Manuel Neff

alias

Sophie Lang

 

 

 

Der magische Adventskalender

&

Das Licht der Weihnacht

 

2. Band der Reihe

 

 

 

Herzlichen Dank an die Testleser:

Christine Rauth, Kathrin Schwaabe, Lynn Blume, Plume Bouquet, Susanne Neff, Tamara Murgia

Glossar zu Band 1:

 

Kraftgegenstände:

Kraftgegenstände verleihen ihrem Besitzer besondere Fähigkeiten. Die Kraftgegenstände haben ein gewisses Eigenleben. Nicht jeder kann sie benutzen oder gleich gut benutzen. Es kann auch nicht jeder gleich viele Kraftgegenstände mit sich herumtragen. Kinder können in der Regel höchstens drei zur gleichen Zeit besitzen. Wenn man einen Kraftgegenstand einsetzt, dann entzieht er Energie, wodurch man schneller müde wird.

 

Krafttränke:

Ein Krafttrank verleiht demjenigen, der ihn trinkt, für eine gewisse Zeit besondere Fähigkeiten. Man könnte sagen, ein Krafttrank ist so etwas wie ein Zaubertrank. Krafttränke sind mit viel Sorgfalt und Vorsicht zu genießen. Man könnte sonst sehr leicht verletzt werden. Und damit sind nicht nur Bauchweh oder sonstige Kleinigkeiten gemeint. Nein, man könnte erblinden, die Stimme verlieren oder sogar sterben. Es gibt eine Geschichte über einen Hüter, der einen gefährlichen Krafttrank zu sich nahm und sich daraufhin sofort in Luft auflöste.

 

Hüter:

Die Hüter bewachen die Weltentore und somit die Verbindung zwischen zwei Planeten. Es gibt auf jeder Seite eines Weltentors mindestens einen Hüter.

 

Weltentore:

An den Tagen vor Weihnachten öffnen sich die Weltentore, welche verschiedene Planeten miteinander verbinden. Das ist schon seit über 2000 Jahren so und wird bestimmt auch die nächsten 2000 Jahre so bleiben. Die bisher entdeckten Weltentore schließen sich am 24. Dezember um genau null Uhr.

 

Ganesha:

So nennt man die Welt, aus der die Pauwdies und Kasimir kommen. Der Planet Ganesha ist riesig und fast genauso groß wie die Erde.

 

Erwähnenswerte Kraftgegenstände aus Band 1:

 

Luminova-Aufspürbrille:

Zeigt mit einer orangenen Spur den Weg zum Ziel.

 

Übersetzerohrringe:

Man kann jede Sprache des Universums sprechen und schließt schnell Freundschaft.

 

Schutzamulett:

Warnt vor Gefahren.

 

Lavahalskette:

Erzeugt Wärme.

 

 

Erwähnenswerte Krafttränke aus Band 1:

 

Beinmachtrank:

Zusammen mit einem kleinen Diamanten erweckt er Dinge für einen bestimmten Zeitraum zum Leben. So wurden Lanzelot, der Stoffhase und Thomas, das Kissen, zum Leben erweckt.

 

Unsichtbarkeitswasser:

Macht für eine gewisse Zeit unsichtbar.

 

1. Kapitel - Nachricht aus Ganesha

 

Paolo und Lara sitzen in ihren Schlafanzügen auf Paolos Bett und spielen mit Thomas, dem lebendigen Kissen und Lanzelot, dem zum Leben erweckten Stoffhasen Karten.

»Du bist mit Mischen dran«, sagt Lanzelot zu Thomas.

Das Kissen will die Spielkarten mit den Kissenzipfeln aufnehmen, was ihm verständlicherweise nicht gelingt.

»Ich übernehme das für dich«, lächelt Paolo und mischt für Thomas die Karten. Die vier versuchen seit Tagen, die Zeit zu überbrücken, denn sie können es kaum erwarten, dass endlich die Adventszeit beginnt.

»Morgen früh machen wir das erste Türchen an dem magischen Adventskalender auf«, flüstert Paolo und gibt die Karten aus.

»Ich bin so gespannt«, gesteht Lara. Ihr Handy gibt einen Klingelton von sich, der sich wie das Zwitschern der Pauwdies anhört und Lara wirft einen Blick auf die eingehende Nachricht.

»Ist es Rudi?«, erkundigt sich Lanzelot.

»Nein, Pauwdies haben doch keine Handys. Und außerdem ist die einzige Verbindung zwischen der Erde und Ganesha der magische Adventskalender und kein Handynetz.«

»Und die Spiegel. Hast du denn schon vergessen, dass die Pauwdies durch die Spiegel auf die Erde gelangen können?«, sagt Lanzelot.

»Nicht durch alle Spiegel.«

»Aber viele und sie borgen sich nach wie vor einzelne Socken aus«, schmunzelt Lara. »Es ist eine Nachricht von Lynn. Sie fragt, ob wir diese Woche zusammen Schlittschuhlaufen gehen. Sie schreibt, dass der See zugefroren ist und das Eis schon dick genug dafür sei.«

»Hört sich nach viel Spaß an«, sagt Lanzelot und spielt eine Herzdame aus.

»Ich kann nicht Schlittschuhlaufen«, murmelt Lara und sticht seine Karte mit einem Ass ab.

»Wisst ihr, auf was ich mich so richtig freue?«, beginnt Paolo.

»Woher sollen wir es denn wissen? Wir sind doch keine Hellseher oder sehe ich etwa so aus?«

Paolo schaut den Hasen genervt an.

»Nein, du siehst nicht wie ein Prophet aus. Wollt ihr es trotzdem wissen?«

»Du wirst es uns ja sowieso gleich sagen.«

»Genau! Ab Mitternacht funktionieren alle Kraftgegenstände wieder«, teilt Paolo mit.

»Darauf freue ich mich auch. Ich kann es kaum abwarten, wieder geschrumpft zu werden und der Stadt der Pauwdies einen Besuch abzustatten. Wir haben Kasimir und Rudi wirklich schon lange nicht mehr gesehen«, gesteht Lara.

»Fast ein ganzes Jahr, um genau zu sein.«

»Wen wollt ihr besuchen?«, fragt plötzlich ihre Mutter, die in diesem Moment zusammen mit Vater Maring in Paolos Zimmer kommt.

»Och, wir wollen nur den Kartoffelköpfen auf Ganesha hallo sagen«, plappert Lanzelot drauf los. Paolo und Lara schauen den Hasen streng an. Sie wollten ihren Eltern doch so wenig wie möglich erzählen, damit sie sich keine Sorgen machen.

»Da haben wir dann wohl noch ein Wörtchen mitzureden«, sagt Vater Maring. »Vielleicht kommen wir ja dieses Mal mit, ich würde diese Pauwdiestadt auch gern einmal besuchen.«

»Das ist nichts für Erwachsene«, platzt es aus Paolo heraus, der sich beim besten Willen nicht vorstellen kann, zusammen mit seinen Eltern durch das Weltentor des magischen Adventskalenders zu springen.

»Wieso denn nicht?«, fragt die Mutter, während sie sich auf das Bett setzt und beginnt die Karten aufzuräumen. »Das wäre doch schön, wenn wir zusammen eine Reise unternehmen würden. Na ja, ihr könnt euch das ja mal überlegen. So, jetzt ist es aber Zeit zum Schlafen. Ich wünsche euch eine gute Nacht«, verabschiedet sie sich und gibt allen nacheinander einen dicken Kuss auf die Stirn. Sogar Thomas und Lanzelot bekommen einen Schmatzer. Sie sind im letzten Jahr richtige Familienmitglieder geworden.

»Ich wünsche euch auch eine gute Nacht und tausend schöne Träume«, ergänzt ihr Vater. »Lara, Lanzelot? Wollt ihr laufen oder reiten?«

»Reiten«, ruft Lanzelot begeistert und springt dem Vater direkt auf den Rücken. Lara klettert hinterher und dann macht Vater Maring Geräusche wie ein Pferd und galoppiert Richtung Ausgang. Plötzlich bleibt er stehen, dreht sich noch einmal um und schaut Paolo an.

»Paolo, du bist der Älteste und trägst die Verantwortung. Du weißt ja Bescheid, was wir abgemacht haben. Das erste Türchen wird erst morgen früh aufgemacht. Keine Aktionen um Mitternacht wie letztes Jahr. Verstanden?«

»Ja, Papa«, antworten Paolo und Lara gleichzeitig.

»Versprecht es mir!«

»Wir haben es dir doch schon hundert Mal versprochen.«

»Dann versprecht ihr es mir eben zum hundertundeinsten Mal!«

Paolo und Lara verdrehen die Augen, tun ihrem Vater aber den Gefallen. Die Kinder legen ihre Hände auf die Brust und schwören es.

»Und noch etwas. Richtet den Pauwdies bitte aus, dass sie dieses Jahr meine Schuhe, den Rasierapparat und alle andere Sachen in Ruhe lassen sollen.«

»Klar Papa, wir richten es den Pauwdies aus.«

»Und jetzt schwört ihr mir noch etwas«, fährt er fort und macht eine rhetorische Pause. Paolo sieht seinen Vater fragend an. Was kommt jetzt? Herr Maring hat einen wirklich ernsten Gesichtsausdruck aufgesetzt. »Ihr haut nicht wieder von Zuhause ab. Eure Mutter hat sich letztes Jahr unendlich viele Sorgen gemacht!«

»Wir sind nicht von Zuhause abgehauen. Das war alles ein unglücklicher Zufall und daran Schuld hatte am Ende dieser Kraftgegenstand«, versucht, Paolo zu erklären.

»Ja ja, das Zepter. Gut, dass ich es im Tresor eingeschlossen habe. Dann kann dieses Jahr ja nichts Gefährliches passieren. Okay, dann versprecht mir eben, dass ihr auf der Erde bleibt.«

»Aber Papa! Wir freuen uns doch schon so lange darauf, unsere Freunde zu treffen«, bettelt nun Lara, so lieb sie kann und versucht ihren Vater umzustimmen.

»Das verstehe ich natürlich. Trotzdem geht ihr nicht ohne unsere Erlaubnis. Übrigens finde ich die Idee von Mama gar nicht so verkehrt. Vielleicht besuchen wir ja auch zusammen die Stadt der Pauwdies.«

Paolo und Lara schauen sich entsetzt an.

»So und jetzt schwört es!«

»Wir versprechen es«, sagen Paolo und Lara zeitgleich und legen eine Hand zum Indianerehrenwort auf die Brust. Was ihr Vater nicht sieht, ist, wie die beiden die Finger ihrer anderen Hand kreuzen. Das können sie ihrem Vater wirklich nicht versprechen, schließlich ist Paolo der Hüter eines Weltentores. Doch für den Moment scheint ihr Vater beruhigt zu sein.

»Soll ich den Kater hierlassen?«, fragt er, kommt nochmal näher und gibt Paolo einen Kuss auf die Stirn.

»Ne, der schnarcht«, lacht Paolo.

»Er kann bei mir schlafen«, schlägt Lara vor.

»Jojo, du hast sie gehört. Lara gewährt dir Obdach.«

»Bis um Mitternacht«, flüstert Paolo und nickt Lara zu. Sie versteht sein Augenzwinkern sofort und grinst.

 

Es ist kurz nach Mitternacht, als leise Schritte über den eiskalten Küchenfußboden tapsen. Jetzt ist es endlich wieder soweit und Paolo wird gleich das erste Türchen des magischen Adventskalenders öffnen.

Paolo blickt den Kalender an. Er hat kein bisschen von seiner Schönheit eingebüßt. Die goldenen Farben, Planeten und Linien, die alles perfekt miteinander verbinden, sehen einfach toll aus. Alle Vier schauen Paolos Kraftgegenstand voller Faszination an.

Es ist ziemlich genau ein Jahr her, als die vier durch den magischen Adventskalender gesprungen sind und auf Ganesha das aufregendste Abenteuer ihres Lebens erlebt haben. Bis heute wissen nur wenige Menschen von der Existenz des magischen Adventskalenders. Außer den Familien Maring und Rensing weiß keiner, dass es Pauwdies, also kleine Kartoffelwesen, gibt. Leider haben die hohlen Kartoffelköpfe, wie sie Lanzelot immer noch nennt, nicht verstanden, dass die Menschen mit einem einzelnen Socken nichts anzufangen wissen. So gibt es in allen Haushalten der Welt immer noch diesen mysteriösen verschwundenen Socken. Und das nur, weil die Socken den Pauwdies als Schlafsäcke dienen.

Bis heute wissen auch nur wenige von der Existenz der Kraftgegenstände, wie zum Beispiel der Luminova-Aufspürbrille, welche Paolo den Weg weist, wenn er sich auf ein Ziel konzentriert. Oder dem Blitzstein, der immer wieder zu seinem Besitzer zurückkehrt, nachdem man ihn geworfen hat. Und natürlich den Übersetzerohrringen, die alle Sprachen des Universums übersetzen können und mit denen Lara auch in der Lage ist, sehr schnell Freundschaften zu schließen. Aber es gibt auch gefährliche Kraftgegenstände, die ihren eigenen Willen haben, wie das Diamantzepter, welches aus diesem Grund sicher verstaut im Tresor ihres Vaters eingeschlossen ist. Und niemand, außer den vier Abenteurern, weiß, dass es Krafttränke gibt. Also ist auch der Wachmix geheim, mit dem man nächtelang durchhalten kann, ohne müde zu werden. Und auch das Unsichtbarkeitswasser, welches einen tatsächlich unsichtbar macht. Oder der Beinmachtrank, mit dem sie Thomas und Lanzelot zum Leben erweckt haben. Das alles ist ein gut behütetes Geheimnis.

Und wenn es nach den Regeln der Hüter der Weltentore geht, dann soll das auch so bleiben. Was wäre sonst auf der Welt los, wenn alle wüssten, dass noch viele andere Planeten existieren, auf denen es andere Lebewesen gibt und dass man durch sogenannte Weltentore dorthin gelangen kann. Wie der Planet Ganesha auf dem kartoffelartige Pauwdies, käferartige Grocks, der haarige Kasimir und viele, viele andere Wesen mit sechs Fingern und sechs Zehen friedlich zusammenleben.

Für Lara und Paolo hat sich seit dem Abenteuer auf Ganesha einiges verändert, aber das meiste ist gleich geblieben. Sie gehen natürlich immer noch zur Schule oder spielen mit ihren Freunden und sind im Grunde zwei ganz normale Kinder. Selbstverständlich streiten sie sich auch manchmal. Aber nur wenn es sein muss. Lara ist mittlerweile zehn und Paolo elf Jahre alt und beide haben das Erbe ihrer Oma Luise angetreten, um das Weltentor des magischen Adventskalenders zu beschützen. Paolo ist ja schließlich ein Hüter und Lara ist ein ganz besonders Mädchen, denn sie ist als einzige in der Lage, mehr als drei Kraftgegenstände gleichzeitig zu tragen.

 

»Mach schon auf!«, fleht Lara ihren Bruder ungeduldig an. Sie kann es kaum erwarten, Kasimir endlich wieder zu sehen und Neuigkeiten aus der Stadt der Pauwdies zu erfahren.

»Tu das, was Lara dir sagt!«, fügt Lanzelot hinzu. Thomas mischt sich nicht ein, sondern schaut nur mit seinen süßen Knopfaugen erwartungsvoll auf den magischen Adventskalender.

Paolo freut sich schon sehr lange auf diesen Moment und obwohl er am liebsten sofort das Türchen aufreißen würde, klopft er dennoch sachte an. Paolo kann sich immer noch lebhaft daran erinnern, wie das vor einem Jahr war. Kasimir hätte ihm damals fast den ganzen Finger abgebissen.

»Kasimir, bist du Zuhause?«, fragt Paolo leise, als sein Freund nicht auf das Klopfen reagiert.

Kasimir antwortet nicht.

»Ist er nicht da?«, fragt Lara überrascht.

»Ich weiß nicht. Er macht nicht auf.«

Paolo legt sein Ohr an den Adventskalender, um zu lauschen. Er kann zwar nichts hören, aber dafür bemerkt er, dass der Kalender ziemlich kalt ist. Er reibt sich sein Ohr, um es wieder aufzuwärmen.

»Die Oberfläche ist eiskalt.«

»Und was ist mit Kasimir?«

»Hinter dem ersten Türchen ist es mucksmäuschenstill. Was sollen wir denn jetzt machen?«

»Wir machen es einfach auf, was denn sonst«, schlägt Lanzelot vor. Paolo ist selten der gleichen Meinung wie der Hase, aber dieses Mal hat Lanzelot vermutlich recht. Also versucht er vorsichtig, das erste Türchen zu öffnen. Paolo muss jedoch feststellen, dass es sich keinen Millimeter bewegen lässt. Auch dann nicht, als er kräftiger daran zieht.

»Es geht nicht auf«, stellt er verwirrt fest.

»Vielleicht erlaubt sich Kasimir einen Scherz. Erinnerst du dich noch an letztes Jahr? Damals hat er es doch von innen zugehalten«, versucht Lara, eine Erklärung für das verschlossene Türchen zu finden.

Paolo runzelt seine Stirn. Irgendetwas ist hier höchst seltsam.

»Warum ist der Kalender so kalt?«, fragt er sich.

»Kasimir bist du Zuhause?«, flüstert Paolo aufs Neue und klopft etwas kräftiger als zuvor auf den Adventskalender. Aber Kasimir will einfach nicht antworten.

»Komisch«, grunzt Thomas.

»Lass mich mal ran«, posaunt Lanzelot, der natürlich viel zu klein ist, um den Kalender mit seinen Pfoten zu erreichen. »Lara, würdest du mich bitte hochheben. Ich zeige mal Paolo, wie man das richtig macht.«

»Lass mal gut sein, ich glaube, Paolo kennt sich bestens aus. Er ist schließlich der Hüter des Weltentores.«

»Wenn du das sagst«, murmelt Lanzelot und klingt ein bisschen enttäuscht.

Paolo legt erneut seine Hand auf das erste Türchen. Es fühlt sich an, als komme es direkt aus dem Tiefkühlschrank.

»Was machst du da?«, fragt Lanzelot.

»Der Kalender ist eiskalt. Das ist komisch.«

»Eiskalt, sagst du?«, wiederholt Lara und legt ihre Stirn in Falten. Das tut sie seit Neustem immer dann, wenn sie angestrengt überlegt.

»Zugefroren«, grunzt Thomas.

»Ja natürlich! Das könnte tatsächlich der Grund sein, warum das Türchen nicht aufgeht«, sagt Paolo. »Aber warum sollte denn der Kalender zugefroren sein?«

»Ich habe eine Idee!«, ruft Lara plötzlich und schiebt Paolo zur Seite. »Darf ich mal?«

»Was hast du vor?«

»Ganz einfach, ich werde das erste Türchen mit der Lavahalskette auftauen.«

»Der Lavastein funktioniert doch noch nicht«, sagt Lanzelot.

»Oh, da irrst du dich aber gewaltig, mein lieber Hase. Seit genau um Mitternacht laufen alle Kraftgegenstände wieder wie geölt. Das liegt daran, dass die magische Verbindung der Planeten Erde und Ganesha wieder hergestellt ist.«

Lanzelot nickt als Zeichen dafür, dass er es kapiert hat und Lara legt eine Hand auf die Lavahalskette und die andere auf die Oberfläche des Adventskalenders. Sie schließt die Augen, konzentriert sich und der Lavastein fängt an, zu glühen. Kurz darauf ist ein leises Knacken zu hören, wie es Paolo vom Eisfach des Kühlschranks her kennt.

»Autsch!«, zischt Lara plötzlich, zieht die Lavahalskette aus und lässt sie auf den Boden fallen.

»Ist sie zu heiß geworden?«, fragt Paolo verwundert und schaut die Kette an. Der Lavastein hat aufgehört zu glühen. Stattdessen bilden sich jetzt auf seiner Oberfläche und rings um den Stein kleine Eiskristalle auf dem Fußboden.

»Nein, ganz im Gegenteil. Sie ist eiskalt geworden«, antwortet Lara. Paolos Schwester bückt sich, um die Kette wieder hochzunehmen, aber sie schafft es nicht.

»Sie ist am Boden festgefroren.«

»Ich helfe dir«, bietet sich Lanzelot an und mit vereinten Kräften lösen sie den festgefrorenen Lavastein vom Boden.

»Komisch! Da stimmt doch etwas nicht. Erst ist der Kalender kalt und jetzt auch noch deine Kette.«

Paolo wendet sich wieder dem ersten Türchen des magischen Adventskalenders zu und versucht, es erneut zu öffnen. Dank der Lavahalskette klappt es dieses Mal tatsächlich. Das Türchen schwingt auf und alle blicken auf die dicke Eisschicht, die sich direkt dahinter befindet. Der Eingang zur Höhle ist komplett zugefroren. Hinter dem Eis sieht Paolo das Licht des Weltentores sanft leuchten.

»Seit wann wird es denn auf Ganesha so kalt?«, fragt Lara überrascht. Genau in diesem Moment geht das Licht in der Küche an und Vater Maring kommt herein.

»Oh, nein«, denkt Paolo.

»Paolo? Du hast dein Versprechen gebrochen«, beginnt sein Vater sofort.

»Papa?«

»Ihr habt versprochen, bis morgen früh zu warten.«

»Wir ...«, stottert Paolo, bringt aber keinen weiteren Ton heraus.

»Ich bin enttäuscht von dir! Von euch allen! Ihr geht jetzt sofort zurück auf eure Zimmer und ins Bett! Bewegung!«

Die Kinder lassen betroffen ihr Köpfe hängen und tun, was ihr Vater ihnen befiehlt.

»Papa ist ziemlich sauer«, flüstert Lara.

»Er hat auch allen Grund dazu«, antwortet Paolo.

 

Am nächsten Morgen wird Paolo von seinem wütenden Vater geweckt.

»Alle Socken sind wie vom Erdboden verschluckt. Würdest du bitte den Pauwdies ausrichten, dass sie das wieder in Ordnung bringen sollen? Und zwar sofort! Es ist Winter und ich kann beim besten Willen nicht ohne Socken zur Arbeit gehen«, flucht Vater Maring.

»Paolo! Lara!«, hört er ohne jeden Übergang seine Mutter aus dem Badezimmer rufen.

Paolo ist noch gedanklich damit beschäftigt, sich zu fragen, warum die Pauwdies alle Socken ausgeliehen haben, als Lara mit einem Mal in sein Zimmer stürmt.

»Paolo hast du es schon gehört? Die Pauwdies waren im Haus«, freut sich Lara und zieht ihn aus dem Bett, um mit ihrem Bruder Richtung Badezimmer zu eilen.

Als sie dort ankommen, sehen sie ihre Mutter im rosaroten Morgenmantel vor dem Spiegel stehen.

»Schaut euch das mal an! Könnt ihr mir das vielleicht erklären?«, fragt sie und zeigt auf den Badezimmerspiegel. Paolo reibt sich in den Augen. Träumt er etwa noch? Tausende winzige Eiskristalle ziehen sich über die ganze Spiegeloberfläche und direkt aus der Spiegelmitte ragt die Hälfte eines Briefumschlages heraus. So als hätte ihn jemand von der anderen Seite durch das Glas gesteckt, es aber nicht mehr ganz geschafft, bevor der Spiegel zugefroren ist.

»Von wem ist dieser Brief?«, fragt Paolo.

»Ich dachte, ihr wüsstet das?«

»Vielleicht eine Nachricht von Kasimir und Rudi«, vermutet Lara.

»Und dieses Fläschchen lag im Waschbecken«, sagt ihre Mutter verwirrt und hält einen winzigen Glasbehälter in die Höhe.

Lara nimmt die kleine Flasche in ihre Hand und liest vor, was auf dem Etikett steht.

»Halbfertiges Unsichtbarkeitswasser«, entschlüsselt sie Kasimirs Handschrift. Paolo will inzwischen den Brief aus dem Spiegel herausziehen, doch bei dem Versuch bricht er in zwei Teile. Die erste Hälfte hält Paolo in der Hand und die zweite steckt unerreichbar auf der anderen Seite des Spiegels fest.

Paolo faltet den zerrissenen Brief auf und liest den verbleibenden Inhalt vor.

»Es ist wirklich eine Nachricht von Kasimir.«

 

»Hallo Paolo, Hüter des Weltentores der Erde. Hallo mächtige Lara und auch ein herzliches hallo an den tapferen Lanzelot, den weisen Thomas und natürlich ein freundliches hallo an die Eltern.

Leider ist dies der einzige Weg, um mit euch Kontakt aufzunehmen und ich fürchte, selbst die Spiegel sind nicht mehr lange vor dem Eisfrost sicher.

Zunächst will ich euch herzlich Grüßen und hoffe, es geht euch gut. Viele Grüße auch von Rudi, der sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, damit euch diese Nachricht noch rechtzeitig erreicht. Wir befürchten, schon bald werden alle Spiegel, durch welchen die Pauwdies auf die Erde gelangen können, zugefroren sein. Deshalb haben sie vorgesorgt und sich mehr Socken als gewöhnlich ausgeliehen. Rudi entschuldigt sich dafür, aber sie brauchen die Schlafsäcke, damit sie nicht erfrieren. Sobald die Kälte überstanden ist, bekommt ihr alles wieder zurück. Versprochen!

Doch nun zu einem anderen Thema, denn wie schon gesagt, die Zeit eilt. Wir benötigen Eure Hilfe!

Ganesha versinkt in Schnee und Eis. Die Stadt der Pauwdies ist von der Außenwelt abgeschnitten und wie ihr vielleicht schon bemerkt habt, ist auch das Weltentor zugefroren. Da hilft selbst Laras Lavahalskette nicht mehr. Die meisten von uns haben sich zum großen Baum im Urwald zurückgezogen. Das ist der einzige Ort auf ganz Ganesha, an dem es noch einigermaßen warm ist. Wir hoffen, dass euch diese Nachricht erreicht, denn das Gleichgewicht in der Magie ist gestört und der Eisfrost breitet sich immer weiter aus. Sollte niemand in der Lage sein, ihn aufzuhalten, dann versinken nicht nur Ganesha und bald auch die Erde in Eis und Schnee, sondern es wird auch die Magie der heiligen Weihnacht in den Herzen der Menschen erlöschen.

Doch es gibt Hoffnung. Ihr müsst unbedingt das Licht der Weihnacht finden und mit ihm das Feuer in der magischen Laterne entflammen. Das ist eine schwierige und gefährliche Aufgabe, aber ich weiß, mit Hilfe von Paolos Aufspürbrille könnt ihr das schaffen. Außerdem wird euch die kleine Feder dabei helfen. Leider ist sie ziemlich scheu und auch etwas tollpatschig. Habt Geduld mit ihr, auch wenn die Zeit eilt.

Für alle Fälle habe ich für euch ein Fläschchen mit Unsichtbarkeitswasser hergestellt. Leider ist es in der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung stand, nicht ganz fertig geworden. Es gibt gewisse Nebenwirkungen, auf die ihr unbedingt achten solltet. Und jetzt erkläre ich euch wie, ...

 

Paolo hört mitten im Satz auf zu lesen.

»Was ist los, warum liest du nicht weiter?«, fragt Lara.

»Das ist die eine Hälfte des Briefes. Der zweite Teil steckt auf der anderen Seite des Spiegels fest«, antwortet Paolo und zeigt auf die zugefrorene Spiegeloberfläche.

»Was ist das Licht der Weihnacht? Was hat diese Nachricht zu bedeuten?«, fragt ihre Mutter, die irgendwie hilflos neben ihren Kindern steht und von einem zum anderen blickt. Ihre Eltern haben sich zwar mittlerweile daran gewöhnt, dass Paolo und Lara anders sind als andere Kinder, aber die Kraftgegenstände und die ganze Magie sind für ihre Mutter nach wie vor ein Mysterium.

»Kasimir braucht unsere Hilfe«, erklärt ihr Paolo kurz und bündig.

»Wir müssen das Licht der Weihnacht finden und mit ihm das Feuer in der magischen Laterne entflammen. Und die kleine Feder wird uns dabei helfen«, fasst Lara etwas ausführlicher den Inhalt der Nachricht zusammen. »Vermutlich müssen wir wieder in den Kalender springen, sofern es uns gelingt, ihn aufzutauen«, überlegt Lara, die bereits Pläne schmiedet. »Aber Kasimir hat gesagt, dass die Lavahalskette nicht funktionieren wird«, fügt sie nachdenklich hinzu und legt ihre Stirn in Falten.

»Ihr müsst überhaupt nichts! Ihr geht nirgendwo hin! Ich verkrafte das kein zweites Mal. Ich hatte letztes Jahr solche Angst um euch!«, stammelt nun ihre Mutter nun völlig aufgelöst.

Paolo schaut seine Mutter erschrocken an. Sie ist den Tränen nahe.

»Mama, uns passiert schon nichts«, versucht Paolo, seine Mutter zu beruhigen.

»Und wer kann uns das garantieren?«, fragt ihr Vater, der in diesem Augenblick das Badezimmer betritt.

»Die Magie von Weihnachten ist in Gefahr! Wir müssen das Licht der Weihnacht finden«, wiederholt Paolo Kasimirs Worte.

»So einen Quatsch habe ich ja noch nie gehört. Es gibt kein Licht der Weihnacht.«

»Kasimir hat geschrieben, dass ...«

»Schluss jetzt mit dem Unsinn! Ich habe ein viel wichtigeres Thema, das ich mit euch besprechen muss. Wir haben so gut wie keine Socken mehr im Haus! Und außerdem bin ich der gleichen Meinung wie eure Mutter. Dieses Jahr gibt es keine gefährlichen Abenteuer und keine riskanten Reisen auf andere Planeten.«

»Aber Papa!«, protestiert Paolo. »Ich verspreche dir, dass ...«

»Du hast heute Nacht ein Versprechen gebrochen und mich sehr enttäuscht. Ich lasse nicht mit mir diskutieren. Keine Widerrede mehr!«

»Haben wir jetzt etwa Hausarrest?«, fragt Lara leise.

»So kann man das sagen. Ihr bleibt bis Weihnachten in der Stadt und damit ihr auf keine dummen Gedanken kommt, gebt ihr mir jetzt eure magischen Gegenstände.«

»Kraftgegenstände«, grunzt Thomas.

»Was sagt das Kissen?«

»Man nennt sie Kraftgegenstände und nicht magische Gegenstände«, erklärt Paolo seinem Vater.

»Dann heißen sie eben Kraftgegenstände.«

»Papa, ich bitte dich, das kannst du doch nicht machen«, bemüht sich Paolo noch einmal, seinen Vater umzustimmen.

»Und ob ich das kann.«

»Mama, sag doch auch mal was«, fleht Lara ihre Mutter an.

»Euer Vater hat vollkommen recht. Es ist das Beste für euch. Eure Oma würde es auch nicht wollen, dass ihr euch in Gefahr begibt.«

»Aber unsere Freunde brauchen unsere Hilfe. Weihnachten steht auf dem Spiel!«

»Ihr seid noch Kinder. Niemand kann irgendetwas von euch erwarten. Und Weihnachten findet wie jedes Jahr statt.«

»Uns passiert schon nichts«, sagt Paolo.

»Du hast es doch selbst vorgelesen. Rudi, dieser Pauwdie, hat sein Leben riskiert, um diese Nachricht durch den Spiegel zu stecken.«

»Unsere Freunde zählen doch auf uns«, flüstert Lara, die jetzt ebenfalls den Tränen nahe ist.

»Das sehe ich ganz anders. Eure Freunde müssen dieses Jahr ihre Probleme alleine lösen. Die Entscheidung steht fest. Her mit den Kraftdingern!«

»Papa, ich flehe dich an!«

»Jetzt ist aber Schluss! Rückt alles raus!«, schimpft ihr Vater streng, leert den Wäschebeutel aus und hält ihn den Kindern unter die Nase. »Alles kommt hier rein! Ohne Ausnahme!«

Paolo lässt den Kopf hängen und steckt dann sein Schutzamulett und die Luminova-Aufspürbrille in den Wäschesack. Lara streift die Übersetzerohrringe ab und gibt ihrem Vater außerdem den Blitzstein und die Lavahalskette. Die Mutter geht in die Küche und holt den magischen Adventskalender, um ihn zu den anderen Kraftgegenständen in den Wäschesack zu stopfen.

Alle stehen wie angewurzelt da und schauen sich gegenseitig an.

»Fehlt da nicht noch etwas?«, fragt ihr Vater und zeigt auf die kleine Feder in Laras Haaren.

Lara zieht frustriert die Feder heraus.

»Lara, tu das nicht! Kasimir hat gesagt, dass die kleine Feder uns helfen wird«, sagt Paolo entsetzt, der sich noch gut an die Fähigkeiten der Feder erinnern kann. Anstatt wie alle anderen Kraftgegenstände Energie zu entziehen, schenkt sie ihrem Benutzer Energie immer dann, wenn man sie verwendet. Außerdem konnte Lara mit der Feder alle Kräfte der anderen Kraftgegenstände heraufbeschwören. Die Feder ist sehr mächtig.

»Ich habe doch keine andere Wahl«, schluchzt Lara.

Thomas und Lanzelot rücken ganz eng zusammen und schauen mit großen Augen zu Vater Maring auf.

»Keine Sorge, ihr beiden dürft bleiben. Aber das alles hier und den magischen Adventskalender, schließe ich bis nach Weihnachten zu diesem Zepter in den Tresor ein. Wenn Weihnachten und der ganze Spuk vorüber sind, dann bekommt ihr alles zurück.«

»Aber was ist, wenn es gar kein Weihnachten mehr gibt?«

»Das ist doch totaler Blödsinn! Weihnachten kann niemand abschaffen.«

»Und was ist mit Kasimir und Rudi und all den anderen auf Ganesha, die unsere Hilfe brauchen?«

»Tut mir leid. Sie schaffen das bestimmt auch ohne euch.«

»Aber, aber ...«, schluchzt Lara, bekommt jedoch kein weiteres Wort heraus, da sie jetzt tatsächlich bitterlich anfängt zu weinen.

Sie rennt aus dem Badezimmer.

Paolo steht sprachlos da und schaut seinen Vater an.

»Tut mir sehr leid Paolo. Du wirst das eines Tages, wenn du einmal eigene Kinder hast, sicher verstehen.«

Paolo nickt stumm.

»Darf ich das behalten?«, fragt er und deutet auf Kasimirs Brief.

»Meinetwegen.«

Paolo verlässt geknickt das Badezimmer und Lanzelot und Thomas folgen ihm. Auf dem Weg zurück zu seinem Kinderzimmer lässt er die ganze Zeit über den Kopf hängen. Als er an Laras Tür vorbei kommt, hört er sie dahinter laut und verzweifelt weinen.

Lanzelot bleibt stehen.

»Ich werde ihr Trost spenden.«

»Viel Glück dabei«, flüstert Paolo und läuft weiter. In seinem eigenen Zimmer setzt er sich ratlos auf das Bett. Thomas klettert an Paolos Bein hoch und kuschelt sich an seine Seite. Den Beginn der magischen Adventszeit hat sich Paolo ganz anders vorgestellt. Unter diesen Umständen kann er sich gar nicht richtig auf Weihnachten freuen. Sofern es überhaupt ein Weihnachten geben wird. Wenn das stimmt, was Kasimir geschrieben hat, dann wird die Erde in Eis und Schnee versinken und die Magie der heiligen Weihnacht in den Herzen der Menschen erlöschen. Dann war es das mit Weihnachten. Paolo hat zwar noch nie etwas von dem Licht der Weihnacht oder der magischen Laterne gehört, aber er weiß eins: Wenn Kasimir es sagt, dann muss etwas Wahres dran sein. Paolo will ihm auf jeden Fall helfen. Leider hat er aber noch keine Ahnung wie. Denn der einzige Hinweis der ihnen weiterhelfen könnte, führt zu der kleinen Feder und die ist mit allen anderen Kraftgegenständen im Wäschesack gelandet. Und der befindet sich jetzt bestimmt schon im Panzerschrank in Papas Werkstatt.

Paolo blickt traurig aus dem Fenster. Die Sonne geht schon langsam auf und kleine Schneeflocken tanzen wie winzige Balletttänzerinnen im Garten hinter dem Haus herum.

»Schnee«, grunzt Thomas.

»Papa und Mama sind so gemein!«

»Eltern«, grunzt Thomas.

»Ja, du hast ja recht. Ich weiß, sie machen sich nur Sorgen um uns, aber ich bin trotzdem traurig«, murmelt Paolo.

Thomas kuschelt sich noch enger an seinen Freund. Das Kissen versteht es sehr gut, Trost zu spenden.

 

Lara kommt an diesem Tag nur zum Essen aus ihrem Zimmer und Paolo würde sich auch am liebsten den ganzen Tag einschließen. Es schneit bis in den Abend hinein und die Kinder der Nachbarschaft spielen draußen auf der Straße. Sie bauen Schneemänner und liefern sich eine Schneeballschlacht nach der anderen, aber Paolo hat keine Lust dazu. Er sitzt nur herum und überlegt, wie es Kasimir und Rudi wohl geht. Und er sucht nach einer Idee, um seinen Vater doch noch umzustimmen, damit sie die Kraftgegenstände wieder zurückhaben können. Aber ihm fällt nichts ein. Als es schließlich dunkel wird, liegt Paolo ohne Abendessen im Bett. Ihm ist der Appetit vergangen. Er blickt müde aus dem Fenster und schaut den Schneeflocken noch eine ganze Weile dabei zu, wie sie vom Himmel fallen. Irgendwann schläft er schließlich betrübt ein.

2. Kapitel - Spurensuche

 

Paolo hat keinen Grund, am nächsten Morgen früher aufzustehen, denn es gibt an seinem magischen Adventskalender kein Türchen, das er öffnen könnte. Darum schläft er noch tief und fest, als seine Mutter aufgeregt ins Zimmer stürmt.

»Paolo? Aufwachen! Es ist schon wieder etwas passiert!«

Paolo schafft es, langsam ein Auge zu öffnen und blinzelt seine Mutter an. Sie steht im Schlafanzug vor dem Bett und hat knallbunte Wollsocken an. Paolo erinnert sich noch gut daran, wie sie gestern den ganzen Nachmittag damit verbracht hat, für jedes Familienmitglied mindestens ein Paar Socken zu stricken. Dafür hat sie alle Wollreste zusammengekratzt, die noch übrig waren und dementsprechend sind die Strümpfe ganz schön bunt ausgefallen.

»Die Pauwdies waren wieder im Haus«, verkündet seine Mutter völlig aufgekratzt.

Sofort richtet sich Paolo in seinem Bett auf und reibt sich den Schlaf aus den Augen. »Wenn die Pauwdies im Haus waren, dann ist das eine wundervolle Nachricht. Der Spiegel müsste wieder aufgetaut sein und so könnte ich an die andere Hälfte von Kasimirs Nachricht herankommen«, denkt er hoffnungsvoll.

»Ehrlich? Die Pauwdies?«, fragt Paolo, der sich über diese Nachricht mehr zu freuen scheint als seine Mutter. Ohne auf ihre Antwort zu warten, springt er aus dem Bett und spurtet Richtung Badezimmer.

»Lara, die Pauwdies sind zurück«, ruft Paolo auf dem Flur, doch als er im Bad ankommt, stellt er fest, dass der Spiegel immer noch zugefroren ist. Die andere Hälfte von Kasimirs Nachricht befindet sich weiterhin unerreichbar auf der anderen Seite des Spiegels. Als Lara, Thomas und Lanzelot ins Bad kommen, berührt Paolo gerade die Eiskristalle auf der Spiegeloberfläche.

»Durch den Spiegel können die Kartoffelköpfe nicht gekommen sein«, brummt Lanzelot, der noch ziemlich verschlafen aussieht.

»Das habe ich auch nicht behauptet. Jetzt hört doch erst einmal zu!«, spricht ihre Mutter, die vom Flur aus ins Badezimmer blickt. Aber Paolo denkt überhaupt nicht daran. Statt zuzuhören, was seine Mutter zu sagen hat, eilt er in den Keller, wo sich der Tresor seines Vaters befindet. »Vielleicht sind sie ja durch den Adventskalender gekommen und haben es geschafft, den Tresor von innen aufzubrechen«, schießen die Gedanken durch seinen Kopf. Doch als er in der Werkstatt ankommt, bemerkt er sofort, dass der Tresor noch fest verschlossen ist. Trotzdem ist etwas faul, denn die Werkstatt ist so aufgeräumt. Normalerweise herrscht hier unten ein heilloses Durcheinander. Außerdem fragt sich Paolo, wo sein Vater die ganzen Werkzeuge hin geräumt hat.

»Paolo, komm in die Küche!«, hört er Lara von oben rufen.

Paolo wirft noch einmal einen Blick auf die leeren Regale, kann sich jedoch keinen Reim darauf machen und stürmt los. Die Treppe nach oben, den Flur entlang und schließlich kommt er ganz außer Atem in der Küche an.

»Durch ... den ... Tresor ... sind sie auch nicht gekommen«, schnauft er.

»Das Essbesteck ist weg«, klärt ihn Lanzelot auf.

»Wie jetzt?«

»Es hat sich in Luft aufgelöst«, sagt Lara nachdenklich und kratzt sich am Kopf.

»Waren das die Pauwdies?«, fragt Paolo.

Mittlerweile sind auch alle anderen Familienmitglieder, einschließlich Kater Jojo, in der Küche eingetroffen.

»Das Essen haben sie glücklicherweise da gelassen«, stellt Vater Maring erleichtert fest. Jojo, der Kater frisst derweil gemütlich die letzten Überreste aus seinem Napf. Lanzelot und Thomas klettern auf den Küchentisch, beobachten alles von diesem höher gelegenen Aussichtspunkt und warten erst einmal ab.

»Das waren keine Pauwdies. Pauwdies benötigen keine Gabeln und Messer. Sie essen ihre Beeren mit den Fingern«, flüstert Lara, die gerade in ihren Erinnerungen an das Festmahl in der Stadt der Pauwdies versunken ist.

»Aber wenn es keine Pauwdies waren, wer war es dann? Oder sind dem Besteck Beine und Füße gewachsen und es hat sich von ganz alleine aus dem Staub gemacht?«, fragt ihr Vater und blickt nicht ohne Grund zu Thomas und Lanzelot. Es ist ja schließlich gar nicht so unwahrscheinlich, dass im Hause Maring Dinge plötzlich lebendig werden.

»Es war bestimmt der fette Kater«, entschlüpft es Lanzelot.

Vater Maring schaut den Hasen streng an und Lanzelot macht seinen Mund zu und zuckt mit den Schultern. »War ja nur so eine Idee.«

»Wir könnten herausfinden, wo das Besteck ist. Dazu bräuchten wir aber unsere Kraftgegenstände zurück«, schlägt Paolo vor und zwinkert Lara zu.

»Ausgeschlossen. Am Ende ist das nur ein Trick und ihr habt es selbst versteckt«, wirft sein Vater sofort ein.

»Erzähl doch keinen Unsinn, so etwas würden die Kinder nie machen. Aber wenn es keine Pauwdies waren, wer war es denn dann? Oder ist das Besteck jetzt wirklich lebendig geworden?«, fragt ihre Mutter nachdenklich.

»Das ist gut möglich«, antwortet Lara, die sich die leeren Besteckschubladen genauer anschaut und nach irgendwelchen Hinweisen oder Erklärungen sucht.

»Na dann gibt es heute eben kein Müsli. Oder wir machen es wie Jojo und schlabbern aus dem Napf«, brummt ihr Vater mürrisch. »Apropos, der Kater hat schon alles aufgefressen. Paolo würdest du ihm bitte noch eine Portion nachfüllen?«

»Katzenfutter?«, fragt Paolo.

»Ja, was denn sonst?«

»Das geht leider nicht, sogar der Dosenöffner ist spurlos verschwunden. Jetzt wird es wirklich langsam Zeit, dass wir auf Dosen umsteigen, für die man keinen Dosenöffner benötigt«, sagt Mutter Maring, die inzwischen noch einmal alle Schubladen durchsucht hat. »Das macht mir jetzt irgendwie Angst.«

Paolo und Lara verfolgen das ganze Geschehen und können sich ebenso wenig wie ihre Eltern erklären, was in der Küche vorgefallen ist.

»Ich hole im Keller eine Säge, um die Dose aufzukriegen«, murmelt Vater Maring knurrig und stapft aus der Küche hinaus. Alle anderen stehen verwundert herum und überlegen, ob doch die Pauwdies Schuld an dem morgendlichen Chaos sein könnten. Plötzlich hören sie ihren Vater aus dem Keller fluchen: »Verflucht noch eins! Mein Werkzeug hat auch Beine bekommen! Keine Säge, kein Hammer, kein Schraubenzieher oder sonst irgendetwas ist noch da! Kann mir mal jemand sagen, wie wir jetzt die blöde Konservendose aufbekommen sollen?! Wenn ich diese Pauwdies in die Finger bekomme, dann können die was erleben!«

»Pauwdies schnell«, grunzt Thomas.

»Ja, Pauwdies lassen sich nicht so leicht fangen«, weiß auch Lanzelot. Die beiden sitzen immer noch auf dem Küchentisch. Das Einzige, was den beiden lebendigen Stoffwesen im Moment zu fehlen scheint, ist eine Tüte Popcorn. Das Gefluche und die Diskussionen gehen noch eine ganze Weile weiter. Schließlich schaffen es Paolo und Lara, ihre Eltern davon zu überzeugen, dass die Pauwdies unschuldig sind. Sicher sind sich die Geschwister jedoch selbst nicht. Vielleicht hat sich das Besteck ja tatsächlich selbst vom Acker gemacht. In einer Welt der Magie scheint alles möglich zu sein.

 

»Was haltet ihr davon, wenn wir heute Morgen einfach beim Bäcker um die Ecke frühstücken und danach ein paar Gabeln und Messer kaufen, bis alles wieder aufgetaucht ist«, schlägt ihre Mutter ruhig vor und fährt Paolo und Lara liebevoll über den Kopf. Alle sind mit diesem praktischen Vorschlag einverstanden. Thomas und Lanzelot bleiben mit Laras Handy Zuhause. So kann Lanzelot Lara sofort anrufen für den Fall, dass es sich das Besteck anders überlegt und doch wieder nach Hause zurückkehrt. Vorausgesetzt natürlich, es wurde nicht gekidnappt.

 

Im Supermarkt unterhalten sich Paolo und Lara über die Vorkommnisse im Haus ihrer Eltern.

»Glaubst du die Gabeln haben wirklich Füße bekommen?«, fragt Paolo.

»Denkbar ist alles, aber schwer vorzustellen ist das schon.«

»Und falls nicht, wer könnte es denn dann gewesen sein? Vielleicht waren es ja doch die Pauwdies?«

»Ich habe keine Ahnung, wer oder was dafür verantwortlich ist«, murmelt Lara nachdenklich.

»Wenn es Rudi und seine Kollegen gewesen wären, hätten sie uns doch etwas gesagt oder eine Nachricht hinterlassen. Außerdem ist der Spiegel immer noch zugefroren. Wie sollen sie denn dann auf die Erde gekommen sein?«, grübelt Paolo. Nebenan in der Tiefkühlabteilung hört er mit einem Mal, wie sich eine ältere Frau bei einem Angestellten lautstark beschwert.

»Die Tiefkühltruhen spinnen«, motzt sie den Lebensmittelverkäufer an.

»Gute Frau, das kann nicht sein. Unsere Tiefkühltruhen sind immer in bester Ordnung.«

»Sehen Sie doch selbst«, schimpft die Frau.

»Was ist denn da los?«, fragt sich Paolo und zusammen mit Lara beobachtet er die Szene. Anscheinend lassen sich alle Vitrinen der Tiefkühlabteilung nicht mehr öffnen.

»Ich sag es Ihnen doch, vor einer Minute war noch alles in Ordnung. Aber Sie haben natürlich recht. Die Dinger sind zugefroren. Wo kommt denn nur das ganze Eis her?«, fragt sich der überforderte Verkäufer und versucht die Kundin zu beruhigen. Plötzlich sieht Paolo einen Mann, der am Ende der Tiefkühlabteilung auftaucht. Er ist ziemlich groß, hat weiße Haare, einen weißen langen Bart und trägt einen weißen Pelzmantel. Der Mann berührt eine der Vitrinen und Paolo glaubt, zu sehen wie diese im nächsten Moment total vereist. »Er war das«, denkt Paolo und muss an seinen zugefrorenen Adventskalender denken. »Etwas stimmt mit diesem Mann nicht«, vermutet Paolo instinktiv. »Hey, Sie da!«, ruft Paolo im nächsten Moment. Der Fremde blickt über die Schulter in Paolos Richtung. Er hat eisblaue, durchdringende Augen. Eine Sekunde lang schaut er Paolo direkt an und dann wendet er sich ab und biegt schnell in eine Regalreihe ein. Paolo fasst einen Entschluss und verfolgt den Mann, doch als Paolo um die Ecke biegt und in den Gang schaut, ist der Mann schon verschwunden. Auf dem Boden sieht er seine Fußabdrücke. Auf jedem Abdruck befindet sich eine dünne Schicht Eiskristalle. Genauso wie auf dem Spiegel im Badezimmer. Paolo nähert sich den Fußabdrücken und kann beobachten, wie diese bereits anfangen zu schmelzen. »Träume ich etwa?«, fragt er sich und kneift sich in die Wange. »Autsch!« Das ist der Beweis, dass er wach ist. »Lara, sieh dir das mal an!«, ruft er seine Schwester. Paolo erklärt ihr, was er beobachtet hat und zusammen untersuchen sie die Fußabdrücke. Jetzt sind nur noch Pfützen übrig. In der Zwischenzeit versuchen mehrere Angestellte, die zugefrorenen Vitrinen in der Tiefkühlabteilung zu öffnen. Doch es ist vergeblich.

»Ich bin mir sicher, der Mann hat etwas mit den Tiefkühlvitrinen angestellt«, spekuliert Paolo. »Was, wenn er auch etwas über den zugefrorenen Adventskalender oder unseren Badezimmerspiegel weiß? Außerdem hat er mich so komisch angesehen. So als würde er mich wiedererkennen.«

»Das ist weit hergeholt. Aber es wäre zumindest eine Spur, der wir nachgehen könnten«, überlegt Lara.

»Sollen wir ihn verfolgen? Vielleicht weiß er ja wirklich etwas.«

»Einverstanden.« Sie folgen den Pfützen am Boden bis zum Ausgang des Supermarktes. Dort verlieren sich die Spuren jedoch sehr schnell zwischen all den anderen Fußabdrücken im frischen Schnee.

»Mist! Wir haben ihn verloren.«

»Vielleicht aber auch nicht. Schau mal, ist er nicht das da drüben?«, fragt Lara aufgeregt und zeigt auf die andere Straßenseite. Dort biegt gerade ein Mann in eine Sackgasse ein, der genauso aussieht, wie der Mann, den Paolo beschrieben hat. Groß, weiße Haare, Bart und weißer Pelzmantel.

»Irgendwie sieht er aus wie der Weihnachtsmann, nur die Kleidung passt nicht ganz«, meint Lara.

»Hinterher!«

Es ist nur so ein Gefühl, dem Paolo folgt. Würde er jetzt sein Schutzamulett und die Aufspürbrille haben, dann würde er sich auf jeden Fall sicherer fühlen. Als sie die andere Straßenseite erreichen und in die schmale Sackgasse einbiegen, ist diese jedoch vollkommen leer. Sie sehen Müllcontainer ein paar Fahrräder, ein Motorrad, aber keinen Mann.

»Er hat sich in Luft aufgelöst.«

»Hey, hier sind noch seine Spuren im Schnee«, sagt Paolo.

Sie gehen auf die Knie und betrachten die Fußabdrücke. Es sind nur zwei verschiedene Spuren zu erkennen. Die eines Menschen und direkt daneben befinden sich große Tatzenabdrücke mit einem Hauptballen, fünf Zehenballen und fünf Krallen. Die Fußstapfen im Schnee sind wirklich groß.

»Was sind das für Abdrücke?«

»Vielleicht ein großer Hund«, vermutet Paolo.

Sie folgen den beiden Spuren weiter in die Sackgasse hinein. Nach wenigen Metern, auf Höhe der Müllcontainer, enden die Fußabdrücke des Mannes und nur noch die Tatzenspuren bleiben übrig.

»Die Abdrücke des Tieres sind hier tiefer als die da vorne«, stellt Paolo fest.

»Ich habe eine Vermutung. Ab hier ist der Mann geritten. Deshalb die tieferen Spuren«, schätzt Lara.

»Geritten? Auf einem Hund?«

»Vielleicht war es ja gar kein Hund.«

»Sondern?«

»Keine Ahnung, etwas das groß genug ist, damit man darauf reiten kann.«

Paolo kommt das Ganze immer mysteriöser vor. Trotzdem sind die beiden mutig und folgen der Fährte bis zu der Backsteinmauer am Ende der schmalen Straße. Die Abdrücke des Tieres enden direkt davor.

»Wo sind sie hin?«

»Vielleicht über die Mauer gesprungen«, überlegt Lara und legt ihren Kopf in den Nacken. »Die Mauer ist aber ziemlich hoch«, fügt sie hinzu.

»Hey, was ist denn das für ein Licht?«, fragt Paolo, der für einen Moment ein schwaches Leuchten auf der Backsteinmauer gesehen hat. Es war ein Schimmern, das ihn an das magische Tor in seinem Adventskalender erinnert hat. Paolo geht noch einen Schritt nach vorne, um die Wand zu untersuchen. Das Leuchten ist verschwunden, doch Paolo kickt beim Vorwärtsgehen unabsichtlich mit seinem Fuß etwas weg. Eine kleine, durchsichtige Kugel rollt über den Schnee und bleibt vor Laras Füßen liegen.

»Was ist das?«

Die Geschwister schauen das seltsame runde Ding an.

»Ist das etwa eine Schneekugel?«, flüstert Paolo, weil er in der durchsichtigen Kugel eine kleine Miniaturwelt erkennen kann. Es rieselt sogar Schnee, der durch das Rollen aufgewirbelt wurde.

Lara will die Schneekugel aufheben, aber Paolo hält sie zurück.

»Nicht! Wir haben doch keine Ahnung, was das ist! Vielleicht hat sie dieser seltsame Mann liegen gelassen.«

»Das wäre ein Grund mehr, sie genauer unter die Lupe zu nehmen.«

»Ich mach das«, sagt Paolo mutig und im nächsten Moment berührt er mit einem Finger die Schneekugel.

»Ich glaube, sie ist aus Eis und nicht aus Glas, weil sie ziemlich kalt ist.«

Paolo hebt die Kugel jetzt hoch und die beiden betrachten sie aus der Nähe.

»Glaubst du wirklich, dass der Mann sie verloren hat?«, fragt Lara.

»Oder absichtlich hier abgelegt?«, spekuliert Paolo.

»Warum sollte er so etwas Schönes einfach liegen lassen?«

»Keine Ahnung.«