Eva Markert

Der Stalker

 

 

 

Inhaltsverzeichnis

Titel

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Weitere Bücher von Eva Markert

Impressum neobooks

Kapitel 1

 

Lea Sonnenfeld warf einen Blick aus dem Fenster. Draußen war es trübe und ungemütlich. Trotzdem hockte Steffen Bonnig auf dem Mäuerchen, das die Gärten voneinander trennte. Dort saß er in letzter Zeit häufig, als ob er auf etwas warten würde.

Sie schaute auf die Uhr. Ihre Freundin Nele kam erst in einer Viertelstunde. Sie beschloss, kurz hinauszugehen, um ein paar Worte mit Steffen zu wechseln.

Sie kannte ihn schon seit ewigen Zeiten. Eigentlich von ihrem ersten Lebenstag an. Steffen war einen Tag älter als sie. Sie wurden im selben Krankenhaus geboren, ihre Mütter hatten sogar in einem Zimmer gelegen. Steffen und sie waren gemeinsam in den Kindergarten gegangen, in die Grundschule, nun saßen sie nebeneinander in der Klasse 9 a des Paulus-Gymnasiums. Und sie hatten von Anfang an nebeneinander gewohnt.

Hi, Steffen!“, rief sie, als sie durch die Terrassentür trat.

Steffen fuhr zusammen, dann lächelte er. „Hi, Lea.“

Wie oft saßen sie zusammen auf diesem Mäuerchen und quatschten über Gott und die Welt! Sie vertrauten sich ihre Freuden, Sorgen, ihre Hoffnungen an und trösteten sich gegenseitig, zum Beispiel, als Steffens Eltern sich getrennt hatten oder als ihr Opa gestorben war. Steffen wusste mehr über sie als Nele. Nein, nicht mehr. Andere Dinge. Er war wie ein Bruder für sie. Das war schön, denn Lea hatte keine Geschwister. Steffen auch nicht.

Was machst du heute?“, fragte er.

Ich warte auf Nele. Wir wollen in die Stadt gehen.“

Ich komm mit.“ Steffen machte Anstalten aufzustehen.

Halt, warte.“ Lea legte ihm die Hand auf den Arm, um ihn zurückzuhalten. „Das ist keine gute Idee.“

Steffen saß ganz still.

Nele will Klamotten kaufen“, fuhr Lea fort. „Das wäre zu langweilig für dich, wenn sie endlos Sachen anprobiert.“ Sie zog ihre Hand zurück.

Das macht mir nichts aus. Währenddessen können wir uns ja unterhalten.“

Nee, du, ich muss Nele beraten. Sie wäre bestimmt sauer, wenn du mitkämst.“

Steffen runzelte die Stirn.

Sie hat nichts gegen dich“, fügte Lea hastig hinzu. „Aber deine Kumpels wären auch wenig begeistert, wenn ihr zusammen losziehen wolltet und plötzlich würde ich auftauchen.“

Ehe er antworten konnte, stand sie auf. „Ich muss los.“

Vielleicht können wir morgen Nachmittag schwimmen gehen.“

Vielleicht. Tschüss, Steffen.“

Kommst du heute Abend aufs Mäuerchen?“

Mal sehen. Mach’s gut.“

Bevor Lea ins Haus ging, drehte sie sich um und winkte ihm zu. Steffen starrte vor sich hin. Er war so in Gedanken versunken, dass er es nicht bemerkte.

Der ist in letzter Zeit irgendwie komisch“, dachte sie. „Woran liegt das bloß?“

Als Nele kam, vergaß sie Steffen. Es gab dringendere Dinge zu besprechen: Carolins Geburtstagsfete am Samstag zum Beispiel. Was Lea anziehen würde, war sonnenklar: ihre neue schwarze Hose, dazu das rosaglitzernde langärmlige Shirt mit dem V-Ausschnitt.

Nele war mit dieser Wahl sehr einverstanden. Was sie selbst anziehen würde, stand noch nicht fest. Das mussten sie erst mit vereinten Kräften herausfinden.

Du hast es gut!“ Lea betrachtete ihre Freundin mit neidvollem Blick. „Du kannst alles anziehen, was du willst. Auch hautenge Sachen. Ich dagegen mit meiner Wampe …“

Du übertreibst! Dein Outfit steht dir wirklich sehr gut“, meinte Nele tröstend.

Die beiden Mädchen machten sich auf den Weg. „Ich habe übrigens was gehört, was dich sehr interessieren wird“, begann Nele. Ihre Stimme klang verheißungsvoll.

Gespannt blickte Lea sie an.

Du wirst dich freuen.“

Nun spann mich nicht so auf die Folter!“

Rate, wer am Samstag auch auf der Fete sein wird.“

Lea blieb wie angewurzelt stehen. „Du meinst …“

Nele nickte.

Woher weißt du das?“

Ich habe gehört, wie er zu Carolin gesagt hat, dass er kommt.“

Bist du sicher? Hast du dich auch bestimmt nicht verhört?“

Nele knuffte sie in die Seite. „Ich bin ganz sicher. Außerdem: Ich habe Marc nach der Schule gesehen und ‚Bis Samstag‘ zu ihm gesagt. Da hat er ‚Bis Samstag‘ geantwortet.“

Sie schlenderten weiter. „Wenn ich nur wüsste, was er von mir hält“, überlegte Lea laut. „Manchmal habe ich das Gefühl, er mag mich. Zum Beispiel wenn wir zusammen Französisch haben und er mich so komisch anguckt. Dann wieder gibt es Tage, an denen er mich überhaupt nicht beachtet.“

Möglicherweise findest du es am Samstag heraus?“

Marc Sarré“, sagte Lea träumerisch, „das klingt einfach nur toll!“

Nele kicherte. „Ich glaube, selbst wenn er Hans-Otto Hundekacke hieße, würdest du es wunderschön finden.“

Komm, Nele! Gib’s zu: Er ist total süß! Diese pechschwarzen Haare, die dunklen Augen …“

Gibt es irgendetwas an ihm, was du nicht total süß findest?“, erkundigte sich Nele lachend.

Und er kann so toll Französisch!“, fuhr Lea fort, als hätte sie nicht gehört.

Na, das will ich doch hoffen, wo sein Vater Franzose ist.“

Lea stöhnte. „Wenn ich dagegen an mein Französisch denke ... Mehr als bescheiden, würde ich sagen.“

Frag ihn doch mal, ob er dir helfen kann!“

Das habe ich auch schon überlegt. Aber ich trau mich nicht … Außerdem habe ich Angst, dass er mich für doof hält. Dieses ganze grammatische Zeug kapiere ich einfach nicht.“

Quatsch!“, schimpfte Nele sie aus. „Kein Mensch kapiert französische Grammatik.“

Inzwischen waren sie bei der Boutique angekommen, in der es die angesagtesten Sachen im ganzen Ort gab, und ziemlich günstig dazu.

Nele probierte unzählige Hosen, Blusen und T-Shirts an. Die Entscheidung war sehr schwierig. So schwierig, dass Lea kurzzeitig nicht mehr an Marc dachte. Am Ende entschieden sie sich für eine schwarze, schmal geschnittene Stoffhose.

Die bringt deine super Figur so richtig zur Geltung“, meinte Lea begeistert. Dazu wählten sie ein schwarzes, mit Pailletten besticktes Shirt aus.

Nach diesem erfolgreichen Einkauf gingen sie ins Eiscafé, wo sie einen schönen Fensterplatz fanden. Nele bestellte einen maxi Vanille-Schoko-Becher mit Sahne, Lea eine Cola light.

Du hast es gut.“ Lea nippte an ihrem Glas. Dabei warf sie begehrliche Blicke auf den Rieseneisbecher. „Du kannst essen, was du willst, und bleibst trotzdem schlank.“

Dafür habe ich oben rum zu wenig. Hier. Probier mal.“ Nele schob ihr einen Löffel Vanilleeis mit Schokoladensoße in den Mund.

Lea konnte nicht länger widerstehen. Sie aßen abwechselnd, bis der Becher leer war.

Mm, das war lecker.“ Nele lehnte sich zurück.

Lecker war’s auf jeden Fall“, stimmte Lea zu. „Trotzdem könnte ich mich totärgern, dass ich schon wieder schwach geworden bin. Wenn ich an die vielen Kalorien denke! Willst du den Rest Cola light?“

Nee, danke.“

Lea hob das Glas an die Lippen, nahm einen Schluck und fing im selben Moment fürchterlich an zu husten. Erschrocken schaute Nele zu ihr hin.

Hab … mich verschluckt“, röchelte Lea überflüssigerweise. Tränen stürzten aus ihren Augen. Nur verschwommen sah sie, wer draußen vorbeiging.

Nele klopfte ihr heftig auf den Rücken, bis sie wieder einigermaßen durchatmen konnte. „Da war Marc“, keuchte sie.

Zum Glück hat er von meinem Erstickungsanfall nichts mitgekriegt. Er hatte sein Handy am Ohr. Beeil dich! Vielleicht erwischen wir ihn noch.“

Hastig bezahlten die Mädchen und eilten hinaus auf die Straße. Zu spät. Von Marc war keine Spur mehr zu entdecken.

Was meinst du, mit wem hat er wohl gesprochen?“, fragte Lea.

Keine Ahnung. Mit wem telefoniert man? Mit Freunden, seinen Eltern ...“

Aber er hat so gelächelt.“

Na und? Lächelst du etwa nie, wenn du mit mir oder deinen Eltern sprichst?“

Doch. Ich glaub schon …“

Nele grinste. „Könnte es sein, dass du dir da gerade was ins Gehirn trittst?“

Was meinst du?“

Dass du eifersüchtig bist.“

Blödsinn!“, widersprach Lea energisch. Obwohl Nele nicht ganz verkehrt lag. Die Sache beunruhigte sie. Steffen hatte nämlich neulich Andeutungen gemacht, dass Marc eine Freundin in Frankreich hätte. Bei dem Lächeln gerade konnte sie sich gut vorstellen, dass er gerade mit ihr telefoniert hatte. Lea seufzte. Wenn er doch mal so lächeln würde, wenn er mit ihr sprach!

Als sie nach Hause kam, sah sie Steffen auf dem Mäuerchen sitzen. Kurz entschlossen ging sie zu ihm hin. Chipsy, ihr Westie, folgte ihr.

Was ist los?“, empfing Steffen sie. „Du siehst irgendwie bedröppelt aus.“

Nichts ist los“, antwortete Lea leicht gereizt.

Doch Steffen kannte sie zu genau. Er merkte immer, wenn etwas nicht in Ordnung war. „Schieß los“, sagte er nur.

Lea zögerte. „Ach, was soll‘s?“, dachte sie. „Schließlich ist Steffen wie mein Bruder.“

Du darfst es aber keinem weitersagen“, begann sie.

Das tu ich nie, das weißt du doch.“

Es stimmte. Auf Steffen konnte sie sich hundertprozentig verlassen. Deshalb berichtete sie ihm, dass sie Marc gesehen hatte. Sie erzählte ihm, wie sehr sie ihn mochte. Und dass sie nicht wusste, ob er sie auch mochte.

Mit gesenktem Blick hörte Steffen zu. Dabei streichelte er Chipsy, die zu seinen Füßen lag.

Als Lea geendet hatte, sagte er zunächst kein Wort. Endlich hob er den Kopf. „Ich kann mir fast denken, wer am Telefon war“, begann er. „Hat Marc Französisch gesprochen?“

Das konnte ich nicht hören.“

Hm.“ Steffen schwieg wieder.

Lea wurde ungeduldig. „Nun sag schon, was du denkst!“

Steffen bückte sich und riss ein Gänseblümchen aus. „Ich weiß inzwischen genau, dass Marc verliebt ist“, fuhr er fort. „In ein Mädchen, das er in Frankreich kennengelernt hat.“

Der Schreck fuhr Lea in alle Glieder. „Woher weißt du das?“

Marc hat mir neulich von ihr erzählt. Ich habe ihn zufällig getroffen, als er vom Fußballtraining kam. Sie heißt Amélie und wohnt in Paris. Auf derselben Straße wie Marcs Großeltern.“

Lea schluckte. „Wie kommt er dazu, dir so was zu erzählen?“, stieß sie hervor.

Weiß ich nicht. Hat mich auch gewundert.“ Steffen stutzte. „Glaubst du mir etwa nicht?“

Doch, doch. Natürlich!“

Tut mir leid für dich“, fügte Steffen hinzu. „Aber ich fürchte, du hast keine Chance bei ihm.“

Lea starrte vor sich hin.

Sei nicht traurig.“ Er legte den Arm um sie.

Für einen Augenblick, weil sie völlig erledigt war, lehnte sie ihren Kopf an seine Schulter.

Er drückte sie an sich. „Du findest jemand anders.“ Er grinste. „Zur allergrößten Not nimmst du eben mich.“

Lea löste sich von ihm. Sie grinste schief zurück. „Da gibt es nur ein winziges Problem: Du bist mein bester Freund ... Ich geh jetzt rein.“

Steffen stand ebenfalls auf. „Schlaf trotzdem gut.“

Doch Lea konnte lange nicht einschlafen. Sie grübelte und weinte sogar. Weshalb bedeutete ihr Marc bloß so viel? Eigentlich kannte sie ihn kaum. Was war besonders an ihm? Warum konnte sie sich nicht einfach in jemand anders verlieben? In Steffen zum Beispiel. Ach, dann wäre alles viel, viel einfacher …

Kapitel 2


„Hi, Lea, alles klar?“

Steffen wartete am Gartentor. Wie jeden Morgen fuhren sie gemeinsam mit dem Rad zur Schule.

„Alles klar“, behauptete Lea, obwohl sie todmüde war. Auf dem Weg war sie sehr schweigsam. Zum Glück ließ Steffen sie in Ruhe.

„Bis später“, rief Lea ihm zu, als sie ihre Fahrräder am Fahrradständer abschlossen. Sie wollte Nele unbedingt vor der ersten Stunde berichten, dass Marc tatsächlich eine Freundin hatte.

„Das ist wirklich blöd“, meinte die, „aber nicht hoffnungslos. Immerhin sitzt sie in Frankreich, und er kann sie nur selten sehen. Du musst dich eben anstrengen.“

„Ach, nee …“ Lea winkte ab. „Das möchte ich nicht. Außerdem habe ich gegen Amélie eh keine Chance.“

„Woher willst du das wissen? Du kennst sie doch gar nicht.“

„Trotzdem kann ich sie mir gut vorstellen. Du weißt ja, wie Französinnen sind: schlank …“

„Nun hör aber auf!“, fiel Nele ihr ins Wort. „Wenn du deine Figur wirklich dermaßen schrecklich findest, dann mach eine Diät.“

„Das habe ich ja schon oft versucht. Wenn es bloß nicht so furchtbar schwer wäre durchzuhalten. Aber ich kann‘s ja noch mal probieren. Selbst wenn es mir bei Marc nichts nützen wird.“

„Warum guckst du dich nicht nach was anderem um? Du tust grad so, als wäre Marc der einzige Junge auf der Schule!“

„Der einzige nicht. Aber der netteste.“

„Mensch, Lea!“, stöhnte Nele. „Manchmal bist du ganz schön halsstarrig, weißt du das?“

Es gongte.

„Wie wär’s zum Beispiel mit Philipp?“, schlug Nele beim Hineingehen vor. „Der ist doch ganz nett.“

„Ja, aber – du weißt schon.“

„Ich glaube nicht, was man über ihn sagt“, stellte Nele in entschiedenem Ton fest. „Das war damals bestimmt ein Irrtum. Außerdem wäre da noch Steffen. Der ist doch ganz heiß auf dich.“

„Quatsch“, widersprach Lea „Wir wohnen bloß zufällig seit Ewigkeiten nebeneinander.“

„Kommt er auch zur Fete?“

„Ja.“

Nele nickte zufrieden. „Bestens!“

„Wenn man dich so reden hört, könnte man fast meinen, du wärst scharf auf ihn.“

„Ich mag Steffen. Mehr nicht. Ich denke da mehr an dich. Außerdem habe ich, wie du weißt, ein Auge auf Kevin geworfen.“

„Armer Steffen“, spottete Lea. „Da entgeht ihm aber was!“

Lea hatte grundsätzlich nichts dagegen, dass Steffen auch zu Carolins Fete kam, nur eins störte sie gewaltig: dass er offenbar annahm, sie würden zusammen hingehen.

„Wir treffen uns um halb acht bei mir“, bestimmte er, als sie am Samstagmorgen auf dem Mäuerchen saßen. „Meine Mutter holt uns um Mitternacht mit dem Auto ab.“

„Ich bin schon mit Nele verabredet“, entgegnete Lea abweisend.

Steffen stockte. „Macht nichts“, meinte er dann, „wir können ja zu dritt hingehen.“

„Ich frag sie. Wenn sie einverstanden ist, kannst du mit uns kommen.“ Lea betonte „mit uns“, doch Steffen schien es nicht zu bemerken. „Ich freu mich auf heute Abend“, fuhr er aufgeräumt fort. „Ich bin schon lange nicht mehr mit dir auf einer Fete gewesen.“

„Marc kommt übrigens auch.“ Lea musste es kurz erwähnen, um Steffen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen.

„Aha“, erwiderte der gleichmütig. „Vergiss bloß nicht: Er ist vergeben.“

Lea presste die Lippen aufeinander.

Am Nachmittag verwendete sie sehr viel Zeit darauf, sich zu stylen. Sie tönte ihre blonden Haare und fand, dass ihr der Farbton „Sommerblond“ super stand. Statt des dicken Zopfes, der ihr bis auf den Rücken fiel, trug sie die Haare offen. Wimperntusche und Lidschatten ließen ihre blauen Augen intensiver erscheinen. Der perlmuttrosa Lippenstift sah klasse zu ihrer hellen Haut aus.

Nele war beeindruckt. „Cool!“, sagte sie. „Wenn Marc dich sieht, wird er mit fliegenden Fahnen zu dir überlaufen.“

Wie immer, wenn Lea an Marc dachte, klopfte ihr Herz stärker.

Als Steffen kurz vor halb acht erschien, schaute er Lea bewundernd an. „Toll siehst du aus!“

„Ich etwa nicht?“ Nele baute sich vor ihm auf.

Sein Blick streifte sie. „Doch, du auch“, erwiderte er und sah sofort wieder zu Lea hin.

Die wurde fast ein bisschen verlegen. Sie warf ihre Jacke über, rief ihren Eltern „Tschüss“ zu, streichelte Chipsy zum Abschied und riss die Haustür auf.

Nele und Steffen unterhielten sich auf dem Weg. Lea hörte nur halb zu. Sie überlegte, was sie sagen sollte, wenn sie Marc begegnete. Irgendwas Knackiges, was Originelles. Was Witziges. Bloß nicht so was Langweiliges wie „Hallo“ oder „Hi“.

Leider fiel ihr überhaupt nichts ein. Und was sie tatsächlich sagte, als ihr Marc über den Weg lief, war idiotischer, als sie es sich in ihren schlimmsten Alpträumen hätte ausmalen können. Sie sagte nämlich: „Ach! Bist du auch hier?“ Eine überflüssigere Frage gab es ja wohl kaum. Am peinlichsten aber war, dass Marc sicher haargenau wusste, dass sie wusste, dass er kommen würde. Warum bloß hatte sie etwas dermaßen Dämliches gesagt? Wahrscheinlich, weil sie für einen Moment nicht klar denken konnte und er so toll aussah: groß, schlank und dabei kräftig. Seine schwarzen Haare glänzten, sein tiefdunkler Blick machte sie atemlos.

Steffen spürte wohl ihre Verlegenheit. Er legte den Arm um sie. „Komm, wir holen uns was zu trinken.“

Lea war richtig froh, dass er sie wegführte. Sie brauchte einen Augenblick, um sich zu beruhigen. Mit dem Glas Cola light in der Hand stand sie neben Steffen und sah den Ersten zu, die sich trauten zu tanzen. Langsam wurden es mehr.

„Sollen wir?“

Lea konnte die Frage nur von Steffens Lippen ablesen, die Musik war zu laut. Sie schüttelte den Kopf. „Später“, schrie sie und hob ihr Glas wieder an die Lippen. Mit den Augen suchte sie Marc. Als sie ihn entdeckte, tanzte er gerade mit Nele. Lea stellte sich auf die Zehenspitzen und winkte ihnen zu. Sie winkten zurück.

Auf einmal packte sie Unruhe. Wie kam es, dass Nele mit Marc tanzte? Hatte sie ihn dazu aufgefordert? Oder er sie?

Sie stellte ihr Glas ab, packte Steffen am Arm und zog ihn mit. Geschickt schob sie sich durch die Tanzenden an die beiden heran. Eine Weile tanzten sie zu viert.

Bald merkte Lea, dass sich Nele und Steffen entfernten und sie allein mit Marc tanzte. Ergab es sich zufällig oder hatte jemand das eingefädelt? Womöglich Marc selbst?

Eine neue CD wurde aufgelegt: ein englischer Lovesong mit einer wunderschönen, traurigen Melodie und Worten, die sie zum größten Teil nicht verstand. Die Stimme des Sängers schmeichelte sich in ihr Ohr. Marc legte seine Arme um sie. Es fehlte nicht viel und Lea hätte angefangen zu zittern. „Jetzt fehlt nur noch, dass ich stolpere oder ihn anrempele“, ging es ihr durch den Kopf. „Hoffentlich trete ich ihm nicht auf die Füße.“ Sie schaute zu Marc hoch. Er lächelte.

Da fasste sie jemand an die Schulter. „Tut mir leid“, hörte sie Steffens Stimme. „Wir wurden getrennt.“

Lea warf ihm einen bitterbösen Blick zu. „Wo ist Nele?“, fragte sie.

„Keine Ahnung. Auf einmal war sie weg.“

„Warum hat sie nicht besser aufgepasst?“, dachte Lea wütend. „Ausgerechnet jetzt muss er stören.“

Steffen nahm Lea bei der Hand. Sie wollte sich losreißen, aber er umklammerte sie, schmiegte seine Wange an ihre und drängte sie zurück auf die Tanzfläche.

Lea achtete kaum auf ihn. „Wie komme ich am besten zurück zu Marc?“, überlegte sie. Sie entdeckte ihn am anderen Ende des Raumes. Sie schob Steffen ein Stück von sich weg und reckte den Hals. Er tanzte mit Nele. Schon wieder! Zu allem Überfluss auch noch auf Tuchfühlung.

Der Sänger hauchte sein letztes „I love you“, die Musik verklang.

„Huhu! Hier!“, rief Nele und winkte.

Lea kämpfte sich zu ihnen durch, Steffen folgte ihr. Beide standen stumm dabei, während Nele und Marc lebhaft miteinander redeten. Lea überlegte krampfhaft, was sie zum Gespräch beitragen könnte. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen, doch sobald Marc auftauchte, versandete ihr Gehirn. Ab und zu schaute er sie an, als ob er auf eine Reaktion von ihr warten würde, dann wanderte sein Blick weiter zu Steffen, der dicht neben ihr stand.

Jemand legte eine neue CD auf und drehte die Musik lauter.

„Ich hol mir was zu trinken“, schrie Marc.

„Bestimmt sagt er das nur, damit er einen Abgang machen kann“, dachte Lea resigniert. „Bestimmt kommt er nicht zurück. Kein Wunder, bei solchen Langweilern wie Steffen und mir.“

Neles Lippen bewegten sich.

„Was?“, brüllte Marc. „Ich versteh kein Wort.“

Nele stellte sich auf die Zehenspitzen und schrie ihm ins Ohr.

„Okay.“

Was bedeutete das? Was hatte Nele gesagt? Lea warf ihr einen misstrauischen Blick zu. Sie konnte es kaum glauben, aber es sah verdammt danach aus, als ob ihre beste Freundin gerade den Jungen anbaggerte, in den sie sich bis über beide Ohren verliebt hatte.

Marc kam mit zwei Flaschen Cola zurück. Eine reichte er Nele. Die lächelte ihn strahlend an.

„Zuckersüß!“, dachte Lea. „Wie ein Honigkuchenpferd.“

„Willst du auch?“ Nele hielt ihr die Cola hin.

Lea schüttelte den Kopf.

Nele nahm ein paar Schlucke, setzte die Flasche ab und rief: „Kommt, wir tanzen!“ Mit der einen Hand zog sie Lea, mit der anderen Marc auf die Tanzfläche. Steffen kam hinterher.

Ehe Lea es sich versah, tanzte sie mit Steffen und Nele – wie konnte es anders sein? – mit Marc. Aus den Augenwinkeln beobachtete sie die beiden. Wie die sich an ihn ranschmiss! Nie hätte sie ihr das zugetraut!

Auf einmal hielt Lea es keine Sekunde länger aus. „Ich will nach Hause“, brüllte sie Steffen ins Ohr.

„Okay.“

Sie zupfte Nele am Ärmel. „Ich hau ab.“

Nele stockte mitten in der Bewegung. Marc schaute sie ebenfalls verwundert an.

„Jetzt schon?“

„Mir ist nicht gut“, log sie.

„Soll ich mitkommen?“

„Nein“, schrie Lea. Genau da hörte die Musik auf. Doch es war bereits zu spät, um den nächsten Satz hinunterzuschlucken. Jeder konnte hören, wie sie hinzufügte: „Amüsier du dich ruhig weiter mit Marc!“

Viele drehten sich nach ihr um.

Marc zog eine Braue hoch.

„Was soll das heißen?“, fragte Nele empört.

Lea spürte, wie sie puterrot wurde. Zu allem Überfluss stiegen ihr auch noch Tränen in die Augen. Sie senkte den Kopf. Ohne Nele und Marc eines weiteren Blickes zu würdigen, hastete sie mit Steffen im Schlepptau zur Tür.

Die Musik setzte wieder ein. Wegen der Tränen konnte sie nicht richtig gucken. Steffen reichte ihr ein Papiertaschentuch, grub ihre Jacke unter den vielen anderen hervor, half ihr hinein und führte sie hinaus.

Die kalte Nachtluft tat gut, wenn sie auch nichts an der Traurigkeit und Wut änderte, die sie erfüllten. Am liebsten wäre Lea jetzt allein gewesen.

Steffen schien das zu spüren, denn auf dem Heimweg sagte er kaum ein Wort. Er brachte sie bis an die Haustür. „Gute Besserung“, wünschte er.

„Warum sagst du das? Ich bin doch nicht krank!“, fuhr Lea ihn an.

„Ich dachte, dir wäre schlecht.“

„Ach so, ja, danke“, würgte sie hervor und verschwand blitzschnell im Haus.

Kapitel 3


Als Lea am nächsten Tag wach wurde, war ihr erster Gedanke: „Nele, dieses Biest!“ Mit der Faust schlug sie auf die Bettdecke.

Chipsy, die in ihrem Körbchen neben dem Bett schlief, richtete sich auf und schaute sie aufmerksam an.

„Die Menschen sind so gemein“, sagte Lea zu ihr.

Chipsy sprang aufs Bett, wedelte mit dem Schwanz und leckte ihr über den Arm.

„Aber du bist lieb, Chipsy.“ Lea streichelte den kleinen Hund. Der rollte sich zusammen und schloss genüsslich die Augen. „Auf Hunde kann man wenigstens zählen“, dachte Lea. „Die bleiben einem immer treu.“

Sie hatte keine Lust aufzustehen. Keine Lust zu lesen. Schlafen konnte sie auch nicht mehr. Sie lag nur da, starrte an die Decke und hing beunruhigenden Gedanken nach. Wie lange waren Nele und Marc auf der Fete geblieben? Hatte er sie nach Hause gebracht? Womöglich sogar geküsst?

Lea stöhnte und wälzte sich auf die Seite.

Der Westie hob wieder den Kopf. Lea kraulte ihn hinter den Ohren. „Wie soll ich das bloß aushalten?“, fragte sie ihn. „Wenn ich mir vorstelle, dass ich in Zukunft zugucken muss, wie Marc mit Nele zusammen ist ...“

Chipsy regte das nicht weiter auf. Sie klopfte kurz mit dem Schwanz auf die Bettdecke und kuschelte sich an sie.

Als Lea endlich aufstand und in die Küche ging, war es schon Mittagszeit. „Das Essen ist gleich fertig“, sagte ihre Mutter. „Nele hat übrigens schon zweimal angerufen.“

„Von mir aus“, brummte Lea.

Frau Sonnenfeld warf ihr einen prüfenden Blick zu. „Streit gehabt?“

„Nein, nein“, versicherte Lea schnell. Im Augenblick verspürte sie nicht die geringste Lust, ihrer Mutter von Nele und Marc zu erzählen. Vielleicht später.

Sie setzte sich an den Tisch. „Ich ruf keinesfalls zurück“, dachte sie. „Da kann Nele warten, bis sie schwarz wird.“

Als jedoch nach dem Essen das Telefon erneut schellte, hielt sie es doch nicht aus. Sie wollte unbedingt wissen, was gestern Abend passiert war.

„Hallo, Lea“, hörte sie Neles muntere Stimme, „bist du wieder fit?“

Statt einer Antwort brach es aus ihr hervor: „Was war mit Marc?“

Nele schien verwirrt. „Was soll mit ihm gewesen sein?“

„Stell dich nicht blöder, als du bist.“

Nele wurde ärgerlich. „Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst.“

„Wie ging es weiter mit dir und Marc?“

„Wie es weiterging? Du sprichst in Rätseln.“

Wutentbrannt drückte Lea das Gespräch weg. So dumm, wie Nele sich stellte, konnte sie nicht sein! Und dass sie tat, als hätte sie nicht die geringste Ahnung, bewies genug. Da war was faul. Oberfaul! Dass Nele so schäbig war, hätte sie nie, nie, nie von ihr gedacht!

Das Telefon klingelte wieder.

Lea ließ es schellen, holte ihre Jacke und ging hinaus in den Garten.

Steffen saß auf dem Mäuerchen. Der Wind spielte mit seinen feinen, hellbraunen Haaren. Man merkte deutlich, dass er nicht wusste, wie er sich verhalten sollte. „Wie geht es dir?“, fragte er vorsichtig.

„Bescheiden.“

„Was ist los?“

„Ach ...“ Lea ließ sich neben ihm nieder. „Ich bin einfach nicht gut drauf.“

Seine braunen Augen blickten sie besorgt an. „Ist es wegen Marc?“

Dabei klang seine Stimme so mitfühlend, dass es aus ihr hervorbrach: „Und wegen Nele. Sie hat sich an Marc rangemacht, obwohl sie weiß ..., obwohl ich ...“ Tränen erstickten ihre Stimme.

Steffen legte den Arm um sie. „Hau ein Ei drüber“, murmelte er an ihrem Ohr. „Du bist auf die beiden nicht angewiesen. Du hast doch mich!“

Lea richtete sich auf und lächelte schwach.

Ihre Mutter erschien in der Terrassentür. „Nele ist da!“, rief sie.

„Auch das noch!“ Lea stand auf.

„Soll ich mitkommen?“

„Nee, lass mal. Tschüss, Steffen. Und vielen Dank.

„Wenigstens ihm kann ich vertrauen“, dachte sie, als sie auf das Haus zuging.

Nele wartete in ihrem Zimmer. „Was ist eigentlich in dich gefahren?“, fiel sie mit der Tür ins Haus.

„Das könnte ich eher dich fragen“, fauchte Lea sie an. „Eine schöne Freundin bist du! Gräbst Marc an, ausgerechnet Marc! Den Jungen, der mir ... in den ich ...“

„In den du verliebt bist“, ergänzte Nele. „Das weiß ich doch. Genau aus diesem Grund würde ich mich nie an ihn ranschmeißen.“

„Ach nee!“, rief Lea aufgebracht. „Deshalb bist du ihm wohl auch den ganzen Abend nicht von der Seite gewichen? Oder sehe ich das falsch?“

„Das siehst du ganz falsch“, erwiderte Nele wütend. „Kapierst du nicht, dass ich das alles nur wegen dir gemacht habe?“

ßü