? Falls ja, dann sind die Juden diejenigen, die einer bestimmten jüdischen Gemeinschaft angehören, in gewissen Städten oder Stadtteilen, und die ihr Leben gemäß den oben beschriebenen Mizwot führen. Sie üben Mizwot gegenüber anderen Menschen aus, sie halten den → Sabbat und die Nahrungsgesetze ein, sie kleiden sich in Übereinstimmung mit einer strengen Auslegung der Regeln von Bescheidenheit – und gemäß dieser Definition ist ein Jude jemand, der das tut.

Aber – es gibt viele, die das nicht tun und doch immer noch Juden sind!

 

Drittens – ist es eine Rasse oder eine Volksgruppe? Falls ja, dann ist ein Jude jemand, der in eine jüdische Familie hineingeboren wird und »jüdische Gene« in sich trägt; ein Jude kann nach dieser Definition an einer bestimmten Hautfarbe erkannt werden oder an der Form des Kopfes (oder Nase) oder an der Farbe der Augen oder des Haares, und kann nur dann jüdisch sein, wenn er auf diese Weise geboren wurde. Gemäß dieser Definition ist ein Jude jemand, der es einfach ist.

Aber auch dies ist eine höchst unzutreffende Definition. Es gibt Juden aller möglichen verschiedenen Erscheinungsbilder von Größe, Form und Farbe, und es ist möglich, zum Judentum zu konvertieren.

 

Viertens – ist es eine kulturelle Gemeinschaft? Falls ja, dann ist ein Jude jemand, der sich »jüdische Musik« anhört, »jüdische Kunst« ausübt, nach »jüdischen Rezepten« kocht, »jüdische Witze« macht. Aber vieles von dem, was normalerweise als jüdisch eingeordnet wird, ist einfach osteuropäisch – von jüdischen Immigranten in die westliche Welt hineingebracht, aber nicht wesenhaft jüdisch; oder aus dem Mittelmeerraum – von jüdischen Reisenden oder von israelischen Exporteuren popularisiert, aber auch nicht wirklich jüdisch. Natürlich gibt es bestimmte Kunst- oder Musikwerke, die von jüdischen Themen handeln. Aber es gibt Juden, die sie nicht mögen; es gibt Nichtjuden, die diese Themen bearbeiten.

 

Fünftens – ist es eine Nationalität? Falls ja, dann ist ein Jude jemand, der in einem jüdischen Staat lebt. Von diesen gibt es nur einen  – den Staat Israel – und er hat viele, viele Bürger, die keine Juden sind, aber dennoch volle Bürgerrechte genießen, einschließlich des Rechts, in die Knesset, das Parlament des Landes, gewählt zu werden; sie genießen das Recht, in Kirchen und Moscheen und Bahai-Tempeln Gottesdienste abzuhalten… Aber es gibt tatsächlich viele Israeli, die jetzt außerhalb Israels leben und die diesen Glauben – genannt »Zionismus« – nicht teilen, nämlich dass der Platz für alle Juden im Lande Zion ist.

Daher ist auch dies eine Fehldefinition.

 

Tatsächlich ist es auch so, dass viele Definitionen zum Judentum und den Juden oftmals nur von den Feinden der Juden kamen. Diejenigen, die sich gegen diesen Glauben stellten, versuchten, die Juden zu »retten«, indem sie sie veranlassten, zu einer anderen Religion überzutreten. Sie versuchten zu erzwingen, dass die Juden sich anpassen, ihre Namen und Sprachen verändern, ihre Sitten und Gebräuche fallenlassen, und hofften dafür den Zugang zu den Privilegien der Angehörigen der breiteren Gesellschaft einzutauschen – Zugang zu Universitäten oder gewissen Berufen, Bürgerrechte usw.

Diejenigen, die sich gegen die Idee der Rasse stellen, versuchen, die Juden über die Eltern und Großeltern und das »Blut« zu definieren, was zu allen Arten von Anomalien führt – wie zum Beispiel der katholischen Nonne mit jüdischen Eltern, oder einer Person, die wegen eines Großelternteils, dem sie nie begegnet ist, eingeordnet wird. Diejenigen, die der Idee einer politischen Identität widersprechen, greifen die Idee eines jüdischen Staates an und erklären sie – ironischerweise – als rassistisch und der modernen Welt nicht angemessen – indem sie bequemerweise viele andere Staaten vergessen, die ebenfalls eine bestimmte Ideologie fördern. (Ich würde persönlich so argumentieren, dass der Anti-Zionismus dem Anti-Semitismus gleichkommt, wenn der Zionismus als die einzige Ideologie herausgestellt wird, die angegriffen wird.)

 

Am Ende bleibt uns nur eine Mischung aus widersprüchlichen und unsystematischen Definitionen übrig. Gemäß dem jüdischen Gesetz ist ein Jude jemand, der von einer jüdischen Mutter geboren wurde, oder jemand, der zum Judentum übergetreten ist. Nur eine solche Person darf einer jüdischen Gemeinde angehören. Aber was ist, wenn die Mutter zu einer anderen Religion übergetreten ist? Was ist, wenn die Person selbst zu einer anderen Religion übertritt? Was ist, wenn es keinen wirklichen Beweis dafür gibt, dass die Mutter jüdisch war? Was ist eine gültige Handlung des »Übertritts«? (Siehe zur Diskussion darüber die entsprechende separate Frage.) Was ist, wenn jemand als junges Kind adoptiert wird? (Entweder von einer jüdischen Mutter – oder von einer nichtjüdischen Mutter?) Was ist, wenn eine Regierung oder eine politische Partei ihre eigenen Definitionen erstellt und versucht, diese durchzusetzen?

Für den Augenblick – »die Juden« ist ein Oberbegriff, der für diejenigen benutzt wird, die jüdischen Gemeinden angehören, und für diejenigen, die – wenn sie auch entschieden haben, keine Mitglieder zu sein, oder wenn sie auch weitab jeder Gemeinde wohnen  – doch Mitglieder sein könnten, wenn sie wollten. Diese Definition mag einigen unfair erscheinen – aber letztlich scheinen doch alle Definitionen für irgend jemanden unfair zu sein!

Frage 2

Die »gebundene Frau« –
oder: Was ist eine
Aguna?

Dies ist eine schreckliche Situation, in der schon viele Rabbiner ihr Bestes gegeben haben, sie zu lösen. Das Wort bedeutet »eine angekettete Frau« und bezeichnet eine Frau, deren Ehemann sich weigert, ihr ein Get zu geben, eine Scheidung (siehe → Ehe). Sie bleibt daher unfrei, wieder zu heiraten (da dies entweder eine Form von Bigamie oder Ehebruch wäre und etwaige Kinder Mamserim (→ Mamser) wären). Gemäß der Tradition war es der Ehemann, der die Scheidung von der Ehefrau betrieb, nicht anders herum, und dies bleibt die Tradition – sogar in den Fällen, bei denen die Ehefrau den Grund zur Klage hat, vielleicht wegen des unvernünftigen oder unethischen Verhaltens des Ehemannes. Was kann sie tun? Sie kann ihn bitten, ihn drängen, betteln, dass er ihr die Scheidung gewährt – aber in den traditionsbewussten Gemeinden kann sie dies nicht selbst tun. Selbst wenn er sich weigert, wenn er droht, sie zu verlassen, wenn er eine Ménage à trois oder eine Affäre mit einer anderen Frau beginnt – es gibt wenig, was die Ehefrau formal tun kann. Bietet er an, ihr die Scheidung zu gewähren, die sie so dringend wünscht, dann oft nur unter der Bedingung, dass sie alle anderen finanziellen Ansprüche aufgibt oder manchmal sogar, dass sie ihn dafür bezahlt. Solch ein Mißbrauch eines Systems ist schlimm und falsch, aber er kommt vor, und einige Frauen bleiben »angekettet« an einen Ehemann, den sie nicht mehr lieben – vielleicht sogar an den Ex-Ehemann, der zivil geschieden ist, aber wieder geheiratet hat, und zwar eine nichtjüdische Frau (d. h. nicht in der Synagoge). Die zivilen Gerichte sehen ihn nicht als noch verheiratet an, obwohl die religiösen das tun. Es kann auch passieren, dass ein Ehemann einfach verschwindet, z. B. während eines Krieges oder auf einer Reise oder bei einem Unfall, aber es gibt keinen Beweis, dass er tatsächlich gestorben ist. Dann ist es unklar, ob die Ehefrau Witwe ist und somit frei, wieder zu heiraten.

Dies ist eines der Gebiete, auf denen das liberale Judentum sich mit seiner Betonung der Gleichheit und der Menschenrechte von der überlieferten hilflosen Haltung unterscheidet. Das liberale Judentum ist bereit, einer Frau in einer solchen Situation – der Aguna – ein besonderes Dokument zu gewähren, dass sie von dieser unbefriedigenden und hohlen Ehe befreit und ihr erlaubt, wieder zu heiraten. (→ Ehe, Hochzeit)

Frage 3

Was bedeutet
»Amen«?

»Amen« ist ein Wort, das in der Liturgie häufig benutzt wird. Genau genommen bedeutet es einfach »Ich stimme zu«. »Emuna« ist das hebräische Wort für »Glaube« oder »Überzeugung«, und »Ani Maamin« bedeutet »Ich glaube«. Also – wenn jemand ein Gebet oder einen Segensspruch laut vorliest, und man sagt »Amen«, dann sagt man einfach »Auch ich – ich bin mit eingeschlossen und stimme dem zu, was vorgelesen wurde, ich stimme dem zu, was gesagt wurde.«

Frage 4

Antisemitismus
was bedeutet das?

Antisemitismus ist eine Geisteskrankheit, für die kein Heilmittel bekannt ist. Er besteht aus dem zwanghaften Glauben, dass die Schuld für alle Probleme dieser und jeder anderen Welt einer Gruppe von Menschen gegeben werden kann, die man – in fast jedem Land und in fast jedem Jahrhundert – dann unter diesem irrationalen Glauben leiden ließ. Die Krankheit nimmt viele Formen an – es gibt Fälle, wo Juden dafür getadelt werden, dass sie existieren, oder dafür getadelt werden, dass sie nicht mehr existieren. Sie werden beschuldigt, faul zu sein und gleichzeitig, dass sie den Arbeitsmarkt beherrschen. Ein Antisemit ist jemand, der frohgemut alle Juden beschuldigt, reich zu sein und der sich bitter über jüdische Bettler beklagt; der Juden dafür tadelt, dass sie Kapitalisten sind und dass sie Kommunisten sind; der glaubt, dass die Juden einen geheimen Plan haben, die »Welt zu übernehmen«, dass sie die Presse, die Medien, die Banken ….ALLES beherrschen. Es gibt Leute, welche die Juden als eine eigene Unterart betrachten, enger verwandt mit Nagetieren als mit dem »Homo Sapiens«. Es gibt auch einige, die allen Juden ihrer Zeit die Schuld für etwas geben, das vor mehreren Jahrhunderten in Jerusalem geschehen ist (oder geschehen sein mag).

Lange Zeit glaubten einige Juden, dass man ein Heilmittel finden könnte. Der Jude würde völlig akzeptiert werden und der Antisemitismus würde abnehmen und verschwinden, wenn der Jude die »Gastgeberkultur« vollständig annähme und sich damit identifizierte. Dieser Lösungsansatz ist als Assimilation bekannt. Unglücklicherweise wurde dann offenbar, dass es einige an dieser Krankheit Leidende gab, die den Unterschied zwischen einem Mann und seinen Großeltern nicht erkennen konnten, und die bereit waren, jemanden wegen der mutmaßlichen Identität eines Vorfahren zu drangsalieren und zu töten. Einige Juden glaubten, dass ihnen weitere Probleme erspart bleiben würden, indem sie ihrer Religion entsagten und das Christentum annahmen – aber die Geschichte »getaufter Juden« ist ebenfalls blutig und enttäuschend gewesen (→ Marranos). Einige glaubten, dass sie sie heilen könnten, indem sie sich integrierten, oder indem sie großzügig für nichtjüdische Anlässe spendeten, oder indem sie patriotischer wurden als die anderen Bürger des Landes, in dem sie lebten (die selbst oft von einer Vielfalt ehemaliger Volksstämme und Invasoren abstammten…). Einige Juden glaubten auch, sie könnten sie heilen, indem sie sich von diesen Ländern loslösten und ihr eigenes bildeten (→ Zionismus) – aber da fanden sie heraus, dass genau die Leute, die den Juden sagten »Geht zurück, wo ihr hergekommen seid«, sich eben dann bitter beklagten, wenn sie dieses taten.

Unglücklicherweise wissen wir von anderen Krankheiten, dass der erste Schritt zu jeder Heilung für den Kranken darin besteht, seine Krankheit anzuerkennen und um Hilfe nachzusuchen. Bisher gibt es wenig Anzeichen, dass Antisemiten überhaupt erkannt haben, wie krank sie sind. Selbst bei größeren Krankheitsausbrüchen ist es nicht garantiert, dass Widerstandsfähigkeit und Antikörper in einer Kultur aufgebaut werden. Die Prognose ist schlimm und deprimierend.

Frage 5

Der »Meister der Lesung« –
oder: Was ist ein
Baal Kore?

Ein bedeutender Teil des Gottesdienstes in der Synagoge zu bestimmten Gelegenheiten – z. B. Sabbat und Vormittage von Festen, Morgengottesdienste an den Werktagen Montag und Donnerstag, Sabbatnachmittage – ist die Lesung aus der Schriftrolle, der → Sefer Tora. Weil dieser Text auf Althebräisch ohne Vokale und Zeichensetzung geschrieben ist, ist diese Lesung sehr schwierig. Zusätzlich gibt es mehrere überlieferte Fassungen der »Taamey HaMikra«, der Musiknoten, mit deren Hilfe die Tora »geleynt« oder abgesungen wird – diese sind uralte musikalische Auslegungen des Textes und hören sich für westliche Ohren oft seltsam an. Folglich ist die richtige öffentliche Lesung eine äußerst schwierige Aufgabe, die nicht jeder erledigen kann.

Die Person, die dieses Amt in einer Synagoge auf sich nimmt, ist der »Meister der Lesung« – der »Baal Kore«. Es ist üblicherweise ein freiwilliger Posten, manchmal jedoch beschäftigt eine Gemeinde auch eine qualifizierte Person, um diese Funktion für sie wahrzunehmen.

Frage 6

Tragen eigentlich
alle Juden
Bärte?

Die Frauen nicht…

In der Tat gibt es kein eigentliches Gesetz, sich einen Bart wachsen zu lassen – obwohl (→ Pe’ot) es eine Richtlinie darüber gab, die Ecken des Kopfes nicht zu rasieren. Viele orthodoxe Juden lassen sich wirklich einen Bart wachsen – und viele nicht – und viele Männer rasieren sich nach dem Tod eines geliebten Menschen ein Trauerjahr lang nicht, was oft zur Folge hat, dass sie nach dem Ablauf des Trauerjahres ein ziemlich üppiges Wachstum hinter sich haben, an das sie sich gewöhnt haben und das sie einfach beibehalten!

Frage 7

Religiöse Volljährigkeit –
oder: Was ist
Bar Mizwa?

Zu einem bestimmten Zeitpunkt wird aus einem Kind ein Erwachsener. In der weltlichen Gesellschaft gibt es bestimmte Altersstufen dafür (sie sind in verschiedenen Ländern unterschiedlich), wann eine Person Alkohol trinken darf, Auto fahren lernt, eine Kreditkarte hat, heiratet, Waffen trägt usw. Im Judentum basiert das Alter, in dem ein Minderjähriger zu einem Erwachsenen wird, noch immer auf dem mittelalterlichen Verständnis dieser Entwicklung. Das bedeutet, dass nach diesem Verständnis das Erwachsen-sein viel früher beginnt, als dies in den modernen westlichen Ländern normalerweise der Fall ist. Es wurde von je her angenommen, dass ein Junge im Alter von 13 Jahren (und einem Tag) zum Mann wurde: er konnte sein Zuhause verlassen und heiraten. Ein Mädchen ging durch zwei Entwicklungsstadien, zuerst ab dem Alter von 12 (und einem Tag) und dann mit zwölf Jahren, sechs Monaten und einem Tag. In diesem Stadium hatten Mädchen in früheren Zeiten und in heißeren Ländern gewöhnlich die Pubertät erreicht und waren daher ein Risiko für die Stabilität der Gesellschaft – jedenfalls so lange, bis sie sicher verheiratet worden waren! Natürlich war auch die Lebenserwartung für die meisten Menschen niedriger als heute.

Diese Einführung soll erläutern, warum jüdische Jungen ihre Bar Mizwa im Alter von 13 Jahren feiern, auch wenn sie doch nach allen anderen Maßstäben, die wir verwenden, noch nicht voll erwachsen sind. Formal wird man Bar Mizwa in diesem Alter, ob man es feiert oder nicht. (Es gibt einige, die es viele Jahre später feiern!) Der Ausdruck bedeutet, dass man buchstäblich ein »Sohn des Gebotes« ist, man ist verantwortlich für die eigene Befolgung der Gebote und kann von einem anderen – d. h. von einem Elternteil  – weder dazu gezwungen werden, die Regeln zu beachten, noch kann einem Elternteil weiterhin die Schuld gegeben werden, wenn man diese nicht einhält. In der weltlichen Gesellschaft unterscheiden wir noch immer zwischen einer Jugendstrafanstalt und einem Gefängnis für Erwachsene, abhängig vom Alter der gesetzesbrecherischen Person!

Ein Bar Mizwa ist jemand, der das Alter der Volljährigkeit erreicht hat, soweit es die Synagoge und die rituellen Gebote betrifft. Er kann zu einer beschlußfähigen Anzahl oder → Minjan von zehn Männern gezählt werden, er kann aufgerufen werden, einen Gottesdienst als Vorbeter zu leiten oder aus der Schriftrolle vorzulesen. Er kann Verantwortlichkeiten zugewiesen bekommen. Heutzutage sind diese Verantwortlichkeiten in den meisten Gemeinden eher darauf beschränkt, im Vorlesen eines kurzen Abschnitts aus der Tora ausgebildet zu werden, vielleicht ein Abschnitt aus den Propheten (der Haftara), im Aufsagen weniger Segenssprüche und im Vorlesen einer Rede, die einen gewissen Kommentar über das Vorgelesene liefert und Dank an seine Lehrer ausdrückt. Dies wird eine Familienangelegenheit, wozu Verwandte und Freunde (häufig nichtjüdische Freunde und Nachbarn und ebenso Schulfreunde) in die Synagoge eingeladen werden, um das Verfahren zu beobachten und danach an einigen Feierlichkeiten teilzunehmen. (→ Bat Mizwa)

Es wird nun erwartet, dass der Bar Mizwa als erwachsener jüdischer Mann bei geeigneter Gelegenheit einen Tallit (Gebetsmantel) trägt und vielleicht → Tefillin (Gebetsriemen) bei morgendlichen Gottesdiensten.

Frage 8

Wenn Mädchen ihre religiöse
Volljährigkeit feiern –
oder: Was ist
Bat Mizwa?

In moderner Zeit ist endlich die Idee in einige Köpfe eingesickert, dass auch Mädchen Verstand und Seele haben, und daher werden im liberalen oder fortschrittlichen Judentum Mädchen dazu ermuntert, ihre religiöse Volljährigkeit auf dieselbe Weise wie die Jungen zu feiern. Sie werden eine »Tochter des Gebotes«, eine Bat Mizwa.

In einigen orthodoxen oder traditionellen Synagogen dürfen Mädchen heute ein Gebet vorlesen oder auf sonstige Weise an einer öffentlichen Vorführung ihrer Akzeptanz von Verantwortung teilnehmen, obwohl (da in diesen Synagogen Frauen normalerweise nicht an den rituellen Handlungen teilnehmen oder auch nicht bei einem → Minjan zählen), ihre Beteiligung begrenzt ist. Diese Zeremonie wird auch »Bat Chajil« (»Tochter der Stärke«) genannt. Die Zeremonie kann an einem Sonntag anstelle eines → Sabbats und in der Halle einer Synagoge anstatt im eigentlichen Betraum stattfinden. In einigen Gemeinden (z. B. in England) pflegen mehrere Mädchen das Ereignis gemeinsam zu feiern, nachdem sie als Gruppe unterrichtet wurden. (→ Bar Mizwa)

Frage 9

Was geschieht bei einem
jüdischen Begräbnis?

Das Judentum ist der Meinung, dass es einen Ort für jedes Ding gibt – und jedes Ding sollte an seinem Ort sein. Der Ort für eine lebende Person ist auf der Erde – der Ort für eine tote Person ist in der Erde. Daher ist es ein Gebot – eine → Mizwa – diese Person so bald wie möglich zum richtigen Ort zu bringen.

Der gebräuchliche Ausdruck ist eine »Lewajat HaMejt« – was formal bedeutet, dass man anstelle des eigentlichen Begräbnisaktes lieber eine Person zu ihrer Begräbnisstätte begleitet. Wo dies möglich ist, kommt ein → Minjan zusammen, um dies zu einer Gemeindehandlung zu machen. Die tote Person wird ein »Mejt« genannt. Sie wird in einen möglichst einfachen Sarg gelegt. Totengebete (oft als Zidduk HaDin bezeichnet – eine Akzeptanz des Gerechten Urteils Gottes) werden entweder an der Grabstelle gelesen, oder auf einigen Friedhöfen in der Ohel (Gebetsraum), und in einigen Gemeinden sogar in der Synagoge, bevor der Leichnam zum Friedhof gebracht wird. Viel hängt von der Örtlichkeit ab – in der modernen Zeit liegen Friedhöfe oft weit außerhalb der Stadt, in früheren Zeiten war der Friedhof üblicherweise nahebei.

Neben Psalmen und Gebeten ist es üblich, eine Trauerrede zu halten, die als »Hesped« bekannt ist (dieses Wort kommt aus dem Hebräischen für »Weinen« oder »Wehklagen«). Der Sarg wird dann zum Grab gebracht und hinabgelassen und die Anwesenden schließen sich dem physischen Akt des Begrabens an, indem sie etwas Erde in das Grab hineinschaufeln oder – werfen. Sobald der Sarg bedeckt ist – so dass der »Mejt« jetzt wirklich »unter der Erde« ist – wird auch das → Kaddisch gelesen. (Nicht in allen Gemeinden werden Särge verwendet – manchmal wird die Leiche einfach in ein großes Tuch eingewickelt, das hängt jedoch von den lokalen Gesetzgebungen ab.)

Es gibt viele andere Bräuche im Zusammenhang mit Begräbnissen  – sie ändern sich von Gemeinde zu Gemeinde. In einigen wird beispielsweise auf dem Weg zur Grabstelle der Psalm 91 gelesen, einmal oder sogar drei oder noch mehr Male. In einigen wird das Kaddisch an der Grabstelle aufgesagt und die Trauernden können zwei Reihen bilden, durch die die Haupttrauernden gehen. In England grüßt man andere Trauernde oft mit dem Wunsch für ein »Langes Leben«, in Deutschland mit »Auf Simches« – man sollte sich bei besseren, angenehmeren Gelegenheiten treffen. In vielen Gemeinden wird ein kleiner Schnitt in ein Kleidungsstück gemacht – dieser wird »Kria« genannt, was normalerweise »Zerreißen« oder »Schneiden« bedeutet. Die Kleidung wird »über dem Herzen« zerschnitten  – vielleicht ein Überbleibsel der alten Sitte, Kleider in Kummer und Verzweiflung zu zerreißen.

An einigen Orten ist es gebräuchlich, Verse aus Psalm 19 zu lesen  – dieser ist ein sehr langes alphabetisches Akrostichon, und daher kann man die Verse lesen, die sich auf die Anfangsbuchstaben oder die Buchstaben des Namens des Verstorbenen beziehen.

Diejenigen, die den Friedhof verlassen, waschen dabei formal ihre Hände – sowohl ein ritueller Akt als auch eine körperliche Reinigung. (→ Tod, Friedhof, Tahara, Schiwa)